In der Bibel werden oft zwei Personen nebeneinander gestellt, die sich in ähnlichen Umständen oder in gleichen Angelegenheiten ganz verschieden verhalten haben. Das Tun des einen beleuchtet zu unserer Belehrung das Tun des andern, und ihr Beispiel dient dazu, die Wegweisungen des Wortes für unser Leben verständlich und eindrücklich zu machen. Deshalb wollen wir heute eines dieser ungleichen Paare, Orpa und Ruth, aus dem Buch Ruth, vor unsere Blicke stellen. Es geht hier nicht um eine geschichtliche oder prophetische Betrachtung im Blick auf Israel, sondern nur um die einfache Gegenüberstellung dieser beiden Personen.
Diese beiden jungen Frauen hatten die gleiche Herkunft. Beide gehörten zum götzendienerischen Volk Moab, zu den Feinden Israels. Aber die Gnade Gottes war ihnen begegnet. Sie waren mit der Familie Elimelechs aus Bethlehem-Juda in Verbindung gekommen und hatten durch sie viel von dem lebendigen und wahren Gott Israels, dem Schöpfer Himmels und der Erde, gehört. Inwieweit mochte dieses Licht der Wahrheit ihre Herzen und Gewissen berührt haben?
Das sollte sich bald zeigen. Nicht nur Elimelech, auch seine beiden Söhne, ihre Ehemänner, starben dahin und liessen Noomi und die beiden jungen Frauen allein zurück. – Werden sie sich nun, da die ehelichen Bindungen gelöst sind, auch von Noomi und ihrem Gott wegwenden und wieder zu ihrem alten Leben zurückkehren?
Nein, sobald ihre Schwiegermutter aufbricht, um wieder in ihre Heimat, nach Bethlehem zu wandern, da hängen Orpa und Ruth ihr an und gehen mit ihr. Und als Noomi unterwegs jede auffordert, zum Haus ihrer Mutter umzukehren, da erheben sie ihre Stimmen und weinen. Und sie sprechen zu ihr: «Doch, wir wollen mit dir zu deinem Volk zurückkehren!»
Ist das nicht rührend? Spricht dies nicht von einer grossen Anhänglichkeit? Gewiss, aber das allein ist noch kein genügender Beweis dafür, dass die Gnade ihr Herz umgewandelt hat. In diesem Mitgehen konnte es sich möglicherweise nur um die Kraft menschlicher Beziehungen handeln.
Auch heute, in den Reihen der Christen, gibt es viele Mitläufer. Sie haben eine christliche Erziehung empfangen. Sie kennen manche Wahrheiten des Evangeliums. Sie fühlen sich zum Kreis der Gläubigen hingezogen und zählen sich vielleicht sogar selbst dazu. Ihre Anhänglichkeit an die elterliche Familie oder an die gläubigen Freunde mag sie sogar veranlassen, ein grosses Stück auf dem Weg der Absonderung von der Welt und von den religiösen Systemen mitzugehen. Aber das genügt nicht. Früher oder später werden sie vor Entscheidungen gestellt, bei denen ans Licht kommt, ob sie in einer persönlichen Beziehung zum Herrn stehen, ob sie nach Ihm trachten und Ihm nachfolgen, oder ob es ihnen um Menschen und um Dinge dieser Erde geht.
Noomi will völlige Klarheit schaffen. Sie versucht den jungen Frauen zu schildern, was sie auf dem bis jetzt eingeschlagenen Weg in dem für sie fremden Land von ihr selbst erwarten könnten. Vor allem liegt ihr daran, die beiden darauf aufmerksam zu machen, dass es ihr selbst unmöglich sei, ihnen das natürliche Verlangen nach einer eigenen Familie, nach einem eigenen Heim zu erfüllen.
Wie viele junge Frauen sind an diesem kritischen Punkt schon vom Weg abgekommen! Bis dahin wandelten sie mit den Kindern Gottes, fühlten sich wohl in ihrem Kreis, konnten in der Versammlung, die der «Tempel des Heiligen Geistes» ist, seine Wirkungen miterleben und das gute Wort Gottes schmecken (Heb 6,4-6). Vielleicht waren sie sogar errettet, haben aber den vertrauten Umgang mit dem Herrn vernachlässigt. – Bei den einen wie bei den andern werden die natürlichen Neigungen und Wünsche die Oberhand bekommen. Und wenn diese auf dem bisherigen schmalen Pfad nicht in Erfüllung gehen, beginnen sie andere, breitere Wege einzuschlagen, von denen sie – vielleicht unbewusst – erhoffen, dass sie zu diesem Ziel führen.
Orpa ist eine junge Frau dieser Art. Nach den Worten Noomis erheben beide ihre Stimme und weinen wiederum. Und dann fällt Orpa der alten Frau um den Hals und gibt ihr – den Abschiedskuss. Noomi und alles, was sie in Verbindung mit ihr empfangen und erfahren hat, aufzugeben, fällt ihr schwer; die Tränen beweisen es. Aber das andere in ihrem Herzen ist stärker. Vor die wichtigste Entscheidung ihres Lebens gestellt, wählt sie nicht den HERRN, den lebendigen, wahren Gott und sein Volk, sondern folgt dem Zug ihres natürlichen Herzens zu «ihrem Volk», das den Göttern Moabs unterworfen ist. Sie gibt sich damit dem Einfluss der Dämonen preis, die hinter ihnen stehen. Arme Orpa!
Wenn Satan, der Fürst dieser Welt, junge Leute, die in einem christlichen Haus, unter dem Einfluss des Wortes und des Heiligen Geistes aufgewachsen sind, verführen will, hält er ihnen das Schönste und Beste und Edelste der Welt vor die Augen. Aber wenn sie sich von diesen Dingen oder Personen erfüllen lassen, treten sie auf einen Weg, der sie aus dem Bereich des Einflusses der göttlichen Dinge hinausführt und sie immer mehr unter die Knechtschaft «des Fürsten der Gewalt der Luft, des Geistes, der jetzt wirksam ist in den Söhnen des Ungehorsams» bringt. Und wo wird dieser Weg enden? –
Wie erfrischend und anspornend ist dagegen das Beispiel Ruths! Bei ihr zeigt sich Energie des Glaubens. Sie ist fest entschlossen, mit Noomi zu gehen, koste es, was es wolle. Aber nicht eine grössere Liebe zu ihrer Schwiegermutter treibt sie dazu an. Sie ist keine Mitläuferin. Sie sucht vielmehr Zuflucht unter den Flügeln des Gottes Israels (Ruth 2,12). Es geht ihr um Ihn. Um Ihm näher zu kommen, ist sie bereit, selbst die stärksten Ansprüche der Natur hintenan zu stellen oder sogar zu opfern!
Gibt sie uns hierin nicht ein schönes Beispiel für die Anwendung des Wortes: «Trachtet aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit»? Setzen wir in unseren Herzen den Herrn und seine Interessen an die erste Stelle, so nimmt Er selbst sich unserer Interessen an: «Dies alles», was euer eigenes Leben auf der Erde betrifft, «wird euch hinzugefügt werden», versichert Er uns und fügt hinzu: «Euer himmlischer Vater weiss, dass ihr dies alles nötig habt» (Mt 6,32.33). «Er ist besorgt für euch.» Kostbare Verheissung!
Ruth geht auf dem Weg des Glaubens treu voran. Einfältiger Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes, in dem die erfahrene Noomi sie unterweist, kennzeichnet jeden ihrer Schritte, die hier aufgezeichnet sind. Mit grossem Fleiss und Hingabe erfüllt sie den geringen Dienst an ihrer Schwiegermutter, den sie als die ihr von Gott gestellte Aufgabe erkennt. Ihr Auge ist auf den HERRN gerichtet, sie lässt es nicht abschweifen. Sie will sich nicht selber helfen und geht nicht den Jünglingen nach, weder armen noch reichen (Ruth 3,10). – Liebliche Früchte der Gnade, die Gott aus einem Herzen hervorzubringen vermag, das ganz auf Ihn gerichtet ist!
Gott lässt es ihr begegnen, dass sie bei ihrem Vornehmen, Ähren zu lesen, auf das Feldstück des Boas gerät und ihm selbst begegnet. Und nun ist es interessant, das Zwiegespräch zwischen den Äusserungen ihres Glaubensgehorsams und den Äusserungen der unendlichen Gnade und Güte zu verfolgen, mit der sie Gott in der Person dieses gottesfürchtigen Mannes – einem Vorbild auf unseren Herrn Jesus hin – überschütten will.
Kaum ist sie da, hat er sie schon beachtet und ist über ihr Sitzen und Aufstehen, über ihr Arbeiten und ihren Fleiss, über die Art und Weise, wie sie ihre Schwiegermutter ehrt und ihr mit Hingabe dient, genau unterrichtet. Jede Handlung ihres immer kühner werdenden Glaubens beantwortet und belohnt Er mit unerwarteten, sich steigernden Segnungen. Je weiter sie auf dem Feld der Gnade vordringt, desto überströmender kommt sie ihr entgegen, so dass sie im Bewusstsein ihrer Unwürdigkeit ganz davon überwältigt wird (Ruth 2,13). Schliesslich wird sie, die arme Moabiterin, nach dem Ratschluss Gottes sogar ins Haus des Boas geführt und findet in ihm selbst die höchste Segnung.
Und noch etwas: Durch die Erfahrungen der tüchtigen jungen Frau wird auch Noomi, sozusagen die ältere Schwester im Glauben, die bei ihrer Ankunft in Bethlehem den Anspruch tat: «der Allmächtige hat es mir sehr bitter gemacht» (Ruth 1,20) im Glauben erfrischt. Sie sagt nun: «Gesegnet sei er (Boas) von dem HERRN, dessen Güte nicht abgelassen hat von den Lebenden und von den Toten!» (Ruth 2,20). Obed, der Sohn Ruths, wird ihr zu einem «Löser», zu einem «Erquicker der Seele» und zu einem «Versorger ihres Alters» (Ruth 4,14.15).
Wenn wir dies alles überblicken, so dürfen wir wohl noch einmal fragen: Wie hat Ruth für sich und andere solchen Segen gefunden? Dadurch, dass sie nach dem HERRN allein trachtete und Ihm unentwegt auf dem Weg des Glaubens und Gehorsams nachfolgte.
Heute, im Zeitabschnitt der Kirche Christi, ist jeder Gläubige schon am Tag seiner Neugeburt «in Christus» mit «jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern» gesegnet (Eph 1,3). Die göttliche Fülle dieser Segnungen ist so herrlich und unfasslich gross wie Gott selbst. Wer mit Herzensentschluss bei dem Herrn verharrt (Apg 11,23) und in der Kraft des in ihm wohnenden Geistes den im Wort bezeichneten Glaubenspfad in Treue vorangeht, gelangt zu einem wachsenden Genuss dieser Segnungen. Der Reichtum der Gnade Gottes in Christus überwältigt ihn immer mehr, und in den unauflöslichen Beziehungen zum Herrn Jesus, in der alles Denken übersteigenden Liebe seines Herzens, findet das Herz eine wunderbare «Ruhe».
Für einen solchen Gläubigen stehen irdische Segnungen an zweiter Stelle. Auch wenn ihm diese versagt blieben, hat er doch ein reich erfülltes, glückliches Leben und wird für andere zum Segen und ein «Erquicker der Seele» sein.