2. Das Gleichnis vom Schafhof
«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern woanders hinübersteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür eingeht, ist Hirte der Schafe. Diesem öffnet der Türhüter, und die Schafe hören seine Stimme, und er ruft seine eigenen Schafe mit Namen und führt sie heraus. Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme der Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das er zu ihnen redete» (Joh 10,1-6).
Das Gleichnis in diesen Versen war an die Pharisäer gerichtet und ist eine Fortsetzung der Rede des Herrn, die Er im vorangegangenen Kapitel begonnen hatte. Dort lasen wir, wie Er zu diesen religiösen Führern ganz offen von ihrer geistlichen Blindheit gesprochen hatte. Sie waren tatsächlich blind, obwohl sie behaupteten, sie könnten sehen. Nun zeigt ihnen der Herr anhand der Illustration eines Hirten, der in seinen Hof hineingeht und seine Schafe herausruft, die Wirkung seiner Gegenwart und seines Dienstes in Israel. Aber diese Männer, die sich in ihrer Einbildung für weise hielten, verstanden nicht, was der Herr mit seinen Worten sagen wollte, obwohl diese direkt an sie gerichtet waren.
Die Unfähigkeit der Pharisäer, das zu erfassen, was der Herr meinte, konnte nicht daher kommen, dass die von Ihm gebrauchte Illustration für sie fremd gewesen wäre. Hirten und Schafe waren ein alltägliches Bild, das sie ständig vor Augen hatten, und der Vergleich des Volkes Israel mit einer Herde war durch das ganze Alte Testament hindurch nichts Ungewöhnliches. Einer der Propheten hat sogar ein ganzes Kapitel in dieser Bildersprache geschrieben (Hesekiel 34). Aber die erklärten geistigen Führer des Volkes hatten die Person von Christus, den alleinigen Schlüssel zu jeder göttlichen Lehre, nicht erkannt, und waren blind für die wahre Bedeutung der Worte des Herrn, ob Er nun offen oder in Gleichnissen sprach. Hätten diese Juden nur den lang verheissenen und dann gesandten Hirten angenommen, so wäre ihnen alles klar geworden. Aber obwohl der Gute Hirte in seinen Hof gekommen war, kannten Ihn dessen Bewohner nicht und hörten seine Stimme nicht. Daher kam es, dass sie, wie Er ihnen schon gesagt hatte, seine Sprache nicht verstanden, weil sie sein Wort nicht hören konnten (Joh 8,43).
Der Herr sprach in Verbindung mit dem Schafhof von sich selbst und gab seinen Zuhörern drei Erkennungszeichen, wodurch der wahre Hirte Israels erkannt werden konnte:
- Er würde durch die Tür eingehen
- Der Türhüter würde Ihm öffnen
- Die Schafe würden seine Stimme hören
Das waren Zeichen einfachster Art und konnten von jedem verstanden werden. Aber gerade weil sie so einfach waren, wurden sie von jenen Angebern, die sich einer Weisheit rühmten, die sie nicht besassen, verschmäht und verächtlich abgetan. Ihr Stolz des Herzens und der Gesinnung ertrug die Gnade und die Wahrheit nicht, die sie auf die gleiche Stufe mit Leuten stellte, die das Gesetz nicht kannten, als ob sie das gleiche Erbarmen nötig gehabt hätten (Joh 7,49). Sie begnügten sich nicht mit dem Sohn des Menschen, der zum Segen der Niedriggesinnten vom Himmel herniederkam, sondern verlangten ein weiteres Zeichen vom Himmel. Indem sie sich für Weise ausgaben, waren sie zu Narren geworden, und erkannten Ihn, der der wahrhaftige Gott und das ewige Leben ist, nicht.
1. Zeichen: Der Eintritt durch die Tür
Im Orient bestand der Schafhof aus einem von einer hohen Steinmauer umgebenen Grundstück mit einem einzigen Durchgang als Tür. Die Schafe wurden aus Sicherheitsgründen nachts und zu anderen Zeiten in den Hof geführt. In alttestamentlichen Stellen wird der Schafhof als Bild gebraucht, um die Sicherheit und das Vorrecht des bevorzugten Volkes, dessen Gott der HERR war, auszudrücken. So sagte der Herr im Blick auf einen zukünftigen Tag: «Ich werde den Überrest meiner Schafe sammeln aus allen Ländern, wohin ich sie vertrieben habe; und ich werde sie auf ihre Weideplätze (oder Schafhöfe, wie man auch übersetzen kann) zurückbringen, dass sie fruchtbar seien und sich mehren» (Jer 23,3).
Weiter sagte Er: «Wie ein Hirte sich seiner Herde annimmt an dem Tag, da er unter seinen versprengten Schafen ist, so werde ich mich meiner Schafe annehmen … Und ich werde sie herausführen aus den Völkern … Auf guter Weide werde ich sie weiden, und auf den hohen Bergen Israels wird ihr Weideplatz sein» (Hes 34,12-14). – «Versammeln, ja, versammeln werde ich den Überrest Israels. Ich werde ihn zusammenbringen wie die Schafe von Bozra, wie eine Herde inmitten ihrer Weide» (Micha 2,12). Diese Prophezeiungen in Bezug auf den Segen der Nachkommen Abrahams werden erst in der Zukunft in vollem Umfang erfüllt werden, denn erst in der tausendjährigen Ruhezeit wird ganz Israel wiederhergestellt sein, um friedlich und sicher vor jedem feindlichen Angriff in seinem eigenen Land zu wohnen.
In unserem Gleichnis bezieht sich der Hof auf das besondere Gebiet, das dem Volk ursprünglich als sein eigenes Land bestimmt worden war, abgesondert von anderen Völkern, was von den Juden immer noch der Fall war. Die Römer hatten damals ihren Ort und ihre Nation noch nicht weggenommen. Und obwohl selbst die religiösesten Männer jener Tage das innere Empfinden der Gegenwart und Gunst Gottes verloren hatten, besassen sie viele äusserliche und sichtbare Zeichen des einstigen Volkes Gottes. Sie hatten immer noch den Tempel und seine Dienste, die Opfer und die Feste, die Priester und die Leviten.
Wenn daher der Gute Hirte zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel kam, dann kam Er in den Hof. Er suchte sie damals nicht unter all den anderen Völkern. Sie waren noch nicht, wie es jetzt der Fall ist, über die ganze Erde zerstreut. Und als Er zu seinen Schafen kam, geschah es nicht auf Schleichwegen, wie wenn ein Dieb «woanders» hinübersteigt. Im Gegenteil, der Hirte unterwarf sich allem, was Gott seinerzeit betreffs des Messias von Israel angeordnet und in den verschiedenen alttestamentlichen Prophezeiungen genau vorgeschrieben hatte. Dort war die Art und Weise des Eintritts des Guten Hirten klar vorausgesagt worden, damit die Einfachen der Herde nicht von denen verführt würden, die ungerechtfertigte Ansprüche erhoben.
Der prophetische Geist zeigte im Voraus an, dass der Messias auf übernatürliche Weise von einer Jungfrau geboren würde. Diese Prophezeiung wurde in der Geburt von Jesus Christus erfüllt. Er sollte aus dem Haus und Geschlecht Davids kommen.
Durch den unanfechtbaren Beweis seines Geschlechtsregisters wurde dies erwiesen. Der Herrscher über Israel sollte zu Bethlehem in Judäa geboren werden. Dort fanden die Hirten den Erretter, welcher ist Christus, der Herr. Er sollte aus Ägypten gerufen werden. Von dort wurde Er nach dem Tod Herodes' zurückgeführt. Doch wozu noch mehr aufzählen? Zeigen uns nicht die Evangelisten, vor allem Matthäus, in Einzelheiten wie der Herr selbst alles, was über Ihn vorausgesagt worden war, erfüllte?
Durch diese vielfältigen prophetischen Zeugnisse war es für den einfachen und gottesfürchtigen Israeliten leicht, mit den Schriften in seinem Herzen den Guten Hirten zu erkennen, als Er kam. Es konnte nur Einer sein, der die bestimmten Merkmale besass und die Verheissungen Gottes erfüllte. Die wichtige Frage für die Juden war somit, ob der Hirte durch die Tür in den Hof hineinging oder ob er sich einen Eingang verschaffte, der dem Zeugnis der heiligen Weissagungen entgegenstand, das ihnen zur Sicherheit gegeben worden war. Wenn er dem Zeugnis der Schriften entsprach, war Er der Gute Hirte. Wenn er irgendwoanders hinüberstieg, dann war er ein Dieb und ein Räuber, der die Absicht hatte, die Herde zu berauben.
2. Zeichen: Der Türhüter würde die Tür öffnen
Bei Abwesenheit des Besitzers der Schafherde wurde ein Türhüter oder Wächter ernannt, um den Eingang zu bewachen. Seine Aufgabe war es, den Hirten einzulassen, aber sonst niemand. Wenn er jemandem die Tür öffnete, war es also offensichtlich, dass dieser der Hirte der Schafe sein musste. Als unser Herr zum Hof Israels kam, geschah dies nicht unangekündigt. Die Tür wurde allen sichtbar durch einen anerkannten Diener Gottes geöffnet, um Ihn einzulassen. Der Heilige Geist, der durch die Propheten die messianischen Verheissungen gegeben hatte, errichtete ein besonderes Zeugnis beim Kommen des Einen, der gesandt war, um diese Verheissungen zu erfüllen. Er, der seit den Tagen Maleachis keine Propheten mehr inspiriert hatte, sprach nach einem Unterbruch von 400 Jahren durch den Mund des Priesters Zacharias in Bezug auf seinen kleinen Sohn Johannes: «Und du, Kind, wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden; denn du wirst vor dem Herrn hergehen, um seine Wege zu bereiten» (Lk 1,76). Schon lange zuvor hatte Jesaja vorausgesagt, dass der Messias einen Vorläufer haben würde (Jes 40,3). Dieser Herold war jetzt gekommen.
Dementsprechend übermittelte Johannes der Täufer am Ufer des Jordan seine Nachricht den Nachkommen Abrahams. Diese Botschaft betraf den nach ihm kommenden Christus, dessen er nicht würdig war, den Riemen seiner Sandalen zu lösen. Allen Fragenden teilte Johannes offen mit, dass er nicht der Christus sei. Er war gekommen, mit Wasser zu taufen, damit der Gesandte «Israel offenbar werde» (Joh 1,31). Und als der Geist wie eine Taube herniederfuhr und auf Jesus von Nazareth blieb, und die Stimme vom Himmel seine göttliche Sohnschaft verkündete, lautete das Zeugnis des Johannes an das Volk, dass dieser Der sei, der mit Heiligem Geist taufen würde.
So öffnete der Geist Gottes die Tür des Hofes für den Guten Hirten, indem er Ihm reichlich Zeugnis gab: durch Zacharias unmittelbar vor Seiner Geburt, und durch Johannes den Täufer am Anfang Seines öffentlichen Dienstes.
3. Zeichen: Die Schafe hören seine Stimme
Zwischen dem Hirten und seinen Schafen gibt es ein Bindeglied, das auf gegenseitiges Erkennen gegründet ist. Darum sagte der Herr: «Die Schafe hören seine Stimme.» Dass der Hirte von den Schafen erkannt wird, beweist zweierlei:
- dass Jesus Christus der Gute Hirte ist
- dass die, die Ihn aufnehmen, seine Schafe sind
So wird in den Versen 3-5 die Tatsache, dass sie seine Stimme hören und Ihm folgen, als ein Erkennungszeichen angegeben, um den Hirten von Fremden zu unterscheiden, vor denen die Schafe fliehen. Dies ist der offensichtliche Beweis, dass Jesus Christus der Gute Hirte ist, und nicht ein Fremder. In den Versen 26 und 27 wird die gleiche Tatsache gebraucht, um zwischen wahren und falschen Schafen zu unterscheiden. Die, die an Ihn glaubten, waren seine Schafe; sie hörten seine Stimme und sie folgten Ihm, was die falschen Schafe (das jüdische Volk im Allgemeinen) nicht taten.
Beim Kommen des Herrn gab es eine kleine Herde aufrichtiger und gottesfürchtiger Leute, die Ihn erwarteten. Diese warteten auf Gott für den Trost Israels und studierten eifrig das Wort der Weissagung und der Verheissung. Als Christus unter ihnen erschien, waren sie nicht unvorbereitet, sondern nahmen Ihn mit Freuden auf indem sie die Merkmale seiner Identität erkannten.
Der alte Simeon erkannte das Heil Israels in dem heiligen Kind. Die Prophetin Anna lobte den Herrn, als sie Ihn sah, und brachte die frohe Nachricht zu allen, die in Jerusalem auf Erlösung warteten. Nathanael, der Israelit aus Kana in Galiläa, «in dem kein Trug war», sagte beim Hören seiner Stimme: «Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels.» Andere, die Er rief, verliessen alles und folgten Ihm nach, weil sie die Ansprüche Dessen, der sie rief, völlig anerkannten: Er war ihr Hirte.
Seine eigenen Schafe
Die Juden als Volk sanken so tief, dass sie Christus blindlings verwarfen. Es ist für uns aber interessant zu sehen, dass es Ausnahmen in der grossen Masse gab. Einige wenige nahmen Ihn auf, und diese bezeichnet der Herr hier als «seine eigenen» Schafe.
Dieser Ausdruck zeigt die enge und unzertrennliche Verbindung, die zwischen dem Hirten und den Schafen bestand. Sein eigenes Volk verwarf den König. «Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an» (Joh 1,11). Aber seine eigenen Schafe rebellierten nicht gegen Ihn, der ihr Hirte war. Sie waren sein eigenes, besonderes Eigentum – seine Schafe, die Ihm allein gehörten, wie der Herr von ihnen zum Vater sagte: «Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben» (Joh 17,6). Darum, weil sie seine eigenen Schafe waren, hörten sie seine Stimme und folgten Ihm.
Beim Namen genannt
Doch während die kleine Herde als Ganzes dem Hirten allein gehört, gilt seine Liebe und sein Interesse dennoch jedem einzelnen Schaf Entsprechend dem Bild des Hirten im Orient kennt Er den Namen von jedem Schaf und «er ruft seine eigenen Schafe mit Namen». Zum Beispiel rief Er Zachäus aus seinem Versteck im Maulbeer-Feigenbaum. Er sah Nathanael unter dem Feigenbaum verborgen. Er kannte die Vergangenheit der fremden Frau aus Samaria. Er hatte Mitleid mit dem hilflosen Kranken am Teich von Bethesda, denn Er wusste, dass dieser sich schon lange in diesem traurigen Zustand befand.
Der Gute Hirte kennt den Namen von jedem Schaf und Er hat versprochen, dass Er diesen Namen nicht aus dem Buch des Lebens auslöschen werde (Off 3,5).
Die Schafe herausführen
Als Nächstes zeigt der Herr einen weiteren Aspekt seines Hirtendienstes. Nebst der Vollmacht, mit der Er die Schafe «seine eigenen» nennt, und der liebenden Fürsorge, in der Er sie «mit Namen» ruft, hat Er sich selbst als ihr Führer eingesetzt. Sie sollten nicht länger wie Schafe sein, die keinen Hirten haben (Mt 9,36). Er stellt sich selbst an ihre Spitze. «Er führt sie heraus. Wenn er seine eigenen Schafe alle herausgeführt hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen.»
Nachdem sie die Stimme des Guten Hirten gehört und erkannt hatten, war es die Pflicht der Schafe, Ihm ganz nah zu folgen. Wenn Er sie aus der leblosen Form des Judentums herausgeführt hatte, so genügte es ihnen, beim Hirten zu sein. Die Stimmen fremder Hirten, wie die der Pharisäer, mochten locken oder drohen, wie es in Kapitel 9 der Fall war, doch die Schafe würden weder darauf achten noch hören. Ihr Vertrauen galt Dem, der bereitstand, ihnen seine Liebe zu beweisen, indem Er sein Leben für sie hingab.
«Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das er zu ihnen redete.» Gibt es heute noch solch blinde Unwissende, wie die Pharisäer es waren?