I. Die Leiden
3. Psalm 69,2-22; 30-36
Der Mann der Schmerzen
a) Seine Bedrängnisse in seinem Leben und angesichts des Todes – V. 17
Christus ist hier noch nicht unter dem Zorn Gottes und der Verlassenheit von Ihm, sondern Er sieht die Leiden des Sterbens vor sich (V. 15,16), und in der Todesangst seiner Seele ruft Er zu Gott, um davon verschont zu werden. Es ist schwer zu sagen, ob es in Gethsemane ist, wo Er mit Tränen seine Bitten und sein Flehen vorbringt (Heb 5,7), oder schon am Kreuz während der ersten drei Stunden, vorausschauend auf die Stunden der Finsternis.
Er erhebt jedoch keinen Anspruch auf die Rechte, die Er nicht geraubt hatte (V. 5; Phil 2,6). Welch ein Gegensatz zu dem, der in Jesaja 14,13.14 Satan vorbildet: «Du sprachst in deinem Herzen: ‹Zum Himmel will ich hinaufsteigen, hoch über die Sterne Gottes meinen Thron erheben … Ich will hinauffahren auf Wolkenhöhen, mich gleichmachen dem Höchsten.›» Welch ein Kontrast auch zu Adam, der die Frucht isst, die ihm seine Frau gibt, weil sie auf das Versprechen der Schlange hörte: «Ihr werdet sein wie Gott» (1. Mo 3,5). Im Gegensatz dazu heisst es von Christus Jesus: «der, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm» (Phil 2,6.7). Wie der Prophet es angekündigt hatte: «Der Messias wird weggetan werden und nichts haben» (Dan 9,26). Er hatte die Herrlichkeit beim Vater von Ewigkeit her, aber Er hat sich der Zeichen seiner Majestät entäussert. Doch vorausblickend auf das vollbrachte Werk kann Er in Johannes 17,5 sagen: «Und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war.»
Der 6. Vers erinnert uns ein wenig an den Bock «Asasel» in 3. Mose 16,21.22, der lebendig in ein ödes Land geschickt wurde, um dort in der Wüste zu sterben. Es ist vielleicht, wie in Johannes 12,27, die Bestürzung im Gedanken daran, zur Sünde gemacht zu werden; auch der Schrecken im Blick auf die Stunden am Kreuz vor der Finsternis.
Vers 7 lässt an die Jünger denken, die gehofft hatten, «dass er der sei, der Israel erlösen solle» (Lk 24,21). Welche Enttäuschung, welche Verwirrung, als sein Tod alle ihre Hoffnungen zunichtemachte! Inmitten seiner eigenen Seelenangst denkt der Mann der Schmerzen an sie. Wie beeilte Er sich am Auferstehungstag, sich ihnen als der Lebendige zu offenbaren!
b) Seine Bedrängnisse während seines Lebens – V. 8-13
Die Schmähungen sind als Folge seines Zeugnisses auf Ihn gefallen. Er hat den Hohn, die öffentliche Schande, die Schmach tief empfunden. Wie oft werden solche Worte in diesem Psalm wiederholt.
- Vers 8: «Ich trage Hohn»
- Vers 11: «Da wurde es mir zu Schmähungen»
- Vers 20: «Du, kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande», und schliesslich in
- Vers 21: «Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend»
Aus Liebe zu seinem Gott musste Er sein Leben lang Schmach tragen. Mose hatte «die Schmach des Christus für grösseren Reichtum gehalten als die Schätze Ägyptens» (Heb 11,26). Aber was war das im Vergleich zu der Schmach, die unser Herr erduldet hat, indem Er aus Liebe zu seinem Gott während seines ganzen Lebens die öffentliche Schande auf sich genommen hat.
Weil Er die Schmach trägt, wird Er für seine Familie ein Fremder, entfremdet seinen Brüdern, ein Fremder den Söhnen seiner Mutter. «Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an» (Joh 1,11).
Aus Liebe zu seinem Gott liess Er die Schmähungen über sich ergehen. Er trieb die Händler aus dem Haus seines Vaters, wo sie sich zum Verkaufen aufgestellt hatten. Seine Jünger erinnerten sich daran, dass geschrieben stand: «Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt» (V. 10); aber die Juden haben Ihn nur verachtet und über Ihn gespottet.
Er trug die Zeichen der Trauer: die Tränen, das Fasten, das Sacktuch, «da wurde ich ihnen zum Sprichwort» (V. 12) – «Ich bin das Saitenspiel der Zecher» (V. 13).
c) Sein Gebet in Gethsemane – V. 14-21 (Heb 5,7)
In Markus 14,33 lesen wir vom Herrn selbst: «Er fing an, sehr bestürzt und beängstigt zu werden.» Das erstaunt uns bei Ihm. Er hat nie Angst gehabt, weder vor seinen Feinden noch vor Herodes, dem Fuchs; weder vor Pilatus noch vor denen, die bewaffnet nach Gethsemane kamen, um Ihn zu greifen. Er hat vor Pontius Pilatus das gute Bekenntnis bezeugt. Aber in Gethsemane ist Er «sehr bestürzt und beängstigt gewesen», und das wegen unserer Sünden, die Er im Begriff stand, auf sich zu nehmen. Mit der Sünde ist die Angst in die Welt gekommen. Adam hat Angst gehabt, weil er gesündigt hatte; er fürchtete sich vor Gott (1. Mo 3,10). Und seither haben die Menschen immer in Angst gelebt. Aber im Gedanken daran, für uns zur Sünde gemacht zu werden, wurde unser Heiland sehr bestürzt. Man kann die Worte Jonas gut auf den Herrn Jesus selbst anwenden: «Du hattest mich in die Tiefe, in das Herz der Meere geworfen, und der Strom umschloss mich; alle deine Wogen und deine Wellen fuhren über mich hin» (Jona 2,4).
In diesem Leben der Tränen und der Schmähungen, was blieb Ihm da? – Das Gebet. Dreimal hintereinander ruft Er zu Gott: Erhöre mich, erhöre mich, erhöre mich! – Er hat keine Antwort bekommen.
Er fleht darum, «aus dem Schlamm», einem Bild des Schmutzes der Sünde, gezogen zu werden, dieser Schlamm, in dem man versinkt und der überall eindringt. Er bittet darum, aus den Wassertiefen errettet zu werden, aus der Schuld der Sünde: «Lass die Flut der Wasser mich nicht überströmen, und die Tiefe mich nicht verschlingen» (V. 15.16). Diese mächtigen Wasser des Gerichts sollten sich über Ihn ergiessen – Tiefen, die wir nie ergründen können: In den Stunden der Finsternis wurde Er von seinem Gott verlassen. Im Hinblick darauf fleht Er, davor errettet zu werden.
Wir müssen daran denken, was der tiefe Schlamm und die überströmende Flut für uns wirklich bedeuten würden (V. 3). Zweifellos haben wir schon von Unglücklichen gelesen, die in Treibsand geraten sind. Langsam sinken sie weiter ein, machen in Todesangst verzweifelte Anstrengungen, um herauszukommen. Nach und nach versinken der Körper, die Schultern, der Kopf, eine ausgestreckte Hand bewegt sich – dann nichts mehr. Oder vielleicht haben wir im Meer gebadet und sind von der zurückkehrenden Flut überrascht worden, und die Strömung hat uns immer weiter vom Strand weggetragen. Alle Anstrengungen, als guter Schwimmer wieder an Land zu kommen, waren vergeblich. Die Wellen trugen uns weiter und weiter hinaus. Welches Bangen, welche Todesangst! Das sind nur Bilder, um uns ein wenig davon ahnen zu lassen, was dieser Schlamm und diese Wassertiefen für unseren Heiland bedeutet haben: «Und als er in ringendem Kampf war, betete er heftiger. Und sein Schweiss wurde wie grosse Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen» (Lk 22,44).
«Lass die Grube ihren Mund nicht über mir verschliessen!», diese Grube des Todes, in die Er hinabsteigen muss, diese Tiefe, die Ihn von Gott entfernt und zur Folge hat, dass jede Gemeinschaft mit Ihm unterbrochen wird. Gott ist nicht mehr da. Die Grube könnte ihren Mund verschliessen und diese Gemeinschaft für immer verloren sein.
Wie viele Leiden bedeutete das alles für Ihn, den vollkommen Reinen, Unschuldigen, Unbefleckten, der stets eine völlige Gemeinschaft mit seinem Gott genossen hat. Nun folgt die Bitte: «Und verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knecht, denn ich bin bedrängt; eilends erhöre mich!» Er appelliert an das Mitgefühl des HERRN; dass Er sich seiner Seele nahen und Ihn erlösen möge. Aber es gibt keine Antwort in diesem Psalm.
Und Er hatte doch mehrere Gründe, auf Erlösung zu hoffen: «Mein Gebet ist zu dir … zur Zeit der Annehmung … nach der Grösse deiner Güte … nach der Wahrheit deines Heils … nach der Grösse deiner Erbarmungen.»
Aber das Ergebnis bleibt: «Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend; und ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden» (V. 21).
Es ist die Atmosphäre des Gartens, wo Er in ringendem Kampf war, «da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat» (Heb 5,7). In den Evangelien ist es auch das Annehmen des Kelches, den der Vater Ihm zu trinken gegeben hatte: «… so geschehe dein Wille.»
Für die Menschen war Er ein Fremdling, ein Unbekannter; ein Sprichwort für die, «die ohne Ursache mich hassen … meine Vertilger, die mir ohne Grund feind sind.» Seinen Jüngern hatte Er betrübt und beängstigt erklärt: «Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tod; bleibt hier und wacht mit mir.» Aber sie sind eingeschlafen. Vonseiten Gottes, in diesen Stunden des Todeskampfes – Schweigen. «Ich aber bin elend, und mir ist wehe; deine Rettung, o Gott, setze mich in Sicherheit!»
Er musste den Kelch trinken!
Aber durch das Verlassensein und den Tod hindurch «ist er wegen seiner Frömmigkeit erhört worden»; und, «vollendet worden, ist er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden» (Heb 5,7.9).
d) Die Ergebnisse – V. 31-37
In seiner Bedrängnis hatte Er gesagt: «Verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knecht» (V. 18). Er war durch die tiefe Finsternis gegangen, wo Er sogar von Gott verlassen wurde. Aber in der Auferstehung kann Er ausrufen: «Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar» (Ps 16,11). Nun erschallt das Lob: «Rühmen will ich den Namen Gottes im Lied und ihn erheben mit Lob.» Es sind keine Opfer von Rindern oder Stieren mehr nötig (V. 32). Und die Kreise der Anbetung dehnen sich aus: «Ihn sollen loben Himmel und Erde, die Meere und alles, was in ihnen wimmelt!»
Das Herz derer, die Gott suchen, wird leben. Die Sanftmütigen werden sich freuen, die Armen und die Gefangenen werden befreit werden. «Gott wird Zion retten und die Städte Judas bauen … die Nachkommenschaft seiner Knechte … und die seinen Namen lieben, werden darin wohnen.»
Im Gegensatz zu dem, was der Herr Jesus in der Flut der Wasser erduldet hat, gilt uns die Verheissung von Jesaja 43,2: «Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten.» Das Wort Gottes sagt uns nicht, dass wir nicht durchs Wasser gehen werden, aber es gibt uns die Verheissung: «Ich bin bei dir.» Es wird Ströme von Wasser geben, die versuchen, uns mitzureissen, aber «sie werden dich nicht überfluten».