Der Gute Hirte und seine Schafe (5)

Johannes 10,17-18

5. Der vom Vater geliebte Hirte

«Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst aus. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen» (Joh 10,17.18).

In diesen Worten wird uns etwas berichtet, das in der Geschichte aller Zeiten einmalig ist. Hier steht der Eine vor uns, der dem Vater sowohl Beweggrund als auch Gelegenheit für seine Liebe gab. Der einzigartige Charakter von Gottes wohlwollender Liebe gegenüber Sündern wird an anderer Stelle beschrieben, und zwar in ihrem Triumph über die Ablehnung derer, denen sie sich zuwandte: «Gott aber erweist seine Liebe gegen uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist» (Röm 5,8). Im Gegensatz dazu wird hier die einmalige Tatsache offenbart, dass die geliebte Person in vollkommener Harmonie mit Dem ist, der liebt; denn der Herr erklärte von sich als dem Guten Hirten: «Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme.»

Die Hingabe seines Lebens war eine Tat des Guten Hirten, die den vorbehaltlosen Gehorsam gegenüber dem Gebot bewies, das Er von seinem Vater bekommen hatte. Und durch solch einen Gehorsam wurde der Name des Vaters verherrlicht, und seine Liebe wurde zum Sohn hingezogen, in dessen Hände Er alles gab (Joh 3,35). Denn der Gehorsam des Sohnes war während seines ganzen Lebens unveränderlich und fand überdies seine Vollendung in seinem Tod, wie der Geist rückblickend von Ihm sagte: «indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,8). So überrascht es uns denn nicht, wenn solch unvergleichliche, vollkommene Unterordnung in Gedanken und Wegen, wie sie im ewigen Sohn zu finden ist, (menschlich gesprochen) ein entsprechender Anlass für die Befriedigung und das Wohlgefallen des Vaters wurde, der allein ihren wahren Wert und ihre sittliche Schönheit wertschätzen konnte.

Dieses göttliche Wohlgefallen am Messias war von den Propheten vorausgesagt worden. Zum Beispiel sagte Gott durch Jesaja: «Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat» (Jes 42,1).

Ebenso wurde das göttliche Wohlgefallen den Hirten von Bethlehem durch die himmlischen Heerscharen verkündigt, als sie in jener denkwürdigen Nacht Gott lobten und sprachen: «Herrlichkeit Gott in der Höhe, und Friede auf der Erde, an den Menschen ein Wohlgefallen!» (Lk 2,14). Der erste Mensch wurde, mit allem, was Gott gemacht hatte, als «sehr gut» erklärt (1. Mo 1,31); der zweite Mensch aber, der Herr vom Himmel, wird hiermit als der Anziehungspunkt der Fülle göttlichen Wohlgefallens bezeichnet, aber auch als das Mittel, um es anderen sichtbar zu machen.

In der Folge kam im Lauf dieses gesegneten Lebens eine Stimme aus dem Himmel, dann nicht mehr von Engeln, sondern vom Vater selbst, und das nicht nur einmal, sondern zweimal: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe» (Mt 3,17; 17,5).

Und als Er, gehorsam bis zum Tod, das Werk vollbracht hatte, das Ihm zu tun gegeben worden war, da wurde seine Seele nicht im Hades gelassen (Apg 2,27). Durch seine Erhöhung auf den Thron in der Höhe wurde gezeigt, dass es das Wohlgefallen Gottes war, diesen Einen, den gehorsamen Sohn, zu ehren. «Er wurde gehorsam bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben» (Phil 2,8.9).

Wenn wir diese verschiedenen Zeugnisse über die Vortrefflichkeiten des Menschen Christus Jesus betrachten, sollten wir uns bewusst sein, dass sie uns nicht so sehr zur Bewunderung gegeben wurden, sondern vielmehr als Ansporn zur Anbetung. Wir sind gerufen, manche ehrwürdigen Personen im Alten wie im Neuen Testament zu bewundern; aber wir sollen nur Einen anbeten, Ihn, der, obwohl völlig Mensch, nie weniger als Gott war. Als Petrus den Herrn Jesus mit Mose und Elia auf eine Stufe stellen wollte, wurde er durch die Stimme aus der Herrlichkeit unterbrochen: «Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; ihn hört.» Sowohl in seiner tiefsten Herablassung in Gnaden, als auch in seiner höchsten Erhöhung, gibt es keinen, der dem Sohn auch nur im Geringsten gleichkäme. Er hat in allen Dingen den Vorrang und wird ihn immer haben.

Die Zeugnisse, die wir gehört haben – der Prophet, die Engel, der Vater selbst –, vereinen sich, um zu zeigen, dass die Worte, die der Herr in Bezug auf die Liebe des Vaters zum Guten Hirten geäussert hat, in Wirklichkeit eine Wiederholung dessen sind, was zuvor über Ihn gesagt worden war.

Wenn wir die Worte des Herrn in den Versen 11,15 und 17 miteinander vergleichen, fällt uns ein Unterschied im letzten dieser Verse auf:

  1. «Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe»
  2. «Ich lasse mein Leben für die Schafe»
  3. «Ich lasse mein Leben»

In den ersten beiden Versen werden die Schafe als Ursache für das Opfer des Hirten genannt. In dieser Hinsicht wird sein Tod als unwiderlegbarer Beweis seiner Liebe und Hingabe für die Herde vorgestellt. Hier ist nicht so sehr die Sühnung, die zu seinem Opfer gehört, sondern seine Liebe und das Resultat dieser Liebe das besondere Thema.

Im 17. Vers werden die Schafe nicht einmal erwähnt. Hier finden wir, was der Vater im Tod seines Sohnes sieht und wertschätzt. Für Ihn war dies eine Quelle der Liebe und des Wohlgefallens, ein Opfer lieblichen Geruchs. So ist dieser Aspekt des Todes Christi ein Gegenbild des Brandopfers (3. Mo 1; Eph 5,2). Dort sehen wir im Vorbild und hier tatsächlich, dass, als der Sohn sein Leben liess, der Vater darin ein überreiches und wohlangenehmes Teil fand.

Die Gewalt, das Leben zu lassen

Es ist von gottesfürchtigen Bibelkennern schon oft bemerkt worden, wie verhängnisvoll es für das richtige Verständnis der Schrift ist, wenn man eine Stelle mit einer anderen vergleicht und dabei in einem irregeführten Übereifer versucht, eine An Übereinstimmung zu erreichen, indem man den klaren Aussagen des Wortes Gottes etwas hinzufügt oder etwas davon wegnimmt. Tatsache ist, dass nur der einfache Glaube, der die Worte des Heiligen Geistes so annimmt, wie sie dastehen, die wirkliche Lösung zu sogenannten biblischen Schwierigkeiten findet.

Wir erwähnen dies, weil einige erklärten, in den Worten «Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen» einen gewissen Widerspruch zu folgenden Stellen zu finden: «Diesen Jesus hat Gott auferweckt» (Apg 2,32); «so wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters» (Röm 6,4); «Christus … getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist» (1. Pet 3,18).

Es sollte hoffentlich nicht nötig sein, zu sagen, dass diese und ähnliche Stellen in keiner Weise eine Anpassung nötig haben. Der Glaube ist berufen, jede dieser Stellen und alle zusammen als die vollkommene Wahrheit Gottes anzunehmen. Während die Dreieinheit Gottes für das Geschöpf ein unergründliches Geheimnis ist und bleiben muss, erkennt der Gläubige doch – weil es ihm offenbart ist –, dass in der gewaltigen Auferstehung von Christus der Vater, der Sohn und der Heilige Geist jeder sein Teil hatte. Und diese verschiedenen Aspekte sind uns einzeln offenbart, in passender Verbindung mit ihrem entsprechenden Zusammenhang und nach dem Plan des unfehlbaren Inspirators der Heiligen Schrift.

Wenn man diese Aussage des Herrn, in seiner eigenen Vollmacht sein Leben zu lassen, in Beziehung zur Absicht des vierten Evangeliums sieht, wird es klar, wie angemessen sie ist. Seine Sprache ist die des Einen, der der Sohn Gottes ist, ja, der tatsächlich Gott selbst ist. Und in diesem Evangelium wird Er uns in allen Aufzeichnungen unveränderlich in diesem Charakter gezeigt. Er verfügt über eine Gewalt über sein Leben und seinen Tod, die sich ein gewöhnlicher Mensch niemals anmassen könnte, ohne sich dabei in der kühnsten und lästerlichsten Überheblichkeit das höchste Attribut Gottes widerrechtlich aneignen zu wollen, das Ihm allein zusteht, nämlich Leben zu nehmen und zu geben, (vgl. 5. Mo 32,39; 2. Kön 5,7).

Dieser höchste Anspruch wurde auch in einem anderen Zusammenhang gemacht. Als Er von seiner Auferstehung sprach, sagte der Herr zu den Juden: «Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten» (Joh 2,19). Und als Hinweis auf seinen Sühnungstod sagte Er: «Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt» (Joh 6,51). Sicher ist es auch nicht ohne Bedeutung, dass nur in diesem Evangelium berichtet wird, dass der Herr, als die bewaffneten Soldaten Ihn im Garten suchten, nicht wartete, bis sie Ihn fanden, sondern als Der, der sein Leben von sich aus lassen wollte, hinausging und zu ihnen sprach: «Wen sucht ihr?» Der Kuss des Verräters, der in jedem der drei synoptischen Evangelien erwähnt ist, wird von Johannes übergangen und durch die heilige Würde des Sohnes ersetzt, der alles wusste, was über Ihn kommen würde.

Zudem wird von Johannes festgehalten, dass die Soldaten mit ihren Schwertern und Stöcken vor der Majestät Dessen, der gesagte hatte: «Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst aus», in hilflosem Unvermögen zurückprallten und zu Boden fielen (Joh 18,4-6). Ebenso erklärte Er als das Fleisch gewordene Wort vom Kreuz aus in Bezug auf sein eigenes Werk: «Es ist vollbracht!», und dieser Ausspruch wird uns nur in diesem Evangelium wiedergegeben (Joh 19,30). Nur Einer konnte so von dem sprechen, was Er getan hatte, und auf solche Weise seinen Geist übergeben, und dieser Eine war es, der sagte: «Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen.»

Und es ist sicher der Besitz dieses Rechts, das der Hirte als der Sohn Gottes für sich beanspruchte, was den Wert der Hingabe seines Lebens im Gehorsam zum Gebot des Vaters noch so unermesslich erhöht. Das Geschöpf als solches konnte selbstverständlich nie das Recht haben, zu wählen, den Willen seines Schöpfers zu tun, ohne die Strafe für Ungehorsam auf sich zu ziehen. Wenn der Mensch Gott gehorcht, tut er nicht mehr als seine Pflicht und ist dabei nichts mehr als ein unnützer Knecht (Lk 17,10). Der Sohn aber, der Gott gleich ist, konnte seine eigene Zustimmung zum Willen und zur Absicht Gottes ankündigen, indem Er sagte: «Siehe, ich komme, … um deinen Willen, o Gott, zu tun» (Heb 10,7).

Im Gegensatz zu einem Geschöpf war es das Vorrecht von Gott, dem Sohn, seine Zustimmung zum ewigen Ratschluss zum Ausdruck zu bringen. Ein Knecht konnte nicht durch angeborenes Recht etwas anderes wählen, als sich dem Willen seines Herrn zu unterordnen. Aber es war der Wille des Herrn der Herren, der Knecht Gottes zu werden und sich so tief zu erniedrigen, dass Er selbst sein Leben hingab. Das macht den unermesslichen Wert und die Annehmlichkeit dieser unvergleichlichen Tat des Guten Hirten aus, der Gottes Sohn ist.

Wir hören in diesem Evangelium noch von einem anderen, der davon sprach, sein Leben zu lassen. Im Übereifer seiner feurigen Natur und erfüllt von Begeisterung für seinen geliebten Meister, erklärte Simon Petrus in der Nacht, als Dieser verraten wurde: «Mein Leben will ich für dich lassen» (Joh 13,37). Der Sohn Jonas verstand damals nicht, dass nicht sein übereiltes Versprechen, sondern das Gegenteil der Fall sein würde, in Erfüllung von Johannes 10,11-18. Petrus glaubte auch nicht, was der Herr ihm sogleich von der fehlenden Standhaftigkeit seines Herzens sagte, noch, dass er in kaum einer Stunde mit Verwünschungen und Flüchen leugnen würde, seinen gnädigen Meister auch nur zu kennen, obwohl er kurz zuvor erklärt hatte, Ihm ins Gefängnis und in den Tod folgen zu wollen. Doch es erwies sich, dass solch eine Schande und einen solchen Tod auszuhalten, zu viel war für einen, der auf seine eigene Kraft vertraute, und dass er noch nicht dazu taugte, auch nur ein Unterhirte für die Schafe zu sein.

Und doch, obwohl Petrus so schändlich fiel, anerkannte der Herr den aufrichtigen Wunsch seines Jüngers und Apostels. Und nach seiner Wiederherstellung wurde er vom auferstandenen Herrn berufen, Ihm zu folgen, Seine Schafe zu weiden, und es wurde ihm zugesichert, dass er zu gegebener Zeit Gott durch den Tod verherrlichen werde (Joh 21,18.19).