Gesicht und Berufung
Wir haben bis dahin den Rahmen und das Zeitalter betrachtet, in dem Hesekiel lebte. Sehen wir nun, wie er zum Propheten berufen wurde.
Wie bei vielen anderen war bei ihm ein persönlicher, direkter Kontakt mit dem Herrn nötig, um zum Werk berufen zu werden, für das ihn Gott bestimmte. Johannes auf Patmos sah den Herrn als Richter, bevor er an die sieben Versammlungen schrieb und uns mitteilte, «was nach diesem geschehen wird» (Off 1,19). Im Todesjahr des Königs Ussija betrat der junge Jesaja den Tempel und sah den Herrn auf hohem und erhabenem Thron sitzen (Jes 6,1). Mose hatte das Gesicht des brennenden Dornbusches. Samuel hörte während der Nacht die Stimme des Herrn. Paulus wurde auf dem Weg nach Damaskus zu Boden geworfen, und Petrus fiel nach dem wunderbaren Fischzug dem Herrn zu Füssen mit den Worten: «Geh von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch, Herr!»
Bei der Berufung Hesekiels unterscheiden wir drei sich folgende Zustände:
- im ersten Kapitel sieht er die Herrlichkeit des Herrn:
- im zweiten Kapitel hört er seine Stimme,
- im dritten Kapitel wird er von seinem Wort genährt.
Erst dann konnte der Herr zu ihm sagen: «Geh hin» und ihn zum Wächter bestellen für das Haus Israel.
«Ihn sehen» (Hesekiel 1)
Wie war nun das Gesicht Hesekiels? Es war «das Aussehen des Bildes der Herrlichkeit des HERRN» (Vers 28). Eine wunderbare Vision, seltsam und sehr schwer zu beschreiben. Ohne Zweifel ist dies gewollt, denn damals war die Herrlichkeit Gottes noch nicht so offenbart wie später in der Person Christi (2. Kor 4,6).
Das Ganze gleicht einem fantastischen Wagen, dessen Räder auf der Erde sind. Über ihnen befinden sich die vier lebendigen Wesen, deren Flügel sich gegen die Ausdehnung erheben, die «wie der Anblick eines wundervollen Kristalls» das, was unten ist von dem, was oben ist, trennt. Oberhalb der Ausdehnung schaut der Prophet «die Gestalt eines Thrones» und oben darauf «eine Gestalt wie das Aussehen eines Menschen», der nicht anders beschrieben werden kann, als «wie das Aussehen von Feuer, und ein Glanz war rings um ihn». Diese Erscheinung hat man den «Wagen der Regierung Gottes» genannt.
In grossen Zügen beschreiben uns die Verse 4-14 die Cherubim (lebendige Wesen), die Verse 15-21 die Räder, die Verse 22-25 die Ausdehnung und das, was darunter war, die Verse 26 und 27 das, was oberhalb der Ausdehnung war: der Thron und «die Gestalt wie das Aussehen eines Menschen oben darauf».
Der Geist belebte alles, die Räder konnten sich nur durch den Geist des lebendigen Wesens bewegen. Der auf dem Thron sass, leitete das Ganze. Anders ausgedrückt: Auf der Erde sieht man die Räder, diese Regierung Gottes, die oft so seltsam und unbegreiflich ist, aber alles wird von oben geleitet. Alles, was in Israel und in der Welt zur Zeit Hesekiels geschah – wie auch in unserer jetzigen Zeit – war nicht die Auswirkung der Umstände oder der Pläne Nebukadnezars, sondern alles hing von dem Willen und dem Vorsatz dessen ab, der auf dem Thron sass und in Gerechtigkeit richtete (J.N.D.).
Das war die grosse Lehre, die der junge Prophet lernen musste, ehe er sein Amt beginnen konnte.
Die Cherubim
Als Wächter und Verteidiger der Heiligkeit Gottes, die sein Gericht ausführten, erscheinen die Cherubim (Hes 10,20) zum ersten Mal am Eingang zum Garten Eden, als der Mensch daraus vertrieben wurde (1. Mo 3,24). Sie gebrauchten die Flamme des kreisenden Schwertes, um den Weg zum Baum des Lebens zu bewachen.
Auf der Bundeslade breiteten zwei Cherubim ihre Flügel aus, ihre Angesichter auf den Sühndeckel1 (Heb 9,5) gerichtet. Was sahen sie auf diesem Deckel der Bundeslade? Das Blut, das der Hohepriester am Versöhnungstag dorthin gebracht hatte. Das Gericht Gottes, das also schon auf ein reines, makelloses Opfer gefallen war, wurde nicht noch einmal, mittels der Cherubim, an dem schuldigen Volk ausgeführt.
Auf dem Vorhang, der das Heilige vom Allerheiligsten trennte, waren Cherubim eingewoben, dadurch wurde betont, dass der Zugang zum Heiligtum verschlossen blieb. Dagegen gab es auf dem Vorhang zum Eintritt in den Vorhof1 keine solchen. Die breite Türe war für jeden Israeliten geöffnet, der sich dem kupfernen Altar mit einem Opfer nahte.
Im Tempel Salomos standen zwei Cherubim (1. Kön 6,23-28; 2. Chr 3,13). Ihre Angesichter waren gegen den Eingang des Hauses gerichtet, wie um die zu empfangen, die in dem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit herzunahen wollten.
In Offenbarung 4 und 5 finden wir sie schliesslich wieder in der Gestalt der vier lebendigen Wesen, die den Thron umgeben.
Ihre verschiedenen Angesichter – Löwe, Stier, Mensch und Adler – reden von den verschiedenen Seiten des Gerichts Gottes. Ein anderer charakteristischer Zug ist der, dass sie ringsum voll Augen waren (Hes 10,12). Die Regierung Gottes ist nicht blind, sie nimmt von allem Kenntnis und unterscheidet alles. So ist auch das Wort Gottes (Hebräer 4,12), und so stellt sich auch der Herr selbst vor im ersten Kapitel der Offenbarung: seine Augen sind wie eine Feuerflamme.
Die Räder (Verse 15-21)
Sie machen die untere Seite des Wagens aus, also jene, die sich auf der Erde bewegt. Auch sie sind voll Augen (Vers 18), in der Regierung Gottes geschieht nichts durch Zufall. Alles wurde durch den Geist des lebendigen Wesens belebt, der in den Rädern war (Vers 20), und dieser selbst durch den Geist Gottes (Vers 12).
Die Ausdehnung und der Thron (Verse 22-28)
Über den Häuptern und den Flügeln der lebendigen Wesen war das Gebilde einer Ausdehnung, «wie der Anblick eines wundervollen Kristalls», die in gewisser Hinsicht den Wagen auf der Erde von dem Thron im Himmel trennte.
Die Gesichte Hesekiels und die des Johannes in der Offenbarung decken sich in gewissem Mass hinsichtlich der vier lebendigen Wesen. Aber wie sehr unterscheiden sie sich in Bezug auf den Thron und den, der darauf sitzt! Hesekiel sieht nur die Gestalt eines Thrones und «eine Gestalt wie das Aussehen eines Menschen oben darauf … wie das Aussehen von Feuer, und ein Glanz war rings um ihn». Die Herrlichkeit Gottes war noch nicht offenbart. Als – in 2. Mose 24,10 – die siebzig Ältesten mit Mose auf den Berg Sinai stiegen, «sahen sie den Gott Israels», das heisst, nur was unter seinen Füssen war: «wie ein Werk von Saphirplatten und wie der Himmel selbst an Klarheit».
Unser Prophet sieht nicht viel mehr, obgleich er das Aussehen eines Menschen auf dem Thron unterscheidet. Wie viel wunderbarer ist das Gesicht des Johannes, in Offenbarung 5,6: «Und ich sah inmitten des Thrones und der vier lebendigen Wesen und inmitten der Ältesten ein Lamm stehen wie geschlachtet …» Zwischen dem Gesicht Hesekiels und dem des Apostels ist Gott im Fleisch offenbart worden. Das Lamm Gottes ist an den Ufern des Jordans gesehen worden, am Kreuz hat Er die Sünde der Welt weggenommen, der Vorhang ist zerrissen worden und der «Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi» hat in unsere Herzen geleuchtet (2. Kor 4,6). Die Erlösten, im Bild der Ältesten, sind in die Herrlichkeit eingetreten. Dort beten sie an, dort singen sie das neue Lied. Ohne Lamm keine Ältesten, ohne die Ältesten kein Lobgesang, denn nur die Erlösten singen.
Dennoch schliesst die Vision Hesekiels nicht nur mit dem Anblick von Feuer und dem Glanz der Herrlichkeit. Er sieht auch noch «den Bogen, der am Regentag in der Wolke ist» (Vers 28, vergleiche mit Off 4,3). Dieser Regenbogen erschien am Ende der Sintflut, als Zeichen dafür, dass Gott die Erde nicht mehr durch Wasser zerstören würde – ein Zeichen der Gnade, die sich wunderbar entfalten sollte, sobald die Fülle der Zeiten gekommen sein würde.
Was konnte der Prophet angesichts einer solchen Eröffnung anderes tun, als auf sein Angesicht niederfallen, wie viele andere es getan haben: Mose und Petrus, Johannes in der Offenbarung, Saulus von Tarsus auf dem Weg nach Damaskus?
«Ihn hören» (Hesekiel 2)
Vor der Aussendung muss man hören: «Ich will mit dir reden» (Hes 2,1). Es ist unmöglich, anderen die Worte des Herrn zu bringen, ohne sie selbst gehört zu haben. «Höre, was ich zu dir rede, sei nicht widerspenstig» (Hes 2,8). Die Menschen, an die sich Hesekiel richten wird, werden oft nicht auf ihn hören, aber «mögen sie hören oder es lassen», er musste seine Botschaft gleichwohl ausrichten. Der Sämann geht aus, um zu säen. Er weiss, dass einige Körner auf den Felsen, unter die Dornen, an den Weg fallen und keine Frucht bringen werden, aber er sät trotzdem. Wir wollen uns nicht entmutigen lassen, wenn nur ein Teil der verteilten Traktate zerrissen oder weggeworfen wird, oder wenn von den Menschen, um die man sich bemüht, einige sich abwenden und den Herrn Jesus ablehnen. «Du sollst meine Worte zu ihnen reden» (Hes 2,7), nicht deine eigenen Gedanken aussprechen oder was du für gut halten wirst, sondern das, was du zuerst von mir gehört hast.
Von ihm genährt werden (Hesekiel 3,1-3.10)
Es genügt nicht, zu hören, man muss auch essen. So sagt Jeremia: «Deine Worte waren vorhanden, und ich habe sie gegessen» (Jer 15,16). Berufen, das Volk zur Besitzergreifung Kanaans zu führen, sollte Josua Tag und Nacht über das Gesetz sinnen.
Was wir essen, baut unseren Körper auf. In geistlicher Hinsicht wird unsere innere Persönlichkeit dem entsprechen, was unseren Geist und unsere Seele genährt hat. Deshalb ist es von so grosser Wichtigkeit, dem Wort Gottes den ersten Platz zu geben. Nicht nur schnell einen Vers lesen, oder flüchtig auf das hören, was in der Versammlung gesagt wird, sondern sich selbst vom Wort Gottes nähren, und sich von diesem unsere Gedanken, Vorstellungen und unsere Betrachtungsweise bilden und in die richtige Bahn leiten lassen. Viele Diener des Herrn haben in ihrem Leben, für gewöhnlich in der Jugend, einen Zeitabschnitt gehabt, in welchem sie ihre ganze Lektüre auf das Wort Gottes konzentrierten, vielleicht sechs Monate, ein oder gar mehrere Jahre lang. Das ist die Grundlage eines gesunden Dienstes.
Wie wohltuend ist es, sich vom Wort zu nähren: «Sie (die Rolle) war in meinem Mund süss wie Honig» (Hes 3,3). Auch Jeremia sagt: «Deine Worte waren mir zur Wonne und zur Freude meines Herzens.» Johannes machte dieselbe Erfahrung, als er das Büchlein ass (Off 10,10). Nachher aber kam die Bitterkeit, als er an die Gerichte dachte, die über jene kommen, die dieses Wort ablehnen.
«Alle meine Worte, die ich zu dir reden werde, nimm in dein Herz auf», wiederholt der Herr dem Hesekiel (Hes 3,10), und betont damit, dass es kein anderes Mittel gibt, das uns berechtigt, zu anderen zu reden.
«Geh hin» – Der Wächter (Hesekiel 3,4-21)
Es geziemte sich nicht, dass Hesekiel sofort von seiner Vision sprach. Sieben Tage lang sass er betäubt da (Hes 3,15) und sann über das nach, was er gesehen und gehört hatte. Auch Paulus war in Damaskus drei Tage nicht sehend und ass nicht und trank nicht. Man beeilt sich nicht, von den tiefen Erfahrungen, die man mit dem Herrn gemacht hat, zu reden. Auch musste sich der Prophet mit seinem Volk auf die gleiche Stufe stellen: «Und dort, wo sie sassen, dort sass ich … in ihrer Mitte» – nicht über ihnen! (Hes 3,15).
Am Ende von sieben Tagen geschah das Wort des HERRN zu ihm, um ihm jetzt zu sagen: «Ich habe dich dem Haus Israel zum Wächter gesetzt», mit dem Auftrag, den Gottlosen zu warnen, damit er sich von seinem Weg abwende, oder den Gerechten, der sich verirrt hat. Welche Freude, wenn sie auf die Warnung hören; tun sie es nicht, ist der Diener seiner Verantwortlichkeit enthoben. Hat er sie aber nicht gewarnt, so wird der Gottlose wegen seiner Ungerechtigkeit sterben und der abgeirrte Gerechte wegen seiner Sünde … Doch welche Verantwortung liegt dann auf dem Diener!
«Der Geist kam in mich» (Hesekiel 3,24)
In Kapitel 2,2 und in Kapitel 3,24 wird dieser gleiche Ausdruck gebraucht. Im Alten Testament wurde der Heilige Geist nur vorübergehend gegeben, Er wohnte nicht im Gläubigen wie heute. Immerhin, ohne den Geist Gottes konnte man weder hören (Kap. 2) noch reden (Kap. 3). «Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist» erging das Wort des HERRN an Serubbabel (Sach 4,6). Nur der Geist Gottes kann das Wort auf unsere Gewissen und Herzen anwenden. Und nur Er kann der Verkündigung des Wortes Kraft verleihen, sei es in einer privaten Unterredung, mit Kindern, oder in der Versammlung. An uns liegt es, darauf zu achten, dass der Kanal nicht verstopft wird, der denen, die Durst haben, das lebendige Wasser zuführen soll. Haben wir uns wirklich vor Gott gerichtet und dem Herrn unsere Vergehungen bekannt, wird der Geist frei sein, um zu wirken, um uns in die Wahrheit zu leiten und um Kraft zum Zeugnis zu geben. Vergessen wir niemals das feierliche Wort des Herrn Jesu: «Ausser mir könnt ihr nichts tun» (Joh 15,5)
- 1 a b Siehe Artikel «Die Stiftshütte (6)» Halte fest 1960, Seite 153