Der Gute Hirte und seine Schafe (6)

Johannes 10,22-30

6. Das Teil und die Sicherheit der Schafe

«Es war aber das Fest der Tempelweihe in Jerusalem; und es war Winter. Und Jesus ging im Tempel, in der Säulenhalle Salomos, umher. Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Bis wann hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus. Jesus antwortete ihnen: Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich in dem Namen meines Vaters tue, diese zeugen von mir; aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben. Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins» (Joh 10,22-30).

In diesem Abschnitt finden wir eine An Zusammenfassung gewisser Wahrheiten, die kennzeichnend sind für die Schafe von Christus, deren Glaube an Ihn in krassem Gegensatz zum Unglauben der Juden stand. Durch ihre Frage und mit ihren Andeutungen, Er gebrauche Ausflüchte, zeigten die Juden ihre gänzliche Gleichgültigkeit und Blindheit gegenüber allem, was der Herr vorher gesagt und getan hatte. Sie fragten: «Bis wann hältst du unsere Seele hin? Wenn du der Christus bist, so sage es uns frei heraus.»

In seiner Antwort beschuldigt der Herr sie ihrer ausdrücklichen Verwerfung sowohl seiner Worte als auch seiner Werke, wie die Kapitel 8 und 9 dieses Evangeliums in Einzelheiten zeigen. Der Herr Jesus hatte den Juden gesagt, wer Er war, aber sie glaubten Ihm nicht. Seine Werke bestätigten sein mündliches Zeugnis vielfältig, aber sie glaubten beidem nicht; und ihre Herzensverhärtung war der klare Beweis, dass sie nicht zu seinen Schafen gehörten. Die Art der Frage, die sie Ihm gerade zu diesem Zeitpunkt seines Dienstes stellten, zeigte völlig ihren geistlichen Zustand und ihren fleischlichen Hass.

Nachdem der Herr die Juden von ihrer feindlichen Haltung Ihm gegenüber überführt hatte, wandte Er sich in seiner Rede von den Ungläubigen weg den Gläubigen zu und nannte bestimmte Merkmale der Beziehung, in der die Schafe zu Ihm und zum Vater standen. Diese Aussagen können wie folgt zusammengefasst werden:

  1. Die Schafe hören die Stimme des Hirten
  2. Der Hirte kennt die Schafe
  3. Die Schafe folgen dem Hirten
  4. Der Hirte gibt den Schafen ewiges Leben
  5. Die Schafe werden nicht verloren gehen
  6. Niemand wird die Schafe aus der Hand des Hirten rauben
  7. Der Vater gab die Schafe dem Hirten
  8. Niemand wird die Schafe aus der Hand des Vaters rauben

Diese Worte des Herrn umfassen so viel in ihrer Bedeutung, dass es sich für alle, die sie im Herzen bewahren, lohnt, darüber nachzusinnen. Die wichtigen Themen seiner Aussagen sind in den acht obigen Sätzen aufgezählt, und sie sind und bleiben wahr von den Schafen, von denen der Herr Jesus gleichzeitig der Besitzer, der Hirte und der Beschützer ist.

1. Der Ruf

Die Schafe waren jene unter den Juden, die die Stimme des Guten Hirten gehört hatten. Er hatte Israel im Geist der einstigen Propheten zugerufen: «Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht» (Ps 95,7.8), aber die Masse des Volkes wollte nicht auf den Ruf hören, und deshalb wurden ihre törichten Herzen verfinstert. Es gab aber immerhin einige, die die Stimme des Sohnes Gottes hörten, und die sie gehört hatten, lebten (Joh 5,25).

Doch diese Wahrheit drückt mehr aus als die Tatsache eines einstigen Hörens. Es heisst nicht: «Meine Schafe hörten meine Stimme», sondern: «Meine Schafe hören meine Stimme.» Es ist ein gegenwärtiges Hören, eine Gewohnheit des Hörens, ein fortwährendes Hören. Die Schafe von Christus haben die Fähigkeit, sich auf die himmlischen Schallwellen einzustellen, die sonst mitten im Lärm der Welt und «dem Geschrei im Lager» unhörbar sind. Die zarte Stimme des grossen Hirten, der aus den Toten wiedergebracht wurde, flüstert andauernd zu und in uns seine Worte der Zusicherung und Führung. Wie der Hirte nie stumm sein wird, möchten seine Schafe nie taub sein.

2. Göttliche Kenntnis

Der Herr sagt von den Schafen: «Ich kenne sie.» Das ist die Kenntnis der ganz persönlichen, innigen Beziehung, und davon hatte Er vorher gesprochen: «Ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne» (V. 14,15).

Zu den Ungläubigen aber wird der Herr – wie zu den törichten Jungfrauen – sagen: «Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht» (Mt 25,12). Und auch vielen, die durch seinen Namen geweissagt und Dämonen ausgetrieben und viele Wunderwerke getan haben, wird Er bezeugen: «Ich habe euch niemals gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!» (Mt 7,22.23).

3. Wege des Gehorsams

Zudem ist es so, dass die, welche die Stimme des Hirten hören, Ihm folgen, wie Er es vorher sagte, obwohl bei jener Gelegenheit in einem engeren Sinn als hier. «Meine Schafe … folgen mir.» Das war beim reichen Jüngling nicht der Fall, der den Herrn besorgt fragte, wodurch er ewiges Leben erben könne. Obwohl er gegen aussen rechtschaffen und im Innern aufrichtig war, versagte er völlig, der Forderung des Meisters nachzukommen: «Geh hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach!» (Mk 10,21).

Was auch immer dieser junge Oberste an Vorzügen besitzen mochte, so fehlte ihm zweifellos die Bereitwilligkeit, sich vorbehaltlos unter die Führung des Herrn Jesus zu stellen, was das entscheidende Merkmal der Schafe von Christus ist. Er ging betrübt weg. Er sah sich nicht, wie die Jünger, genötigt, alles zu verlassen und dem armen, bescheidenen und verachteten Nazarener zu folgen. Es ist daher klar, dass dieser junge Mann die Stimme des Hirten nicht hörte, sonst wäre er Ihm nachgefolgt. Für ihn war der Weg offensichtlich dunkel, trübselig und darum abschreckend, was er tatsächlich auch für alle sein muss, die das Licht des Lebens nicht haben, das auf jeden scheint, der dem Guten Hirten nachfolgt, der das Licht der Welt ist (Joh 8,12).

4. Die Zusicherung des ewigen Lebens

«Ich gebe ihnen ewiges Leben»: Der Gute Hirte, der sein Leben für die Schafe liess, gibt den gleichen Schafen ewiges Leben. Er war gekommen, damit sie Leben hätten, und damit sie es im Überfluss haben sollten; denn es ist der Wille des Vaters, der Ihn sandte, dass jeder, der den Sohn sieht und an Ihn glaubt, ewiges Leben habe (Joh 6,40). Und der Sohn empfing Gewalt über alles Fleisch, damit Er allen, die der Vater Ihm gegeben hatte, ewiges Leben gebe (17,2). Noch weitere Stellen in diesem Evangelium zeigen, dass die Gabe des ewigen Lebens die Folge des Glaubens an Gott und an Christus ist (3,15.16.36; 5,24; 6,47.54). Aber in dieser Aussage des Guten Hirten wird jede Erwähnung von Glauben weggelassen, damit sich unser Blick auf das ewige Leben konzentriere, das die unbezahlbare Gabe ist, die uns durch göttliche Liebe und Güte geschenkt wurde.

Während der Besitz des ewigen Lebens vielfältige und gesegnete Wirkungen hat, bildet das Leben selbst die wichtige Grundlage der innigen Beziehungen der Kinder Gottes. Es ist töricht und nutzlos und führt höchstens zu gefährlichen Spekulationen, wenn man auf irgendeine Art versucht, dieses wertvolle Geschenk zu analysieren. Die zarten Worte, die sich damit befassen und es zum Ausdruck bringen, vermeiden und vereiteln den Versuch, es aus Neugierde erklären und definieren zu wollen. Die ungelösten Geheimnisse des natürlichen Lebens sollten sogar eine genügende Warnung an solche sein, die in das eindringen wollen, was in Bezug auf das geistliche Leben nicht offenbart ist. Es sollte nicht vergessen werden, dass es zum Verderben führt, wenn man über die Schrift hinausgeht, so wie Unkenntnis derselben zu Schwäche führt. Kein einziges inspiriertes Wort über dieses ewige Leben oder über irgendein anderes Thema kann ohne Verlust übersehen werden, noch kann ohne ernste Gefahr ein Wort hinzugefügt oder entstellt werden.

5. und 6. Die Sicherheit der Schafe

Weiter sagte der Hirte: «Sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.» Dieses Versprechen der Sicherheit trägt einen zweifachen Charakter. Es enthält eine Zusicherung von Christus für die Schafe gegen die Gefahren des Verderbens und der Zerstreuung, gegen inneren Verfall und äussere Feinde, gegen ihre eigenen, keineswegs harmlosen Schwachheiten, wie auch gegen die räuberische Gewalt des Feindes. Wahrlich: «Der Name des HERRN ist ein starker Turm; der Gerechte läuft dahin und ist in Sicherheit» (Spr 18,10).

Und dieses uneingeschränkte Versprechen unseres Herrn ist, wie sein Name, ein unbezwingbarer Zufluchtsort, wohin der ängstlichste Gläubige eilen und dort vollkommene Sicherheit finden darf. Denn hier verpflichten sich der Gute Hirte selbst und die Ehre seines herrlichen Namens, dass auch das Allerschwächste der Herde nie auf irgendeine Weise verloren gehen wird. Als der Herr sich nachher betreffs der Zwölf an seinen Vater wandte, sagte Er: «Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast; und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren gegangen – als nur der Sohn des Verderbens» (Joh 17,12).

Es ist überdies auffallend, dass in diesen zusichernden Worten der Ort der Sicherheit für den Gläubigen nicht durch einen irdischen Schafhof versinnbildlicht wird, wie das in alttestamentlichen Prophezeiungen der Fall war, sondern durch das eindrucksvolle Bild der Hand des Guten Hirten. (Vgl. Jes 65,10; Jer 23,3; Hes 34,14; Micha 2,12). Da, im Schatten seiner Hand, sind die Schafe vor jedem Feind sicher verborgen (vgl. Jes 49,2; 51,16). Diese Hand von unsichtbarer Macht (die das Volk Israel aus der eisernen Knechtschaft Ägyptens befreite, es durch die Wüste bewahrte und verteidigte und in das verheissene Land brachte), die Hand des Herrn wird die zarten und schwachen Schafe umgeben und sie vor den Angriffen ihres grossen Feindes beschützen. Obwohl der Wolf die Herde bedroht, um zu stehlen, zu töten und zu verderben, wird der Gute Hirte «die Herde seiner Hand» auf jene grünen Auen führen, wo die Schafe friedlich an stillen Wassern weiden können (Ps 95,7; 23,2).

7. und 8. Die Obhut des Vaters

Auch der Vater selbst ist für den Schutz der Schafe besorgt. Der Herr sagt: «Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist grösser als alles, und niemand kann sie aus der Hand meines Vaters rauben. Ich und der Vater sind eins.» Diese Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn in ihrem Interesse an den Glaubenden kommt auch in Johannes 17,11.12 zum Ausdruck. Das Gebet des Sohnes zum Vater war: «Heiliger Vater! Bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast», und Er fügte hinzu: «Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen.»

So sind die Schafe sicher, sowohl in der Hand des Vaters wie auch in der Hand des Sohnes, was der Sohn mit Freuden bezeugt. Sagte Er nicht zu ihnen: «Der Vater selbst hat euch lieb»? Diese Liebe zeigte der Vater den Jüngern. Als der Hirte geschlagen wurde und sich die Schafe zerstreuten, hielt der Vater seine schützende Hand über die Kleinen, wie dies in der Prophezeiung des Geistes in Sacharja 13,7 und im Gebet des Sohnes in Johannes 17,11.12 vorausgesagt wurde. Es war nicht der Wille des Vaters, dass eines seiner Kleinen verloren gehe (Mt 18,14).

Wir lernen also, dass der Vater und der Sohn sich selbst als Beschützer derer eingesetzt haben, die Ihnen für das Heil vertrauen. Könnte der Grund für unsere zuversichtliche Gewissheit irgendwie unerschütterlicher gemacht werden als durch diese Aussagen? Fort mit jenen, die das Kind des Glaubens so beschreiben, als würde es sich dürftig bekleidet mit steifen Fingern an einen vom Meer umspülten, schlüpfrigen Felsen klammern, während die peitschenden Wellen es jeden Augenblick in ein Wassergrab zu stürzen drohen. Die Schrift lehrt das Gegenteil und ermutigt uns, daran zu denken, dass ein solches Kind in dieser starken Hand gehalten wird, jener hohlen Hand, die die Wasser gemessen hat (Jes 40,12).