Der Gute Hirte und seine Schafe (4)

Johannes 10,11-15

4. Der Hirte, der starb

«Ich bin der gute Hirte; der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber und der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht; und der Wolf raubt sie und zerstreut die Schafe. Der Mietling aber flieht, weil er ein Mietling ist und sich nicht um die Schafe kümmert. Ich hin der gute Hirte; und ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne; und ich lasse mein Leben für die Schafe» (Joh 10,11-15).

Der Herr stand in scharfem Kontrast zu jenen Führern, die ehedem in Israel bekannt waren. Sie betrachteten die Herde als ihre Beute. Ihr Charakter war der eines Diebes, von dem der Herr sagte, dass er nur kam, um zu stehlen und zu schlachten und zu verderben, während Er von sich sagen konnte: «Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben.»

Christus war das Leben, und Leben war in Ihm – nicht nur Licht, sondern Leben. Ausserhalb von Ihm lag alles in Finsternis und Tod. Er war nicht nur vom Vater gesandt worden, sondern Er kam, und zwar, damit die Schafe Leben hätten; und Er würde ihnen Leben im Überfluss geben, wie es seiner persönlichen Herrlichkeit und seinem Werk entsprach – einem Werk, das hier immer vor Ihm stand. Folglich hauchte Er erst nach der Auferstehung in seine Jünger (Joh 20,22). Als der HERR hauchte Gott den Odem in Adam, und der Mensch wurde eine lebendige Seele, im Unterschied zu jedem lebendigen Wesen auf der Erde. So hauchte der Herr Jesus, der sowohl der auferstandene Mensch als auch wahrer Gott ist, ein besseres Leben in jene, die an Ihn glaubten. Es ist ewiges Leben, und das geschah, nachdem durch seinen Tod jede Frage der Sünde und des Gesetzes für den Glauben geordnet war.

Der Gute Hirte

Durch ein einziges, einfaches Beiwort unterscheidet sich der Herr von alten falschen und schändlichen Mietlingen, die vor Ihm gekommen waren. Er ist der Gute Hirte, und zwar «gut» im wahrsten Sinn des Wortes, wie es eigentlich nur auf Gott selbst angewandt werden kann (Lk 18,19). Unter den Menschen ist keiner gut, kein einziger. Doch die Güte des Hirten von Israel war so unendlich gross, dass sie die höchste Probe bestand. Seine Liebe konnte in ihrer Art oder in ihrem Mass von keiner anderen übertroffen werden. Er würde sein Leben für die Schafe lassen, und Liebe war der Beweggrund seines Opfers.

Dieser Satz: «sein Leben lassen» oder «darlegen», als ein Ausdruck innigster Liebe, ist kennzeichnend für die Schriften des Johannes und kommt sowohl in seinem Evangelium wie in seinem ersten Brief vor (siehe Joh 10,11.15.17.18; 15,13; 1. Joh 3,16). Die gleiche, alles übertreffende Tat wird in Römer 5,8 auch als der Beweis der besonderen Liebe Gottes vorgestellt: «Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.»

Die beiden Apostel, Paulus und Johannes, benützen diese unvergleichliche Tatsache als Beweis für die Wahrheit der Liebe Gottes, die sonst jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen würde. Doch der Unterschied im Standpunkt dieser beiden Lehrer ist deutlich festzustellen. Der Apostel der göttlichen Gerechtigkeit betont die Sünde und Schuld des Menschen. Er weist darauf hin, dass Christus für uns starb, als wir «Gottlose», «Sünder», «Feinde» waren. So zeigt er die Schönheit der Gnade Gottes auf dem finsteren Hintergrund des menschlichen Bösen. Aber der Apostel der göttlichen Liebe verweilt bei der Person, die so starb, indem er mit seinen Worten bekräftigt, wer Er ist, nicht was der Mensch ist.

Der Heilige Geist fasst durch Paulus in ein paar inhaltsreichen Sätzen zusammen, was wir waren. Aber das Hauptthema des Johannes in seinem Evangelium und auch in seinem ersten Brief ist die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, der sein Leben für uns liess. So spricht Paulus gewissermassen vom kupfernen Altar zu uns, und wir sind tief beschämt, wenn wir betrachten, dass Er für solche wie wir starb. Aber Johannes führt uns ins Heiligtum, und dort, vor dem Vorhang, erleuchtet durch die Schechinah (lichte Wolke) auf dem Thron, beten wir mit ehrfürchtiger Freude an, wenn wir erfahren, dass ein Solcher für uns starb. In den Erfahrungen unseres neuen Lebens in Christus können wir uns nicht erlauben, weder den einen noch den anderen Aspekt dieser kostbaren Wahrheit zu vernachlässigen.

Indem Er sein Leben für die Schafe hingab, zeigte der Herr selbst, dass Er genau das Gegenteil von den niederträchtigen Hirten war, die Israel bis dahin gekannt hatte. Ihr schwaches Interesse für die Herde schwand beim ersten Brüllen des Löwen oder Brummen des Bären. Solche Hirten wie sie rechneten mit Lohn und nicht mit Wölfen. Und ihre Sorge galt nur sich selbst und in keiner Weise ihrer Aufgabe.

Ja, diese Treulosigkeit und Untüchtigkeit war das allgemeine Kennzeichen derer, die einst eingesetzt worden waren, um die Herde Gottes zu weiden. Selbst David wurde durch seine Torheit die Ursache, dass 70'000 Israeliten durch eine Pest starben (2. Sam 24). Als Folge der Sünde Salomos wurde das Königreich Israels in den Tagen Rehabeams, seines Sohnes, auseinandergerissen. Hosea machte in seiner Regierungszeit über das Nordreich das Mass der Ungerechtigkeit voll, bis Ephraim durch den Assyrer ans äusserste Ende der Erde gefangen weggeführt wurde. Unter König Zedekia wurde das Volk Juda aus seinem eigenen Land weggeführt, um 70 Jahre in Babel zu dienen. Im Blick auf solche Herrscher sagte der HERR: «Wehe den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen!» (Jer 23,1).

Aber jetzt war der Gute Hirte zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gekommen. Es waren seine eigenen Schafe. Er liebte sie und Er liess sein Leben für sie.

Gegenseitiges Kennen

«Ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne.» Das macht die enge Verbindung zwischen dem 14. und 15. Vers deutlich. Es überrascht uns wohl kaum, dass der Herr die Seinen kennt. Aber es ist etwas ganz Wunderbares und Grund zu grösster Dankbarkeit zu erfahren, dass die Schafe den Hirten kennen. Und Johannes war inspiriert, um die Betonung in besonderer Weise auf dieses markante Kennzeichen der Wirkung des göttlichen Lebens in der Seele zu legen.

Diese Kenntnis ist eine erworbene Fähigkeit, die auf den Glauben folgt. Von der Welt sagt der Heilige Geist, dass sie «ihn nicht kannte» (Joh 1,10; 1. Joh 3,1). In Johannes 17, im «Gebet des Herrn», wo Er sich in besonderer Ausdrucksweise an den Vater wendet, erklärt der Sohn: «Gerechter Vater! – und die Welt hat dich nicht erkannt» (Joh 17,25; vgl. 16,3). In unserem Kapitel heisst es: «Sie aber verstanden (erkannten) nicht, was es war, das er zu ihnen redete» (Joh 10,6). Aber wenn der Apostel von denen spricht, die «nicht von dieser Welt» sind, lesen wir: «Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns ein Verständnis gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen kennen» (1. Joh 5,20). Zudem charakterisiert diese Erkenntnis sowohl die Kinder wie die Väter (1. Joh 2,13.14). Und der Besitz dieser Erkenntnis wird uns am Beispiel von Simon Petrus gezeigt, als er zum Herrn sagte: «Wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist» (Joh 6,69).

Es ist bemerkenswert, womit hier das gegenseitige Kennen des Guten Hirten und seiner Schafe verglichen wird – «wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne». Ich will nicht entscheiden, ob sich dieser Vergleich auf das Mass oder auf die Art und Weise unserer Kenntnis bezieht. Ich möchte auch keinerlei Theorie über das aufstellen, was mir eher ein Thema zum Nachdenken scheint, als eines, worüber man schreibt. Es sei mir aber nebenbei doch eine Bemerkung erlaubt:

Diesem Vergleich können wir sicher entnehmen, dass die Kenntnis der Schafe von Christus in dieser Hinsicht weder unsicher noch unklar ist, denn es ist die Kenntnis von einer Person, nicht über Ihn. Die Erkenntnis in Bezug auf den Herrn ist zweifellos zunehmend, und wir werden ermahnt, darin zu wachsen (2. Pet 3,18). Aber Christus zu kennen, ist eine Eigenschaft, die das schwächste Schaf der Herde kennzeichnet. Dadurch wird es von der Welt unterschieden, die Ihn absolut nicht kennt. Einer der zwei Räuber auf Golgatha erkannte seinen Herrn in dem Einen, der zu seiner Seite gekreuzigt war, und sagte zu Ihm: «Gedenke meiner, Herr, wenn du in deinem Reich kommst!» Dadurch war er sowohl in dieser Welt wie in der zukünftigen vom anderen Übeltäter unterschieden. Es kommt tatsächlich nicht so sehr darauf an, was wir kennen, sondern es ist viel wichtiger, wen wir kennen.