Die nationale Auferstehung Israels
Hesekiel gibt uns, im Gegensatz zu anderen Propheten, nur ein gedrängtes Bild der Tatsachen, die zur Wiederherstellung Israels als Volk in seinem Land führen, ohne auf die Übungen und Prüfungen einzugehen, die sie begleiten.
Hesekiel 37,1-14 ist einer der am besten bekannten Teile des Buches: das Gesicht der verdorrten Gebeine. Der Prophet sieht eine grosse Talfläche voller Gebeine, die sehr verdorrt waren. Er wird aufgefordert, über sie zu weissagen, und sobald er es tut, rücken die Gebeine zusammen, es kommen Sehnen, Fleisch und Haut über sie, doch sind sie noch nicht lebendig. Eine zweite Prophezeiung war nötig, damit der Geist Gottes diese Getöteten durchdringe und sie lebendig mache – ein überaus grosses Heer.
Die Auslegung gibt uns der Herr selbst: «Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel» (Vers 11). Der HERR wird sie aus ihren Gräbern (alle Nationen, unter die sie zerstreut waren) herauskommen lassen und sie in ihr Land bringen (Vers 12).
Diese Wiederherstellung wird in drei Etappen stattfinden. Zuerst rücken die Gebeine zusammen, dann werden sie mit Sehnen, Fleisch und Haut bedeckt. Aber das Leben ist noch nicht da. Es ist nur eine politische Bewegung, eine nationale Sammlung, von der wir die ersten Umrisse vielleicht im Zionismus sich abzeichnen sahen, und dann in der Bildung des Staates Israel in den letzten Jahrzehnten.
Die Prophezeiung in Jesaja 18 scheint mit der von Hesekiel 37 parallel zu laufen. Unter der Führung einer grossen Seemacht, ausserhalb des prophetischen Landes (Jes 18,1.2), wird das zerstreute Israel, zum Erstaunen der Welt, berufen, um in sein Land zurückzukehren: Die Posaune zur Sammlung ertönt (Jes 18,3). Aber dies geschieht ohne den Herrn (Jes 18,4). Auf diese teilweise und unsichere Rückkehr wird ein Zeitabschnitt grosser Verwüstung folgen Jes 18,6): Man hatte gehofft, ohne Gott zum Wohlstand zu kommen (Jes 18,5). Als Folge dieser Drangsale «an jenem Tag» wird das Volk endlich zum HERRN und zu seinem Heiligtum umkehren (Sach 12). Erst dann wird sich der zweite Teil des Gesichtes von Hesekiel erfüllen, der Odem des Herrn in das überaus grosse Heer kommen und sie lebendig machen können. Das ist das Werk des Hirten, im 34. Kapitel, und das des Geistes Gottes, der die Wiedergeburt durch das Wort hervorbringt, in Kapitel 36.
Aber Hesekiel beschäftigt sich nicht mit diesem Zeitabschnitt der Prüfungen, noch mit den Beziehungen Israels zum Westen, mit dem Tier und der grossen Drangsal. Er gibt nur die Zusammenfassung der nationalen Auferstehung vom Augenblick des Zusammenrückens der Gebeine an, bis zu jenem Tag, an dem Israel, in Verbindung mit seinem Gott, wieder in seinem Land wohnen wird.
Diese vor mehr als zweitausendfünfhundert Jahren ausgesprochene Prophezeiung ist höchst bemerkenswert. Während langer Zeit, seit den Kirchenvätern und im Protestantismus im Allgemeinen, hat man sie als die Wirksamkeit des Evangeliums ausgelegt, das den Toten das Leben geben und aus ihnen das geistliche Volk Gottes bilden würde. Als die durch den Geist Gottes belehrten Ausleger des 19. Jahrhunderts begriffen, dass es sich hier um Israel handeln müsse – selbst wenn man ein solches Kapitel auch aufs Evangelium anwenden könnte – so war doch damals kein äusseres Anzeichen vorhanden, dass sich die Prophezeiung erfüllen würde. Heute ist dies nicht mehr so, denn die Ereignisse, die sich seit einigen Jahren vor unseren Augen abspielen, bestätigen in auffallender Weise das, was Hesekiel angekündigt hat.
Es ist klar, dass wir nur ein Vorspiel erleben und dass noch viele umwälzende Ereignisse und Trübsale eintreten werden, bis sich die Gesamtheit der Prophezeiung erfüllt. Ebenso klar ist auch, dass der Herr Jesus zuerst kommen wird, um seine Versammlung zu sich zu nehmen, «vor der Stunde der Versuchung, die über den ganzen Erdkreis kommen wird» (Off 3,10), besonders vor der grossen Drangsal, die über Israel hereinbrechen wird. Die viel vollständigeren Enthüllungen, die Johannes in der Offenbarung gegeben wurden, zeigen uns dies.
Die Wiedervereinigung der zwölf Stämme
Ein wichtiger Punkt blieb noch abzuklären. Seit dem Tod Salomos war Israel in zwei Teile gespalten: Juda und Benjamin unter dem Haus Davids, die übrigen zehn Stämme unter der Führung von Ephraim mit verschiedenen, aufeinanderfolgenden Königen. Alle Anstrengungen, um die Stämme wieder zu vereinigen, waren gescheitert. Wird die angekündigte nationale Wiederherstellung nur die dem Haus Davids treu gebliebenen Stämme vereinigen, oder wird ganz Israel gesammelt werden? Hesekiel 37,15-28 gibt eine klare Antwort darauf: Nicht nur Juda und seine Genossen werden in ihr Land zurückgeführt, sondern auch Ephraim und die Stämme Israels. «Sie werden allesamt einen König haben … Sie sollen nicht mehr zu zwei Nationen werden … Sie werden sich nicht mehr verunreinigen durch ihre Götzen … Sie werden allesamt einen Hirten haben … Und sie werden wohnen in dem Land … Und ich werde einen Bund des Friedens mit ihnen schliessen, ein ewiger Bund wird es mit ihnen sein … Und meine Wohnung wird über ihnen sein»: ein Heiligtum, das von Kapitel 40 an beschrieben wird.
Hesekiel sagt uns nichts über das Kommen des Herrn Jesus in Herrlichkeit. Er stellt nur fest, dass Er da ist: der König, mein Knecht David, der eine Hirte. Israel wird wissen, wer der HERR ist. Alle Nationen werden Ihn erkennen. Ist es nicht kostbar, auf diese Weise die Prophezeiung Jesajas sich erfüllen zu sehen: «So spricht der HERR … zu dem von jedermann Verachteten, zum Abscheu der Nation, zum Knecht der Herrscher: Könige werden es sehen und aufstehen, Fürsten, und sie werden sich niederwerfen um des HERRN willen, der treu ist» (Jes 49,7).