Der Gute Hirte und seine Schafe (1)

Johannes 9,39-41

1. Die Blindheit der Juden

«Und Jesus sprach: Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden. Einige von den Pharisäern, die bei ihm waren, hörten dies und sprachen zu ihm: Sind denn auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde» (Joh 9,39-41).

Keine Schriftstelle kann aus ihrem Zusammenhang herausgenommen werden, ohne dass etwas von ihrer Kraft und Schönheit verloren geht. Und der bekannte Abschnitt in Johannes 10 über den «Guten Hirten» ist, wie alle übrigen inspirierten Schriften, nur ein einzelnes Glied in der Kette, die der Heilige Geist zu seinem eigenen Zweck und Ziel im Plan der Offenbarungen geschmiedet hat. Aus diesem Grund mag es nützlich sein, über den Zusammenhang nachzudenken, in dem dieser Abschnitt steht.

Johannes 8 und 9 zeigen in manchen Einzelheiten sowohl die Unfähigkeit der Juden, das Zeugnis Gottes anzuerkennen, das ihnen durch den Herrn vom Himmel gegeben wurde, als auch die unversöhnliche Feindschaft ihrer Herzen gegen den Einen, der durch seine Worte der Wahrheit die Ruhe ihrer heuchlerischen Wege störte.

Der Sohn Gottes war inmitten des Volkes als «das Licht der Welt». Aber seine Gegenwart nützte ihrem moralischen Wahrnehmungsvermögen nichts, weil für sie der helle Mittag nicht besser war als die Nacht. Das Licht schien auf sie, aber sie waren leider blind. Wären sie bereit gewesen, damals ihren wahren Zustand zu bekennen – wie sie es in der Zukunft tun werden –, dann hätten sie gesagt: «Wie Blinde tappen wir an der Wand herum, und wir tappen herum wie solche, die keine Augen haben; wir straucheln am Mittag wie in der Dämmerung» (Jes 59,10). Ihre Blindheit wäre dann, so wenig wie heute oder zu irgendeiner Zeit, ein Hindernis für den Segen Gottes durch Christus gewesen. Denn die Propheten hatten im Voraus bezeugt, dass ein typisches Merkmal des Dienstes des Messias darin bestehen würde, die Augen der Blinden zu öffnen (Ps 146,8; Jes 29,18; 35,5; 42,7). Und um allen den Beweis zu geben, dass Er die Macht hatte zu heilen, führte der Herr dieses besondere Werk seiner Barmherzigkeit sowohl im Tempel als auch an einem Wegrand aus (Mt 21,14; Lk 18,35).

Und was der Herr für das physische Augenlicht tat, war nur ein Hinweis auf das, was Er für das geistliche Sehvermögen tun würde. Die Nichtsehenden sollten sehen können und ihre Sünde weggetan werden. Aber im Stolz ihrer Herzen sagte das Volk unaufrichtig und törichterweise durch den Mund seiner religiösen Führer: «Wir sehen», und darum blieb ihre Sünde.

Wie ihre Blindheit bewiesen wurde

Es ist wichtig zu sehen, dass im Lauf der Belehrungen dieses Evangeliums die völlige Verwerfung des Herrn als der Gesandte von Gott durch die Juden am Ende des 9. Kapitels klar bewiesen ist. Die Ablehnung seines Zeugnisses wird schon in den ersten vier Kapiteln gezeigt, aber nachher tritt ihr Hass in zunehmendem Mass zutage.

In Kapitel 5,16 verfolgen die Juden den Herrn Jesus und suchen Ihn zu töten, weil Er den hilflosen Mann am Teich Bethesda an einem Sabbat heilte. In Kapitel 6,66 gehen viele von seinen Jüngern zurück und wandeln nicht mehr mit Ihm, wegen seiner Lehre, die ihnen zu hart ist. In Kapitel 7,32 senden die Pharisäer und Hohenpriester Diener, um Ihn zu greifen, weil viele Leute an Ihn glauben. In Kapitel 8 argumentiert der Herr mit den Juden in einer Weise, wie nur dieser Eine es konnte, dessen Worte sowohl Wahrheit als Geist und Leben sind. Aber sie verstehen seine Sprache nicht, weil sie sein Wort nicht hören können. Voll Halsstarrigkeit unterbrechen sie seine Rede und widersprechen Ihm. Da ihre Beweisführung fehlschlägt, was beim Irrtum in Gegenwart der Wahrheit immer der Fall ist, nehmen sie zu Schimpfworten Zuflucht und sagen, Er sei ein Samariter und habe einen Dämon. Doch seine Worte verfolgen sie weiter und durchdringen sie, tiefer als ein zweischneidiges Schwert, indem sie ihre Gedanken und die Gesinnung ihrer Herzen vor seinen Augen blosslegen (Heb 4,12). Da heben sie Steine auf, um sie auf Ihn zu werfen, und vertreiben Ihn so aus ihrer Mitte (Joh 8,59). Sie können Ihn seiner Worte wegen nicht ertragen, weil Er ihnen die Wahrheit sagt.

Dadurch, dass sie die Wahrheit nicht anerkennen, ist die Blindheit der Juden völlig bewiesen. Würden sie jedoch ihre Unfähigkeit, sehen zu können, offen bekennen, müssten sie nicht hoffnungslos verzweifeln. Der Herr beweist ihnen im nächsten Kapitel, dass Er sogar vermag, die Augen eines Blindgeborenen aufzutun – ein Zeichen dessen, was Er ebenso für die Augen des Herzens tun könnte.

Diese Heilung ruft bei den Juden aber noch mehr Feindschaft hervor. Zuerst strengen sie sich an, diese Tat so darzustellen, als sei sie gar kein Wunder. Als dies nicht gelingt, weil der Mann ehrlich ist und ganz einfach auf der Tatsache besteht, dass seine Augen durch Jesus aufgetan worden seien, werfen sie den armen Kerl aus der Synagoge, indem sie ihn als Jünger des Herrn beschimpfen.

Wir sehen also, dass das Zeugnis des Geistes gegen das Volk in den Kapiteln 8 und 9 dieses Evangeliums hauptsächlich darin besteht, dass die Juden nicht an das glauben wollten, was der Herr sagte oder tat. Sie empfanden beides, seine Worte und seine Werke, gleichermassen als Beleidigung, und wollten weder Ihn noch seine Nachfolger haben.

Durch diese feindselige Haltung wurde der verblendete Zustand ihrer Herzen offenbar. Und dieser Zustand zeigte sich als eine direkte Folge der Gegenwart des Herrn, wie Er selbst sagte: «Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen» (9,39). Nicht etwa dass Er gekommen wäre, um das Urteil endgültiger Verdammnis auszusprechen, wie Er das in der Zukunft tun wird (5,22.27.29). Der Herr kam zuerst als Heiland, nicht als Richter (3,17; 12,47). Doch seine Gegenwart unter den Juden erlaubte einen endgültigen Test, ob das Volk sehend sei oder nicht.

Der Herr war als das Licht der Welt in ihrer Mitte; als «der Aufgang aus der Höhe, um denen zu leuchten, die in Finsternis und Todesschatten sitzen» (Lk 1,78.79). Dieses Licht schien wahrhaftig in der Finsternis, aber anstatt erleuchtet zu werden, hat die Finsternis es nicht erfasst (Jes 60,1; Joh 1,5). Und als ernste Folge davon ist jetzt das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist und die Menschen die Finsternis mehr geliebt haben als das Licht, denn ihre Werke sind böse (3,19).

Willentliche Blindheit

Diese Widersetzlichkeit der Juden machte ihren Zustand noch viel ernster. Sie waren nicht nur in einem Zustand geistlicher Finsternis, sondern sie liebten sie; sie waren nicht nur geistlich blind, sondern sie waren böse zu Dem, der sie von ihrer Blindheit hätte heilen wollen. Der Herr kam vom Himmel, um die Nichtsehenden sehend zu machen. Aber die Juden wollten nicht zugeben, eine solch wohlwollende Heilung nötig zu haben. Sie waren gewissermassen im «Laodizea-Stadium» ihrer Zeitepoche und sagten, wie die Christenheit heutzutage: Wir sind reich und sind reich geworden und benötigen nichts. Sie wussten nicht, dass sie in Wirklichkeit elend, jämmerlich, arm, blind und nackt waren (vgl. Off 3,17).

Oh, wären die Juden doch vom «hohen Ross» heruntergestiegen und hätten wie die blinden Bettler von Jericho ausgerufen: «Erbarme dich unser, Herr, Sohn Davids!» (Mt 20,30), dann hätten ihre Augen geöffnet werden können und sie hätten Schönheit in ihrem König gesehen, um Ihn zu begehren. Aber nein! Sie waren so verblendet, so völlig unter der Macht des Feindes, der den Sinn der Ungläubigen verblendet, dass sie sich nicht nur anmassten, selbst sehend zu sein, sondern noch vorgaben, Leiter der Blinden zu sein und ein Licht derer, die in Finsternis waren (Röm 2,19).

Stolze Überheblichkeit! Was hätten sie in ihrem Eigensinn anderes sein können als bestenfalls blinde Leiter, wie der Herr ihnen sagte (Mt 23,16.17.26)? Wenn Blinde die Blinden führen, kann die traurige Folge doch nur sein, dass beide in die Grube fallen! (Mt 15,14). Dieser Sturz trat ein, als die Hohenpriester die Volksmengen überredeten, um Barabbas zu bitten und den Herrn der Herrlichkeit kreuzigen zu lassen, dessen Blut bis zu diesem Tag auf ihnen und ihren Kindern liegt.

Mit Blindheit geschlagen

Dieser Höhepunkt der Bosheit, der schliesslich vom Volk der Juden in der Kreuzigung ihres Messias erreicht wurde, war die unausweichliche Folge ihrer hartnäckigen Weigerung, den Herrn anzunehmen und ihren wahren geistlichen Zustand schuldhafter Blindheit vor Ihm einzugestehen. Und in Johannes 9,39 finden wir die ernste Warnung des Herrn gegen einen solchen Ausgang. Er wies auf diese Gefahr hin, als Er von den Folgen seines Kommens sprach, nämlich, «damit die Sehenden blind werden». Während Er gekommen war, damit die Nichtsehenden sehen sollten, war die Konsequenz der Nichtbeachtung seiner Gegenwart, dass die Sehenden blind würden.

Es war gefährlich für sie, in ihrem Eigenwillen mit dem Gnadenangebot Gottes zu spielen. Gnade und Wahrheit waren in seiner Person zu ihnen gekommen. Diese Offenbarung abzulehnen, würde bedeuten, die Blindheit, die der Prophet Jesaja als Strafe vorausgesagt hatte, auf sich zu ziehen: «Mache das Herz dieses Volkes fett, und mache seine Ohren schwer, und verklebe seine Augen: damit es mit seinen Augen nicht sieht und mit seinen Ohren nicht hört und sein Herz nicht versteht und es nicht umkehrt und geheilt wird» (Jes 6,10).

Der Herr war der grosse Arzt, der gekommen war, um das Volk von seiner geistlichen Blindheit zu heilen. Und Er hatte ihnen von seiner Bereitschaft und Macht, dies zu tun, wiederholte Beweise gegeben. Aber sie «wollten nicht», und somit wurden ihre blinden Augen umso mehr verblendet.

Die Weissagung Jesajas

Es ist bezeichnend, festzustellen, dass die Prophezeiung von Jesaja sowohl im Matthäus- als auch im Johannes-Evangelium vorkommt. Auch in Matthäus ist erst davon die Rede, nachdem die endgültige Verwerfung des Messias durch das Volk aufgezeichnet worden war. Das Zitat finden wir erst, nachdem die Führer seine Macht, Dämonen auszutreiben, dem Obersten der Dämonen zugeschrieben hatten (siehe Mt 13,14 und 12,24).

Diese Reihenfolge wird in der Schrift immer eingehalten. Erst nachdem der Mensch, allen Ermahnungen zum Trotz, seinen Willen aktiv dem Willen Gottes entgegenstellt, offenbart Gott seine unumschränkte Gewalt. Erst nachdem der Mensch nicht gewollt hat, kann er nicht. Diese Reihenfolge wird im Johannes-Evangelium ganz deutlich gezeigt. Denn wir lesen in Kapitel 12,37-41 nacheinander folgendes: «Obwohl er aber so viele Zeichen vor ihnen getan hatte, glaubten sie nicht an ihn, damit das Wort des Propheten Jesaja erfüllt würde, das er sprach: ‹Herr, wer hat unserer Verkündigung geglaubt, und wem ist der Arm des Herrn offenbart worden?›» Die Juden wollten ganz einfach nicht glauben, obwohl sie reichlich Beweise bekommen hatten, dass Jesus der Christus, der Sohn Gottes, war. Dann heisst es in Johannes 12 weiter: «Darum konnten sie nicht glauben, weil Jesaja wiederum gesagt hat: ‹Er hat ihre Augen verblendet und ihr Herz verstockt, damit sie nicht sehen mit den Augen und verstehen mit dem Herzen und sich bekehren und ich sie heile.› Dies sprach Jesaja, weil er seine Herrlichkeit sah und von ihm redete.» Somit sehen wir, dass die Juden nicht glauben konnten, weil sie nicht glauben wollten. Diese Verhärtung des Herzens bezog sich jedoch nur auf das Volk als Ganzes, im Unterschied zur Gnade, die dem einzelnen angeboten wurde; denn es wird sogleich angefügt: «Dennoch aber glaubten auch von den Obersten viele an ihn.»

So kann man sagen, dass die Worte des Herrn «damit die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden» das zweifache Ergebnis seiner Mission beschreiben. Er erfüllte die Hungrigen mit Gutem, aber die Reichen schickte Er leer fort. Wenn man sich auf die Herrlichkeit und den Wert seiner Person besinnt, wer kann dann den Segen der Blinden ermessen, die Ihn aufnahmen? Wer kann aber anderseits das Gericht derer ermessen, die Ihn verwarfen?

«Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde; nun aber, da ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde.» Die Juden waren für ihr Bekenntnis verantwortlich. Hätten sie ihre Blindheit bekannt, so hätten sie keine Sünde, denn da war Barmherzigkeit und Vergebung für bußfertige Sünder. Wenn sie aber sagten «Wir sehen», dann waren sie verantwortlich, im Licht zu wandeln, und wurden entsprechend gerichtet. Überdies, wenn sie sehen konnten, warum sahen sie dann den Guten Hirten nicht, als Er kam? Dieser Charakter seines Dienstes wird in den folgenden Gleichnissen und Lehren enthüllt.