4. Psalm 22
Die bisher betrachteten Psalmen haben von den Leiden des Herrn auf den verschiedenen Etappen seines Weges bis nach Gethsemane und, wie es scheint, während der ersten Stunden am Kreuz gesprochen. Dieser Psalm aber geht bis zu den Tiefen der drei Stunden der Finsternis, als Er zwischen Himmel und Erde hing. In diesen Stunden sah die kleine Gruppe, die sich am Fuss des Kreuzes eingefunden hatte, «von weitem» zu (Mk 15,40). Und uns gebührt es, mit aller Zurückhaltung und Nüchternheit zu versuchen, mit dem Herzen ein wenig auf die Empfindungen einzugehen, die den Herrn Jesus in jenen schrecklichen Stunden bewegten. Mose hatte angesichts des brennenden Dornbusches seine Schuhe ausziehen müssen (2. Mo 3,5); desgleichen Josua, als der Oberste des Heeres des HERRN vor ihm stand (Jos 5,15). Wie viel mehr geziemt sich für uns alle Ehrfurcht und Anbetung angesichts der Bedrängnis der Seele unseres Heilands, der Qualen und Pein, die Er wegen der Grausamkeit der Menschen empfand, und besonders angesichts der Unerbittlichkeit eines heiligen und gerechten Gottes, als Er für uns zur Sünde gemacht wurde.
Mit Zurückhaltung können wir in einem solchen Psalm die Tragödie des Kreuzes von fern betrachten. Die Frauen, die sich etwas zurückgezogen hatten, konnten die Gedanken des Herrn, als Er so am Kreuz hing, nicht kennen; sie sahen auch nicht, wohin Er seinen Blick wandte, und was Er schliesslich durch das Verlassensein von Gott litt.
Das Werk, das wir hier vor uns haben, wurde vor bald zweitausend Jahren vollbracht. Von allem beraubt – selbst der Kleider –, muss Er vom Kreuz herab klagen: «Ich aber bin ein Wurm und kein Mann» (V. 7); ein Wurm, den man leicht zertritt, der, von allem entblösst, auf der Erde kriecht: Das war unser Heiland. Im Gegensatz dazu sagt uns Psalm 23, was Er jetzt ist, und wir dürfen mit dem Psalmdichter wiederholen: «Mir wird nichts mangeln.» Psalm 24 spricht von der Zukunft: von der Herrlichkeit, die Er auf der Erde haben wird, die ausgerufen und öffentlich anerkannt werden wird.
Dann wird gesagt werden können: «Des HERRN ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen» (Ps 24,1).
In Psalm 22 sehen wir den Hirten für die Schafe leiden und sterben. Psalm 23 stellt Ihn uns als den Hirten seiner Herde vor, die Er führt und die Er liebt. In Psalm 24 ist Er der Erzhirte, der König der Herrlichkeit. «Wenn der Erzhirte offenbar geworden ist», sagt 1. Petrus 5,4, werden jene, die sich treu bemüht haben, die Herde Gottes zu hüten, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
a) V 2-22a – Auf dem Kreuz
Von Vers 2 bis Vers 22a haben wir das Kreuz, ein Thema, das wir nur mit Scheu zu betrachten wagen. Das Kreuz war von Ewigkeit her der Gegenstand der göttlichen Gedanken. Das Kreuz allein hat die Wiederherstellung der Ehre und der Rechte Gottes erlaubt; es hat seiner eigenen Gerechtigkeit entsprochen und Ihm gestattet, seine ganze Liebe auf uns, die Sünder, herabströmen zu lassen. «Er hat Frieden gemacht durch das Blut seines Kreuzes.» Aufgrund des Kreuzes werden einmal alle Dinge mit Gott «versöhnt» werden (Kol 1,20). Es hat die Geschichte der Menschheit zweigeteilt. Der Tag, an dem der Herr Jesus gekreuzigt wurde, ist ein Tag, der in der Zeit und in der Ewigkeit einmalig dasteht.
Die Verse 2-7 lüften ein wenig den Schleier, der über den drei Stunden der Finsternis lag: das Verlassensein von Gott auf dem Kreuz. Es ist die Stunde des Zorns Gottes, wo Sacharja 13,7 Wirklichkeit wurde: «Schwert, erwache gegen meinen Hirten und gegen den Mann, der mein Genosse ist!, spricht der HERR der Heerscharen. Schlage den Hirten.» Das Schwert ist da, die Verlassenheit, und schliesslich der Staub (V. 16). Dreimal wird wiederholt, dass Gott sich «fern» hält (V. 2,12,20). Vor dem Kreuz und den einsamen Stunden sagte der Herr Jesus: «Vater!» Er sagt es auch, wenn Er den Geist übergibt. Aber hier in diesen Versen erhebt sich sein Schrei: «Mein Gott! mein Gott!» Mit welcher Freude kann Er nach der Auferstehung seinen Jüngern verkündigen: «Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater» (Joh 20,17).
In Vers 3, wo wir Christus «zur Sünde gemacht» sehen, ruft Er aus: «Du antwortest nicht», und Er gibt den Grund dafür selbst an: «Doch du bist heilig.» In dieser schrecklichen Nacht muss Er sagen: «Mir wird keine Ruhe.»
Der Herr hat vor allem unter dem Verlassensein von Gott gelitten; aber Er hat auch die Schmach und den Hohn tief empfunden (V. 7b-9). Die Regierungsbeamten, die Hohenpriester, die Schriftgelehrten und Ältesten verspotten Ihn und wiederholen fast wörtlich den 9. Vers unseres Psalms: «Er vertraute auf Gott, der rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt» (Mt 27,43).
In den Versen 10-12 wendet sich der Gekreuzigte aufs Neue an seinen Gott: «Sei nicht fern von mir!» (V. 12). Der Psalmist hatte in Psalm 119,151 gesagt: «Du bist nahe, HERR.» Aber in den Stunden des Kreuzes hält sich Gott fern, und «Drangsal ist nahe». Für uns, die Sünder, ist Er nicht ein Gott der Ferne; Er ist voll Mitgefühl und barmherzig; Er rechtfertigt und vergibt … aber von seinem Sohn musste Er sich fernhalten, was für Ihn ein unbeschreiblicher Schmerz war. Die Leiden der Hölle werden bedeuten: von Gott getrennt zu sein. Gott ist die wahre Quelle des Glücks, des Friedens und der Freude. Fern von Ihm ist die Drangsal, die Strafe: «ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn und von der Herrlichkeit seiner Stärke» (2. Thes 1,9). In diesen Stunden der Finsternis hat der Herr Jesus das erduldet, was wir verdient hätten. Er hat «die Ewigkeit unserer Strafe» getragen. Das ist für uns ein unergründliches Geheimnis, das wir aber durch den Glauben, gestützt auf das Wort Gottes, mit Anbetung annehmen.
Sein Volk hat Ihn verworfen; sie haben Ihn verurteilt, sie haben Ihn misshandelt und schliesslich auf das Kreuz erhöht. Er hatte es selbst angekündigt: «So muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe» (Joh 3,14.15). Etwas später fügte Er hinzu: «Und ich, wenn ich von der Erde erhöht bin, werde alle (ohne Unterschied) zu mir ziehen. (Dies aber sagte er, andeutend, welchen Todes er sterben sollte.)» (Joh 12,32.33). Von den Menschen verworfen, ist Er jetzt auch von seinem Gott verworfen. So ist Er unerbittlich allein, wie nie ein Geschöpf allein gewesen ist. Er leidet vonseiten Gottes und vonseiten der Menschen.
Vom Kreuz herab blickt Jesus auf die Menschen: Sie sind wie Tiere: Stiere (die Obersten des Volkes), das Maul eines reissenden und brüllenden Löwen; Hunde: die Soldaten, die Ihn gekreuzigt haben: «Sie haben meine Hände und meine Füsse durchgraben.»
Die Verse 8, 9 und 13-19 beschreiben die Menschen, die am Kreuz vorbeiziehen. Während all dieser Zeit erduldet der Herr Jesus unsägliche physische und moralische Leiden: Meine Gebeine haben sich zertrennt, mein Herz ist zerschmolzen, meine Kraft ist vertrocknet, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen – der schreckliche Durst der Gekreuzigten; und in den Staub des Todes legst du mich. «Der erste Mensch ist von der Erde, von Staub; der zweite Mensch vom Himmel» (1. Kor 15,47). Der Mensch wird wieder zu Staub (Pred 12,7); Er ist in den Staub des Todes gelegt worden, aber Er ist nicht zu Staub geworden: «Du wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe» (Ps 16,10). Die Hände, die so viel Gutes getan hatten, sind durchgraben worden; die «Hunde» haben die Füsse dessen, der von Ort zu Ort die Menschen mit seinem Mitgefühl und seinen Wohltaten überschüttet hatte, ans Kreuz genagelt. Sie haben diesem Weg ein Ende bereitet.
V. 15-16. Der Gekreuzigte fühlt seine Kraft nach und nach schwinden: «Wie Wasser bin ich hingeschüttet … wie Wachs ist geworden mein Herz … meine Kraft ist vertrocknet.» Die furchtbaren Leiden steigern sich: «Alle meine Gebeine haben sich zertrennt … alle meine Gebeine könnte ich zählen» (V. 15-18). Normalerweise fühlt man seine Gebeine nicht, aber wenn sie einem Leiden bereiten, ist der Schmerz viel intensiver. Die Kreuzigung gehört zu den qualvollsten Todesstrafen, ein schrecklicher Tod.
Und was heisst es von denen, die während all dieser Zeit am Kreuz vorbeigingen? «Sie schauen und sehen mich an.» Und dann von den einen wie den andern: «Und alle Volksmengen, die zu diesem Schauspiel zusammengekommen waren, schlugen sich, als sie sahen, was geschehen war, an die Brust und kehrten zurück» (Lk 23,48). Die Soldaten haben seine Kleider unter sich verteilt, über sein Gewand, das ohne Naht durchweg gewebt war (ein Symbol seiner Vollkommenheit), haben sie das Los geworfen (Joh 19,23.24).
Keine Schmach ist Ihm erspart worden, und die seelischen Leiden jeglicher Art haben die physischen Leiden noch übertroffen. Sollten wir eines Tages wirklich leiden müssen, wird Gott bei uns sein; wir werden seinen Trost haben. Und wenn wir Tröster suchen, wird sich vielleicht einer finden, der zu uns kommt, um uns zu ermuntern. Für Ihn gab es niemand.
Für Isaak gab es einen Stellvertreter: den Widder, der durch seine Hörner im Dickicht festgehalten worden war. Für den Herrn Jesus war kein Stellvertreter möglich, Er gab sich selbst dahin; für uns wurde Er zur Sünde gemacht.
Das Wort Gottes spricht oft von Myrrhe, vor allem im Hohenlied. Die Myrrhe und ihre Bitterkeit erinnern uns an die Leiden des Herrn. Da war der Ort Gethsemane, d.h. die Ölpresse; dann Gabbatha, d.h. Steinpflaster, die Härte der menschlichen Herzen; und jetzt kam Golgatha, genannt die Schädelstätte, der Tod.
In der innersten Decke der Stiftshütte und in den Vorhängen gab es vier Farben: Der weisse Byssus stellt die vollkommene Reinheit Christi dar; der blaue Purpur den, der aus dem Himmel gekommen war; der rote Purpur spricht von seiner zukünftigen königlichen Herrlichkeit; und schliesslich das Karmesin, die Farbe des Blutes. Am Kreuz leuchtete vor allem diese Farbe. Alle Vorbilder des Alten Testaments fanden ihre Erfüllung.
Aber was fand sich dort in seinem Herzen, wenn nicht dieses erste Gebet: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!» (Lk 23,34). Für sie und für uns erfleht Er die Vergebung, die das Ergebnis seines Werkes sein würde. In den Evangelien finden wir die sieben Aussprüche am Kreuz; in diesem Psalm die Gedanken und Empfindungen des Heilands. Er hat den zweiten Tod geschmeckt – das Verlassensein von Gott, bevor Er in den Tod selbst ging, der der Lohn der Sünde ist.
Dann finden wir ein letztes Gebet: «Rette mich aus dem Rachen des Löwen!» (V. 22). Satan ist gegenwärtig. Bei der Versuchung zu Beginn des Dienstes musste er sich zurückziehen. Während der ganzen Zeit seines Dienstes, und besonders gegen das Ende hin, legte er seine Fallstricke. Und jetzt, den Rachen offen – wird er den vollkommenen Menschen verschlingen?
b) Die Ergebnisse
«Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel.» Er ist erhört worden, nicht als Er rief, aber durch den Tod hindurch, nachdem das Werk vollbracht war.
In 3. Mose 14, wo wir eine Illustration der Reinigung des Sünders haben, kann der Vogel, der in das lebendige Wasser und in das Blut getaucht worden war, frei wegfliegen. Er trägt die Zeichen der Leiden an sich, ein Vorbild des Auferstandenen, der diese Zeichen auch in der Herrlichkeit tragen wird.
Seinen Brüdern verkündigt der Herr Jesus den Namen des Vaters (V. 23); inmitten der Versammlung stimmt Er das Lob an. Alle Nachkommen Israels werden Ihn verherrlichen und die, die den HERRN suchen, werden Ihn loben. Dieses Lob, das Er angestimmt hat, wird sich in wachsenden Kreisen ausbreiten, bis sich alle Enden der Erde an den HERRN erinnern und zu Ihm umkehren werden, und bis alle Geschlechter der Nationen vor Ihm niederfallen werden. «… damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters» (Phil 2,10.11).
Der Vater hat den Schrei des Sohnes gehört und sich zu Ihm geneigt (Ps 40,2), aber ohne Ihm antworten zu können. Er muss seinen Sohn am Kreuz sterben lassen. Doch schliesslich, nachdem das Werk vollbracht ist, kann Er eingreifen. Das ist die Auferstehung. Alles bricht in Freude und Lob aus. Ohne das neue Leben gibt es kein wahrhaftiges Lob; nur die Erlösten singen. Der Kreis wird immer grösser, er dehnt sich auf neue Geschlechter aus: «Ein Same wird ihm dienen … Sie werden kommen und seine Gerechtigkeit verkünden einem Volk, das geboren wird, dass er es getan hat.»
In Johannes 12,28 hat Jesus sein Gebet mit den Worten beendet: «Vater, verherrliche deinen Namen!» Und die Antwort kam aus dem Himmel: «Ich habe ihn verherrlicht und werde ihn auch wiederum verherrlichen.» Er hatte ihn verherrlicht, indem Er Lazarus auferweckte, aber Er würde ihn durch die Auferweckung seines geliebten Sohnes aufs Neue verherrlichen.
Es ist unser unermesslich grosses Vorrecht als Kinder Gottes, die von neuem geboren sind, uns an das «Werk am Kreuz» zu erinnern. Wir dürfen es in Anbetung besingen, indem wir auf die Zeit warten, da wir das Lamm, das so viel gelitten hat, um uns das ewige Leben zu erwerben, von Angesicht zu Angesicht sehen werden.