Jakob war durch den Glauben in die hohe Stellung der Gunst Gottes erhoben worden, worin ihm der unergründliche Reichtum der Gnade Gottes zuteilwurde. Nicht nur besass er jetzt das Erstgeburtsrecht; Gott selber wollte auch dafür sorgen, dass für ihn und seine Nachkommen die damit verbundenen Verheissungen in Erfüllung gingen. Er brachte dies in unvergleichlich huldvollen Worten zum Ausdruck: «bin der HERR, der Gott Abrahams … das Land, auf dem du liegst, dir will ich es geben und deinen Nachkommen. Und deine Nachkommen sollen wie der Staub der Erde werden, und du wirst dich ausbreiten … und in dir und in deinen Nachkommen sollen gesegnet werden alle Familien der Erde. Und siehe, ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan, was ich zu dir geredet habe» (1. Mo 28,13-15).
Wenn Gott so sprach, welche Anstrengungen Jakobs waren dann noch nötig? Oh, er hätte sich in kindlichem Vertrauen Ihm übergeben und in einfachem Gehorsam den Pfad der Abhängigkeit hinter Ihm her wandeln sollen! Er hatte allen Grund zu sagen: Wenn Gott es so gut mit mir meint und mich in so überströmendem Mass segnen will, so gibt es für mich nichts Besseres, als Ihn machen zu lassen. Er wird sein Wort ausführen.
Ja, das wäre die folgerichtige Antwort des Gläubigen auf das bedingungslose Versprechen des Gottes der Gnade. Aber Gott muss oft viele Jahre lang unermüdliche Erziehungsarbeit an ihm tun, bis dieses kindliche Vertrauen sein Herz erfüllt, bis der Eigenwille gebrochen ist und dem einfachen Gehorsam und der Abhängigkeit von Gott Platz macht.
Schon früher hatte Jakob, statt in ruhigem Vertrauen auf die Verwirklichung der Verheissung Gottes zu warten: «der Ältere wird dem Jüngeren dienen» (1. Mo 25,23), durch zweimalige Überlistung seines Bruders und durch Betrug seines eigenen Vaters zum Segen zu gelangen gesucht. Und jetzt – kaum hatte er im Traum die oben erwähnte Zusicherung Gottes empfangen: «Ich bin mit dir» und «Ich will dich behüten», machte Jakob aus diesem einseitigen Versprechen Gottes eine zweiseitige Verpflichtung, in der auch sein eigenes Tun, seine erbärmlichen eigenen Anstrengungen eingeschlossen waren.
Und in dieser Weise lebte Jakob weiter, als er zu Laban kam. Auch hier wiederum das eigene Tun, ein unablässiges Feilschen um Frau und Besitz! Gewiss, das Bündel, mit dem er zu seinem Onkel kam, war klein. Aber besass er nicht die reichen Zusagen Gottes: «Das Land, auf dem du liegst, dir will ich es geben und deinen Nachkommen»? (1. Mo 28,13).
So musste Gott denn auch Jakob seiner väterlichen Zucht unterwerfen. Gerade der Aufenthalt bei Laban sollte Jakob zur Erkenntnis bringen, dass eigene Wege «Wege der Mühsal» sind (Ps 139,24) und dass es hässlich ist, die eigenen Interessen selber zu wahren. Zwanzig Jahre lang konnte er in dem selbstsüchtigen, von Gott unabhängigen Tun Labans wie in einem Spiegel die Verwerflichkeit seines eigenen Verhaltens erblicken. Im Verlauf dieser Zeit hat Laban seinen Neffen «betrogen» und in Habgier den ihm zukommenden Lohn «zehnmal verändert». Wenn es auf ihn angekommen und nicht Gott dazwischen getreten wäre, so würde er ihn nach einem harten Dienst leer entlassen haben (1. Mo 29,25; 31,7; 31,38-42).
Jakob und Laban waren also nicht Gegensätze. Aber wir fragen uns: Hat Jakob sich selbst und sein Tun in Laban, seinem Spiegelbild, erkennen und verurteilen gelernt?
Viele von uns wissen aus eigener Erfahrung, wie selbst ein bekehrter Mensch, der zum Glauben an den Herrn Jesus gekommen ist, oft Jahre und Jahrzehnte braucht, bis sein Eigensinn und sein Eigenwille zerschlagen sind und er sich vor den Regungen seines Fleisches fürchten lernt. Je schneller wir diese göttliche Lektion begreifen, desto besser für uns selbst und andere. Die Folge davon ist ein glückliches Leben im Vertrauen und in der Abhängigkeit von Gott. Käme es nicht zu dieser Erfahrung, so müssten auch wir, wie Jakob, am Ende unseres Lebens bekennen: «Wenig und böse waren die Tage meiner Lebensjahre» (1. Mo 47,9).