2. Psalm 102
Die tiefste Erniedrigung des Heilands
«Gebet eines Elenden, wenn er verschmachtet und seine Klage vor dem HERRN ausschüttet» (Vers 1).
Wir wollen uns zuerst fragen: Lieben wir den Herrn Jesus wirklich? Wie lieben wir Ihn? Wenn die Betrachtung dieses Psalms uns dazu führt, Ihn besser kennenzulernen, Ihn mehr zu lieben, dann wird Er dadurch verherrlicht werden.
- Die Verse 2-12,24-25a unterstreichen seine Erniedrigung, seine Einsamkeit. Fünfmal lesen wir vom «Tag». Sie offenbaren uns die innersten Gedanken, die der Herr Jesus auf seinem ganzen Leidensweg hier auf der Erde und im Hinblick auf das Kreuz hatte.
- Die Verse 13-23 drücken die «vor ihm liegende Freude» aus (Heb 12,2), eine Sammlung von Segnungen, sowohl für die Juden als auch für die Nationen.
- Die Verse 25b-29 bringen die göttliche Antwort: Es ist von «Jahren» die Rede. Wir finden die Verse in Hebräer 1,10-12, auf den Sohn angewandt, fast wörtlich wieder, was uns erst recht die Gewissheit gibt, dass Er es ist, den wir in diesem Psalm vor allem betrachten.
a) Die Tiefe seiner Erniedrigung in unvergleichlicher Traurigkeit (Verse 2-12)
Beachten wir, dass im ersten Vers, im Gegensatz zu vielen anderen Psalmen, weder ein Autor noch eine Anleitung zum Gesang erwähnt wird.
Die Verse 2 und 3 sind ein Schrei der Bedrängnis, wenn die Worte fehlen, um sie auszudrücken: «an dem Tag, da ich rufe, erhöre mich eilends!» Es ist nicht das Gebet eines Elenden, sondern des Elenden. (Siehe den ersten Vers dieses Psalms in der französischen und englischen JND-Übersetzung.) Sehr wahrscheinlich hat der Schreiber des Psalms nicht verstanden, um wen es ging. Betraf es ihn selbst oder einen Elenden unter seinen Bekannten? Wie Hebräer 1 es bestätigt und Jesaja 53 in Einzelheiten vorstellt, hatte der Geist Gottes aber ohne Zweifel den im Auge, der niedergebeugt und misshandelt wurde, von dem es heisst, dass es dem HERRN gefiel, Ihn zu zerschlagen und Ihn leiden zu lassen.
Der Elende «schüttet seine Klage vor dem HERRN aus», nicht vor den Menschen. Welch ein Beispiel für uns, die wir uns mit unserer Klage so leicht an den einen oder andern wenden, um vielleicht bei einem Bruder, einer Schwester oder einem Verwandten etwas Trost zu finden, dabei aber vor allem mit uns selbst beschäftigt bleiben. Und was noch schlimmer ist, man kann gemäss Psalm 42,5 «seine Seele in sich ausschütten», sich ungeduldig quälen, in seinem Geist alles, was einem beschäftigt, drehen und wenden, ohne damit fertig zu werden. In Psalm 62,9 fordert der Psalmist das Volk auf, allezeit auf Gott zu vertrauen, «schüttet Herz vor ihm aus! Gott ist unsere Zuflucht». In 1. Samuel 1,15 schüttet Hanna, deren Geist beschwert war, ihre Seele vor dem HERRN aus. Handeln wir auch so, anstatt unsere Klagen in unserer Umgebung auszubreiten?
In unserem Psalm bringt der Sohn die Klage aus seinem Innersten vor den Vater. Die Antwort wird ab Vers 26 folgen. Aber dieses Zwiegespräch übersteigt unser Fassungsvermögen. Es wird vor unsere Herzen gestellt, damit wir ein wenig in die Tiefe der Leiden unseres Heilands eindringen, mit aller Ehrfurcht und gebührendem Abstand. Wir finden hier weder Murren noch Auflehnung; die Leiden werden aufs schmerzlichste empfunden, aber angenommen.
Die Verse 4-6 scheinen seine körperlichen Leiden zu beschreiben: «meine Gebeine glühen … versengt und verdorrt ist mein Herz … mein Gebein klebt an meinem Fleisch».
Die Verse 7 und 8 heben seine Einsamkeit hervor: «Ich gleiche dem Pelikan der Wüste», diesem unreinen Tier der Trümmer von Ninive, die nach dem Gericht aufgetürmt waren. Pelikane lagerten auf den Säulenknäufen dieser Stadt, die dürr geworden war wie die Steppe (Zeph 2,13.14). Von Babel prophezeit Jesaja: «Es wird niemals bewohnt werden … Aber Wüstentiere werden dort lagern, und ihre Häuser werden voller Uhus sein» (Jes 13,20.21) – die Eule der Einöden (Ps 102,7).
Die Vögel (eigentlich Sperlinge) fliegen gewöhnlich in Scharen aus, lassen sich im Orient auf den Flachdächern nieder, wo die Bewohner des Hauses in der Abendkühle miteinander plaudern. Hier aber ist der «Elende» einsam auf dem Dach; er wacht. Man muss selbst eine anhaltende Einsamkeit erlebt haben, um ein wenig zu verstehen, was das für unseren Herrn bedeutet hat.
In der Einsamkeit, was immer der Grund dafür sein mag, kann man sich zu Gott wenden, in Ihm seine Zuflucht suchen, aber auch sich selbst vergessen und an das Volk Gottes denken! Wie viele Menschen um uns her leiden unter der Einsamkeit, weil sie jemand durch den Tod verloren haben, wegen Krankheit oder Alter, oder auch weil sie von Angehörigen, die den Herrn nicht kennen, mit denen sie aber zusammenleben, unverstanden sind. An die andern denken, an die Bedürfnisse der Kinder Gottes um uns her, das wird die Erleichterung bringen, die der nicht kennt, der sich auf sich selbst konzentriert. Und vor allem ist es das Wort Gottes selbst, wenn man es liest, es in seinem Herzen aufnimmt und darüber sinnt, das uns diese «Ermunterung der Schriften» bringt (Röm 15,4), die wie die Stimme aus der Höhe zu uns kommt. Sagt der Herr Jesus durch den Propheten nicht selbst: «Der Herr, HERR, hat mir eine Zunge der Belehrten gegeben, damit ich wisse, den Müden durch ein Wort aufzurichten» (Jes 50,4)? Dann wird man in einem gewissen Mass diese Gemeinschaft im Herrn erfahren, von der Er selbst sagen konnte: «Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir» (Joh 16,32). Aber für Ihn allein gab es die Stunden der Sühnung unter dem Gericht Gottes, weil Er für uns zur Sünde gemacht wurde. Der Ausruf des Propheten ist Wirklichkeit geworden: «Wenn ich auch schreie und rufe, so hemmt er mein Gebet» (Klgl 3,8).
«Denn wie Rauch entschwinden meine Tage … Meine Tage sind wie ein gestreckter Schatten» (Verse 4,12). Im Johannes-Evangelium sehen wir von Kapitel 10 an, wie der Schatten des Kreuzes auf seinem Weg von Kapitel zu Kapitel deutlicher wird: «Ich lasse mein Leben für die Schafe» (Joh 10,15); «… dass Jesus sterben sollte … damit er auch die zerstreuten Kinder Gottes in eins versammelte» (Joh 11,51.52). «Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein» (Joh 12,24). «Jetzt ist meine Seele bestürzt, und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen.» «Dies aber sagte er, andeutend, welchen Todes er sterben sollte» (Joh 12,27.33). «Seine Stunde war gekommen, dass er aus dieser Welt zu dem Vater hingehen sollte» (Joh 13,1).
«Den ganzen Tag verhöhnen mich meine Feinde» (Vers 9). Welche Verhöhnung sehen wir durch die Evangelien hindurch: «Du hast einen Dämon (viermal) … Du bist ein Samariter … Da hoben sie Steine auf, um auf ihn zu werfen … Wir wissen, dass dieser Mensch ein Sünder ist … Wegen eines guten Werkes steinigen wir dich nicht, sondern wegen Lästerung …» Das lesen wir alles im Johannes-Evangelium, wo uns der Sohn Gottes vorgestellt wird, dessen Heiligkeit und Ehre die Engel verkündigt hatten!
Das Verlassensein von Gott (wenn Er zur Sünde gemacht werden würde) steht im Voraus vor Ihm und lässt Ihn empfinden: «Denn Asche esse ich wie Brot, und meinen Trank vermische ich mit Tränen vor deinem Zorn und deinem Grimm …» (Verse 10,11). Der Sohn wendet sich an den Vater: «Du hast mich emporgehoben»; das finden wir in Sprüche 8,22-30: «Tag für Tag war ich seine Wonne, vor ihm mich ergötzend allezeit …» Und Er musste «hingeworfen» werden: «Was ist es anderes, als dass er auch hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde?» (Eph 4,9).
b) «Der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete und sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones Gottes» (Heb 12,2) (Verse 14-23)
«Denn es ist Zeit, es zu begnadigen, denn gekommen ist die bestimmte Zeit» (Vers 14). Diese Gnade gilt in erster Linie Zion, dem wiederhergestellten Israel, aber auch den Nationen und allen Königen der Erde (Vers 16). Wenn der HERR Zion aufbauen wird, wird Er in seiner Herrlichkeit erscheinen (Vers 17); damit man den Namen des HERRN verkündige in Zion (Vers 22); aber auch «die Völker werden sich allesamt versammeln, und die Königreiche, um dem HERRN zu dienen»: die Segnung des Reiches (Vers 23).
Inmitten der Leiden hebt der Herr gewissermassen seine Augen auf und blickt in eine Zukunft, die das Ergebnis des Werkes am Kreuz sein wird. Alle diese Freuden sind vor Ihm: die Ruhe, sitzend zur Rechten Gottes; die Segnung für die Erde, mit Zion als Mittelpunkt; die Segnung der Nationen; das Lob in Jerusalem und das Versammeltsein der Völker, um dem HERRN zu dienen. «Ein Volk, das erschaffen werden soll, wird Jah loben. Denn er hat herabgeblickt von der Höhe seines Heiligtums; der HERR hat herabgeschaut vom Himmel auf die Erde, um zu hören das Seufzen des Gefangenen, um zu lösen die Kinder des Todes» (Verse 19-21). Jesaja 53 fügt hinzu: «Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.»
Die heilige Stadt «bedarf nicht der Sonne noch des Mondes, damit sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes hat sie erleuchtet, und ihre Lampe ist das Lamm. Und die Nationen werden durch ihr Licht wandeln, und die Könige der Erde bringen ihre Herrlichkeit zu ihr» (Off 21,22-24).
c) Der Blick in die Zukunft verschwindet, die Aussicht auf den Tod ist da (Verse 24-26a)
«Er hat meine Kraft gebeugt auf dem Weg, hat verkürzt meine Tage. Ich sprach: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage!» «Die Hälfte meiner Tage»: In seiner vollkommenen Menschheit, «in allem den Brüdern gleich geworden», empfindet Er schmerzlich, was es bedeutet, mit etwa 33 Jahren durch einen qualvollen Tod hinweggenommen zu werden. Dieses Los war für ganz andere vorgesehen: «Die Männer des Blutes und des Truges werden nicht zur Hälfte bringen ihre Tage» (Ps 55,23). Und Er musste da hindurchgehen
d) Die göttliche Antwort (Verse 25b-29)
Die Stimme des Elenden ist im 25. Vers wie abgeschnitten, und Gott selbst spricht zu seinem Sohn.
Der Elende hat die Kürze seiner «Tage» empfunden. Die Antwort von oben spricht von Jahren:
«Von Geschlecht zu Geschlecht sind deine Jahre.» Er ist der Schöpfer, der einst die Erde gegründet hat, und die Himmel sind seiner Hände Werk; und doch: «Sie werden untergehen, du aber bleibst … Du aber bist derselbe, und deine Jahre enden nicht.»
«Du bist derselbe», der ewig Seiende, unwandelbar in sich selbst. Unser Leben ist nur «ein Dampf, der eine kleine Zeit sichtbar ist und dann verschwindet» (Jak 4,14). Selbst die Erde und die Himmel, Werke seiner Hände, werden untergehen und verwandelt werden. «Du aber bleibst» (Heb 1,11).
Bei einem Aufstand in China waren alle Gebäude der China-Inland-Mission von den Rebellen zerstört worden. Eine unserer Schwestern, die bewahrt geblieben war, besuchte mit einer Freundin zusammen die Station. Sie erkannte hier noch einen Saal, dort einen Ort, wo sie jeweils hindurchgegangen war, ein Stück Mauer hier, die Überreste einer Türe dort. Da erblickt sie durch eine Öffnung, dass auf der gegenüberliegenden Wand diese Worte stehengeblieben waren: «Du aber bleibst»! (dem Buch von E. Junod entnommen: «Sur les bords du Fleuve Bleu»).
Kurz nach dem letzten Weltkrieg habe ich mit einem Freund die Trümmer im Zentrum von London besucht. Da kamen wir vor ein Haus, das bis zum Erdgeschoss hinunter zerstört war. Eine Eingangstüre stand noch und auf ihrem Türsturz hatten die einstigen Bewohner den Vers aus 2. Korinther 5,1 eingraviert: «Denn wir wissen, dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir einen Bau von Gott haben, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, ein ewiges, in den Himmeln»!
«Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit» (Heb 13,8). Aber Er wird nicht allein sein: «Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt, bringt es viel Frucht.» Davon zeugt der letzte Vers unseres Psalms: «Die Söhne deiner Knechte werden wohnen, und ihre Nachkommen werden vor dir feststehen» (Vers 29). Wer sind diese Knechte, dieses Volk, das erschaffen werden soll (Vers 19), diese befreiten Gefangenen (Vers 21), wenn nicht jene, Juden und Nationen, die durch die Gnade errettet worden sind, durch den Glauben an Den, der für sie so viel gelitten hat, bis zur Hingabe seines Lebens am Kreuz.