Die Wasser des Heiligtums
Wir können diese Stelle von drei Gesichtspunkten aus betrachten.
- Ihre prophetische Auslegung kann sich auf das Materielle beziehen. Es ist sehr wohl möglich, dass der Fluss, von dem uns Hesekiel ein Bild gibt und den Joel (4,18) und Sacharja (14,8) erwähnen, in dem zukünftigen Palästina eine geographische Wirklichkeit wird.
- Die geistliche prophetische Bedeutung führt uns jedoch weiter: Jerusalem, als Sitz der Gegenwart Gottes auf der Erde, während des Reiches, wird für die ganze Welt zur Quelle des Segens; die Wasser der Gnade fliessen sowohl gegen Osten als gegen Westen hinab, um das Leben dorthin zu bringen, wo der Tod herrschte.
- Doch wir wollen uns besonders mit der praktischen Anwendung dieses Gegenstandes auf uns selbst beschäftigen.
Was stellen diese Wasser dar, «die aus dem Heiligtum hervor fliessen»? Sind sie nicht ein bemerkenswertes Bild der Gnade und der Liebe Gottes, die seinem Herzen entspringen und sich zum Segen für die Seinen und für die Welt immer weiter und tiefer ausbreiten?
Durch den Fluss gehen
Der Erlöste hat eine erste Erfahrung von der Gnade gemacht, wenn er zum Herrn gekommen ist und in Ihm seinen Heiland gefunden hat: «denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es» (Eph 2,8). In seiner letzten Botschaft ermahnt uns dann der Apostel Petrus, «in der Gnade zu wachsen» (2. Pet 3,18). Viele Christen begnügen sich damit, diesem Fluss entlang zu gehen, ohne ihn jemals zu durchschreiten. Doch nur die persönliche, praktische Erfahrung der Gnade kann uns zum Genuss ihrer Tiefe führen.
Nachdem der Prophet tausend Ellen abgeschritten hat, musste er durch die Wasser gehen – Wasser, die bis an die Knöchel der Füsse reichten. Das ist die Gnade in den verschiedenartigen Umständen des Lebens. Bei wie viel Gelegenheiten erfahren wir die Güte Gottes, seine Fürsorge, seine Befreiungen! So erlebte es Israel in der Wüste, wo trotz vierzigjähriger Wanderung sein Fuss nicht geschwollen wurde.
Doch soll man nicht dabei stehen bleiben. Hesekiel muss nochmals tausend Ellen gehen und aufs Neue durch die Wasser schreiten Wasser bis an die Knie. Das Wort spricht oft von wankenden Knien, von Knien, die zittern oder gelähmt sind. Begegnen wir auf dem Glaubenswege nicht auch Tagen der Entmutigung, wo wir müde werden und Angst haben? Was ist dann zu tun? Aufs Neue durch den Fluss gehen und die Erfahrung der Gnade Gottes machen, die allem entspricht, was wir sind und was wir nicht sind. Im Gebet auf den Knien den aufsuchen und finden, der immer bereit ist zu helfen, zu stärken und wiederherzustellen.
Der Prophet muss wieder tausend Ellen gehen und durch die Wasser schreiten, die jetzt bis zu den Hüften reichen. Auch im Neuen Testament wird von diesen Hüften oder Lenden gesprochen, die umgürtet sein müssen – ein Bild von unserem inneren Wesen, das durch das Wort der Wahrheit geformt und Tag für Tag erneuert werden soll. Es genügt nicht, die Gnade nur in Verbindung mit unseren täglichen Umständen oder nur als Hilfe in den Augenblicken der Entmutigung zu kennen. Sie muss unser inneres Leben durchdringen und unsere Persönlichkeit bilden. Welch eine Ausstrahlung geht von einer Person aus, die eine solche Erfahrung der Gnade Gottes gemacht hat und davon durchdrungen ist!
Da ist aber noch mehr. «Und er mass 1000 Ellen: ein Fluss, durch den ich nicht gehen konnte; denn die Wasser waren tief, Wasser zum Schwimmen.» In seinem Gebet, in Epheser 3,18.19, bittet der Apostel darum, dass «ihr völlig zu erfassen vermögt mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt sein mögt zu der ganzen Fülle Gottes.» Wenn wir in der Gnade und Erkenntnis des Herrn wachsen, wird uns bewusst, dass diese Gnade und diese Liebe grenzenlos ist. Man konnte ihre Tiefe geniessen, ihre Breite und ihre Länge staunend betrachten, sich in sie versenken, wie in einen gewaltigen Strom, aber er ist zu tief, um hindurchzudringen: die Liebe des Christus übersteigt jede Erkenntnis!
Der Fluss fliesst hinaus
Die Verse 6-12 stellen uns einen anderen Gegenstand vor Augen. Der Prophet wird an das Ufer des Flusses zurückgeführt: er stellt fest, dass diese tiefen Wasser in die Ebene hinabfliessen und ins Meer gelangen. Es ist kostbar, die Gnade des Herrn für sich selbst zu geniessen, aber die Gnade möchte sich ausbreiten, und der Segen, den man selbst erhalten hat, kann und soll anderen mitgeteilt werden. Der Herr Jesus sagt zu seinen Jüngern: «Umsonst habt ihr empfangen, umsonst gebt» (Mt 10,8). Sie hatten nur fünf Brote, aber Er sagt zu ihnen: «Gebt ihr ihnen zu essen!» Die Wasser fliessen hinaus … hinab … gelangen ins Meer und machen seine Wasser gesund. Das ist es, was den Weg der Gnade und auch den des Herrn selbst kennzeichnet: sein Pfad führte hinab, um die zu erreichen, «die da wohnen im Land des Todesschattens» (Jes 9,1) und ihnen das Leben zu bringen: «und alles wird leben, wohin der Fluss kommt» (Vers 9). Jesus hatte zu seinen Jüngern gesagt: «Ich werde euch zu Menschenfischern machen.» Reden «die Fische» in Vers 9 nicht von jenen Seelen, die aus dieser verdorbenen Welt herausgerettet und zum Herrn gebracht worden sind, um durch die Neugeburt die Erfahrung der ganzen Liebe Christi zu machen?
Die Bäume
An dem Ufer des Flusses standen sehr viele Bäume auf dieser und jener Seite (Vers 6). Das Gesicht Hesekiels gilt für die Erde. Stellen diese Bäume nicht die Gläubigen dar, die im Wort so oft mit einem Baum verglichen werden (Ps 1; Jer 17 usw.), dessen Wurzeln sich zum Wasser ausstrecken, damit sein Blatt nicht verwelkt und immer grün bleibt? Niemand sieht die Wurzeln, das verborgene Leben, das sich von der Gnade nährt. Aber jedermann sieht die Blätter: das Zeugnis eines Lebens mit dem Herrn, zum Segen anderer: «ihre Blätter dienen zur Heilung.» Auch Frucht wird hervorgebracht und das Volk Gottes empfängt Speise.
Der Lebensbaum
Beachten wir wiederum die Übereinstimmung der Visionen des Apostels Johannes mit denen des Propheten Hesekiel. In Offenbarung 22,1-2 spricht Johannes von dem Strom von Wasser des Lebens, glänzend wie Kristall, der hervorgeht aus dem Thron Gottes und des Lammes. Das Gesicht des Johannes ist für den Himmel. In der Mitte der Strasse der Stadt, da wo ihre Bewegung vor sich geht, und des Stromes – im Mittelpunkt von allem Erfrischenden – diesseits und jenseits, war der Baum des Lebens. Im Himmel sind es nicht mehrere Bäume, sondern dort ist der Baum: der Herr Jesus selbst. Seine immer frische und unaufhörlich erneuerte Frucht wird auf ewig die nähren, die dort oben seine Gegenwart geniessen. Und die Blätter des Baumes sind zur Heilung der Nationen, die unentbehrliche Hilfsquelle derer, die während des Tausendjährigen Reiches auf dieser Erde gesegnet sein werden.
Der HERR ist hier
Der letzte Vers im Buch Hesekiel lautet: «Und der Name der Stadt soll von nun an heissen: ‹Der Herr ist hier›» (Hes 48,35). Ist dies nicht die Zusammenfassung des ganzen Buches, das Endergebnis, das einzige, das wirklich Wert hat: die Gegenwart Gottes inmitten des endlich vereinigten Volkes? In der Stiftshütte und im Tempel Salomos war es die Wolke; im Tempel Hesekiels ist es die zurückgekehrte Herrlichkeit: Israel ist dann gesegnet aufgrund der Verheissungen. Für uns ist es die Erscheinung des Herrn Jesu im Obersaal am Abend der Auferstehung; seine Gegenwart, die genossen wird inmitten der Seinen, die während seiner Abwesenheit zu seinem Namen hin versammelt sind. Eine Gegenwart, die auch persönlich im Herzen verwirklicht wird: «Christus lebt in mir … Christus in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.» Und endlich seine ewige unverhüllte Gegenwart an jenem glückseligen Tag, wo alle seine Gedanken erfüllt sind und Gott alles in allem sein wird.