Christus in den Psalmen (5)

Psalm 16

II. Die Herrlichkeiten danach

Die Psalmen, die wir jetzt betrachten werden, reden von der Herrlichkeit. Was ist das, die Herrlichkeit? Im Gedanken an uns selbst sagte ein Christ des 19. Jahrhunderts: «Die Herrlichkeit wird sein: zu sehen» (1. Kor 13,12).

Wenn es aber um Gott geht, kann man wohl sagen: Seine Herrlichkeit ist die Ausgiessung seiner Vollkommenheiten. Als Mose zum HERRN sagte: «Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen!», antwortete Gott: «Nicht kann ein Mensch mich sehen und leben» (2. Mo 33,18-20). Gott tut aber doch etwas Herrliches gegenüber Mose: Er stellt ihn in die Felsenkluft und lässt all seine Güte, seine Gnade und sein Erbarmen an ihm vorübergehen. Und Mose sieht von hinten etwas Wunderbares, eine Spur, die nicht verwischt wird.

Für uns ist die Herrlichkeit nicht unerträglich. Wir erreichen sie auf dem Weg der Gnade. Die Felsenkluft spricht von dem Werk Christi zu uns. Durch dieses Werk werden wir zunehmend weitergeführt, bis zu dem «aufgedeckten Angesicht» (2. Kor 3,18). Kraft des Geistes, der uns in den Schriften unterweist, werden wir von Angesicht zu Angesicht mit dem gebracht, der sie erfüllt, und, zur Zeit noch im Geist, bald aber in Wirklichkeit, werden wir Ihn und Er wird uns betrachten.

5. Psalm 16

Die moralische Herrlichkeit des Herrn Jesus (V. 1-8)
Nach der Vollkommenheit seines Lebens, die Auferstehung und die Herrlichkeit (V. 9-11)

Bei der Einführung der Opfer in 3. Mose folgt auf das Brandopfer das Speisopfer (3. Mo 2), und darauf bezieht sich Psalm 16. Das ist die göttliche Ordnung. Wir werden daher jetzt die moralische Herrlichkeit des Lebens des vollkommenen Knechtes betrachten.

Psalm 22 hat uns in einem gewissen Mass die Empfindungen unseres Herrn am Kreuz mitgeteilt. Psalm 16 zeigt uns die verborgenen Quellen seiner Seele während seines Lebens auf dieser Erde, da Er als ein Mensch, als der vollkommene Knecht, gesehen wurde, damit wir darüber nachsinnen und zur Anbetung geführt werden.

Unser Text antwortet gewissermassen auf eine Frage, die in Psalm 15,1 gestellt wurde: «HERR, wer wird auf deinem heiligen Berg wohnen?», oder anders gesagt: Wer kann sich in der Gegenwart Gottes aufhalten? Vers 2 gibt die Antwort: «Der in Lauterkeit wandelt und Gerechtigkeit wirkt.» In Psalm 14,3 hatte der HERR vom Himmel auf die Menschenkinder herabgeschaut und festgestellt: «Da ist keiner, der Gutes tut, auch nicht einer.» Nun ist es, als ob Er in Psalm 16 sagen würde: Doch, es gibt einen: Ich habe Ihn vom Himmel aus beobachtet und an Ihm mein ganzes Wohlgefallen gefunden.

Betrachten wir nun einige Strahlen der moralischen Herrlichkeit unseres Herrn, als Er hier auf der Erde gesehen wurde. In völliger Abhängigkeit hat Er die Stellung eines Menschen vor Gott eingenommen.

Man könnte sich fragen, ob dieser Psalm sich wirklich auf den Herrn Jesus beziehe, wenn hier steht: «Bewahre mich, Gott, denn ich suche Zuflucht bei dir!» Durch den Glauben wird man vor äusseren Umständen, vor Angriffen des Feindes, vor sich selbst bewahrt. Es ist offensichtlich, dass unser Herr nicht nötig hatte, in dieser Weise bewahrt zu werden. In der Vollkommenheit seines Wesens befahl Er den Elementen; seine Feinde wichen zurück, als Er sagte: «Ich bin es»; und wie man schon gesagt hat, gab es in Ihm kein fleischliches «Ich».

Tatsächlich nimmt Er in diesem Psalm freiwillig seinen Platz als Mensch ein und unterwirft sich seinem Gott. In dieser Stellung richtet Er sich nicht an den Vater, sondern an Gott. Es ist die vollkommene Haltung eines Menschen vor seinem Gott. Er bringt seine Abhängigkeit durch das Gebet zum Ausdruck (V. 1). Wenn es darum geht, seine Jünger auszuwählen, vor allem die Wahl des Jüngers, der Ihn überliefern würde, so sehen wir, dass «er die Nacht im Gebet zu Gott verharrte» (Lk 6,12).

Sollten noch irgendwelche Zweifel bestehen, ob sich dieser Psalm 16 im Wesentlichen auf den Messias bezieht, genügte es, Apostelgeschichte 2 zu beachten. Dort führt der Apostel Petrus ihn an, indem er die Worte Davids hervorhebt, die sich in den Versen 8-11 auf Christus beziehen.

Im 2. Vers sehen wir, wie Er sich in dieser freiwillig eingenommenen Stellung als Mensch gewissermassen seinem Gott unterwirft, ohne irgendein Vorrecht zu beanspruchen: «Du bist der Herr.» In den Evangelien lesen wir von einem Obersten, der zu Ihm kommt und Ihn mit «guter Lehrer» anspricht. Und der Herr Jesus antwortet Ihm in aller Demut: «Niemand ist gut, als nur einer, Gott» (Lk 18,18.19). Der Jüngling setzt den Herrn Jesus auf das Niveau der Menschen herab, und Er selbst akzeptiert diese Stellung.

In Vers 3 nimmt Er den Platz mit denen ein, die Er die «Heiligen, die auf der Erde sind,» nennt. In den Evangelien ist es die Szene, wo der Herr Jesus aus Galiläa an den Jordan kommt und jene Menschen zu Johannes kamen, die Buße taten und ihre Sünden bekannten. Hatte Er, der Reine und Heilige, wirklich nötig, den Platz in ihrer Mitte einzunehmen? Johannes wehrte Ihm, aber Er sprach zu Johannes: «So gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.» In der Stellung als Mensch, die Er eingenommen hatte, war es gerecht, dass Er sich mit denen verband, die eine solche Haltung vor Gott einnahmen.

Der vollkommene Mensch zeigt noch eine weitere Herrlichkeit, der Er vollkommen entspricht: die Treue (V. 4). Er trennt sich moralisch vollständig von jenen, «die einem anderen nacheilen» (dem Antichristen) und Er verbindet sich in keiner Weise mit ihren gottesdienstlichen Gebräuchen. In den Evangelien erhebt Er mehr als einmal seine Stimme zu seinem Vater. Als der Teufel Ihn versuchte und Ihm alle Reiche der Welt anbot, antwortete Er: «Es steht geschrieben: ‹Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen›» (Mt 4,10).

In den vorher betrachteten Psalmen haben wir gesehen, wie viel der Herr hier auf der Erde gelitten hat. Aber in den Versen 5 und 6 erkennen wir in seinem innersten Wesen Empfindungen der Befriedigung darüber, dass Er «den HERRN als das Teil seines Erbes und seines Bechers» hat. Er beschwert sich nicht über sein tägliches Los der Leiden. Als Er auf dieser Erde war, gab es im Verborgenen seiner Seele etwas, das alle irdische Herrlichkeit, die Er hätte haben können, unendlich weit überstieg: Er hat den HERRN als sein Teil. Für die Gegenwart genügt Ihm das.

Natürlich hatte Er in sich selbst alle Erkenntnis. Er war die Weisheit; und doch lässt Er sich als abhängiger Mensch unterweisen: «Der HERR … der mich beraten hat», sogar bei Nacht. In der Rechtschaffenheit seines Herzens kann Er sagen: «Ich habe den HERRN stets vor mich gestellt.» Das erinnert uns an Johannes 8,28, wo bestätigt wird: «Ich tue nichts von mir selbst, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich.» In Johannes 14,31 bestätigt Er: «Ich tue so, wie mir der Vater geboten hat.» Sowohl in seinen Worten wie in seinen Taten hat Er nur eines vor sich: einen vollkommenen Gehorsam.

Was ist die Antwort auf all diese Abhängigkeit, dieses Vertrauen? Was ist das Ergebnis dieser Gemeinschaft? – Es ist die Freude des Herzens: «Darum freut sich mein Herz und frohlockt meine Seele» (V. 9). Geht es um seine Seele, so weiss Er, dass sie nicht dem Scheol gelassen wird. Geht es um seinen Leib, so hat Er keinen Zweifel darüber, dass dieser der Verwesung nicht anheimfallen wird (V. 10).

Wenn Er über den Tod hinausblickt, sieht Er die Auferstehung und bis in die Herrlichkeit Gottes. Sein Herz freut sich schon. Dieses Herz war betrübt und verwundet worden; es war zerschmolzen. In jenem Augenblick stand der Kelch vor Ihm, den der Vater Ihm zu trinken gab, das Verlassensein am Kreuz; seiner heiligen Seele konnte dies nur tiefe Leiden verursachen. Trotzdem vertraut Er sich als Mensch Gott an. Er hatte in sich selbst die Macht zur Auferstehung. Aber in dieser Stellung als Mensch, die Er eingenommen hat, besitzt Er die Gewissheit, dass sein Gott Ihn nicht dem Scheol lassen, dass Er die Verwesung nicht sehen werde. Der Vater betrachtet gewissermassen vom Himmel aus den leblosen Leib seines geliebten Sohnes. Er trägt Sorge dafür bis zum herrlichen Tag, von dem es heisst: «Du wirst mir kundtun den Weg des Lebens.»

Sein Weg wird durch die «Grube» und durch den «kotigen Schlamm» führen, aber im Leben enden. In Apostelgeschichte 2,28 wird er zu «Wegen des Lebens», zu Wegen, die das Teil aller Erlösten sein werden, für die Er sich selbst hingegeben hat. Er ist für sie «der Anfänger und Vollender des Glaubens», «der Erstling» der Auferstehung. Sein Weg des Lichts und der Heiligkeit, auf dem Er den Vater verherrlicht hat, führt Ihn in die Herrlichkeit, wohin Ihm alle, die Ihm angehören, folgen werden.

Das Angesicht, das sich in der Nacht von Golgatha von Ihm abgewandt hatte, wird zu einer Fülle von Freuden: Es sind «Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar».