Kapitel 2
Wir haben in diesem Kapitel ein Verzeichnis der «Bewohner der Landschaft Juda, die aus der Gefangenschaft der Weggeführten, die Nebukadnezar, der König von Babel, nach Babel weggeführt hatte, hinaufzogen und die nach Jerusalem und Juda zurückkehrten, jeder in seine Stadt» (Vers 1).
In diesem Bericht gibt es verschiedene interessante Einzelheiten, die beachtenswert sind. Vor allem wird hier deutlich, wie wertvoll die Reaktion für Gott war, die seine Gnade in den Herzen von vielen Tausenden unter seinem Volk hervorgebracht hatte, wie schwach sie auch in seine Gedanken bezüglich seines Hauses eingetreten sein mochten. Aus diesem Grund veranlasste Er, dass diese Liste erhalten blieb, als Beweis, dass Er die geringsten Früchte der Wirksamkeit seines Geistes mit Freuden wahrnimmt. Er hält die genauen Namen derer fest, die dem Aufruf von Kores Folge leisteten, als eine Ermunterung für alle, in seinen Wegen zu wandeln, sich eins zu machen mit seinen Interessen und Treue zu beweisen in Zeiten des Verfalls und des Abfalls. (Vgl. Lk 12,8 mit Off 3,5). In Vers 2 werden die Namen der Führer angegeben, und dann wird das Volk nach seinen Geschlechtern klassifiziert.
Wenn wir dieses Verzeichnis genauer prüfen, stellen wir darin vier Teile fest:
1) Bis zu Vers 42 werden solche aufgeführt, die ohne allen Zweifel zum Volk Israel, zu Juda, Benjamin oder Levi gehörten (unter den Leviten waren auch Sänger und Torhüter).
Dann folgen zwei andere Klassen, die Nethinim und die Knechte Salomos, im Blick auf die einige Worte nötig sind.
2) Bei den Nethinim (Verse 43-54) stellt sich die Frage, ob sie wirklich von jüdischer Abstammung waren. Der Name bedeutet «Geschenkte». Aus dem Platz, der ihren Namen in diesem Kapitel gegeben wird (siehe auch 1. Chr 9,2), hat man schon geschlossen, dass sie von einem anderen Geschlecht waren, aber ursprünglich den Leviten für ihren Dienst beigegeben wurden, so wie auch die Leviten selbst – diese aber durch göttliches Gebot, anstelle der Erstgeborenen Israels (siehe 4. Mose 8) – dem Aaron gegeben worden waren zum Dienst des Herrn in seinem Heiligtum.
Spuren von solchen Nethinim (Geschenkten) finden wir in zwei Schriftstellen. In 4. Mose 31,47 lesen wir bezüglich der Beute, die von den Midianitern genommen wurde: «Von der Hälfte der Kinder Israel nahm Mose das Herausgegriffene, eins von 50, von den Menschen und vom Vieh, und gab sie den Leviten, die den Dienst der Wohnung des HERRN versahen: so wie der HERR Mose geboten hatte.» Auch finden wir, dass Josua zu den Gibeonitern sagte: «Nicht sollt ihr aufhören, Knechte zu sein, sowohl Holzhauer als auch Wasserschöpfer für das Haus meines Gottes!» (Jos 9,23, vgl. Esra 8,20).
Das also ist offenbar der Ursprung der Nethinim – es waren solche, die vom gerechten Gericht Gottes verschont worden waren. Und wenn sie auch zu Knechten erniedrigt wurden, so war es doch eine Knechtschaft, die seine Gnade ihnen zuwies, in Verbindung mit seinem Haus, wobei gerade der Fluch, der auf ihnen lastete (siehe Jos 9,23) in Segnung verwandelt wurde. Statt durch das Schwert des HERRN der Heerscharen vernichtet zu werden, wurden sie gerettet, und hier im Buch Esra noch, nachdem Jahrhunderte vergangen sind, stehen sie in ehrenvoller Verbindung mit dem Volk des HERRN. Auch sie haben ein Herz für das Haus Gottes, denn auch sie kehren in diesem besonderen Zeitpunkt mit ihren Mitgefangenen aus Babylon zurück. Nicht zuletzt sind daher auch sie, sogar in unserer christlichen Zeitperiode, ein Vorbild von den Gegenständen der Gnade.
3) Bezüglich der Knechte Salomos (Verse 55-57) sind die Angaben weniger deutlich. Aber wir lesen, dass Salomo die Amoriter usw., die im Land übriggeblieben waren und die die Kinder Israel nicht zu vertilgen vermocht hatten, «zu Fronarbeitern aushob bis auf diesen Tag» (1. Kön 9,20-21). Vielleicht waren es die Nachkommen dieser Fronarbeiter, die hier «Knechte Salomos» genannt wurden. Wie sich dies auch immer verhalten mag, so können wir hier doch die Lehre daraus ziehen, dass die geringste Verbindung mit dem Volk und den Dingen des Herrn einen Segen nach sich zieht. Bei den Knechten Salomos wie auch bei den Nethinim muss es mehr als nur ein zeitlicher Segen gewesen sein; denn durch Gnade waren sie auf eigenen Wunsch zurückgekehrt, um am Wiederaufbau des Hauses Gottes in Jerusalem mitzuhelfen. Alle Männer dieser beiden Gruppen waren 392.
4) Die nächsten beiden Gruppen nehmen eine besondere und in gewissem Sinn betrübliche Stellung ein. Da waren einige – die Söhne Delajas, die Söhne Tobijas, die Söhne Nekodas, 652 –, die ihr Vaterhaus und ihre Abkunft nicht angeben konnten, ob sie aus Israel wären. Auch von den Söhnen der Priester – die Söhne Habajas, die Söhne des Hakkoz, die Söhne Barsillais – «diese suchten ihr Geschlechtsregister-Verzeichnis, aber es wurde nicht gefunden; und sie wurden vom Priestertum als unrein ausgeschlossen» (Verse 59-62).
Im Land ihrer Gefangenschaft nahm man es mit den Ansprüchen und Befugnissen nicht so genau. Babylon stellt die Knechtschaft, den Verfall dar, in die das Volk Gottes durch seine Sünden gekommen ist, und daher war die Zeit ihrer Gefangenschaft eine Zeit der Nachlässigkeit, eine Zeit zwar, in der sie unter der Hand Gottes zu leiden hatten, aber doch eine Zeit der Verwirrung und Unordnung. Das konnte nicht anders sein, da sie ohne Tempel, ohne Opfer und ohne die Gegenwart des HERRN waren. Jetzt aber, da durch Gottes Gnade eine teilweise Wiederherstellung zustande gekommen war, in der sich eine deutliche Wirksamkeit des Geistes Gottes abzeichnete und das Haus des HERRN wieder ihr Mittelpunkt wurde, waren sie gründlich geübt bezüglich des Anspruchs auf die Zugehörigkeit aller derer, die von Babylon zurückgekehrt waren.
Wenn jemand seine Abkunft nicht angeben konnte, so hatte er kein Anrecht, am Werk teilzunehmen, zu dem sie berufen worden waren. Und im Fall der Priester waren die Folgen noch ernster. Wenn diese ihr Geschlechtsregister-Verzeichnis nicht finden konnten, wurden sie vom Priestertum als unrein ausgeschlossen. Man behauptete nicht, dass sie keine Priester seien, aber man stellte sich auf den Standpunkt, dass ihr Anspruch nicht erwiesen sei. Das konnte vielleicht in nächster Zeit abgeklärt werden: «Der Tirsatha sagte zu ihnen, dass sie vom Hochheiligen nicht essen dürften, bis ein Priester für die Urim und die Tummim aufstände.» Wenn dieser Tag kam, vermochte der Priester, durch die Lichter und Vollkommenheiten Gottes (Urim und Tummim) wieder mit göttlichem Verständnis und Unterscheidungsvermögen begabt, zu beurteilen, ob sie wirklich Priester waren. Inzwischen aber war ihr Anspruch verwirkt. Gnade konnte wiederherstellen, was unter dem Gesetz verloren ging; doch mussten sie geduldig darauf warten.
Etwas ganz Ähnliches zeigte sich dem Grundsatz nach in der Versammlung Gottes. Wir sagen nicht zu viel, wenn wir behaupten, dass sie im Anfang des 19. Jahrhunderts in manchen Ländern ganz unter der Herrschaft der weltlichen Macht stand. Das Leben des Volkes Gottes wurde da und dort durch den Dienst einiger treuer Männer unterhalten, wie auch durch das persönliche Studium des Wortes Gottes. Aber die Kirche als Ganzes war geknechtet und wurde in babylonischer Gefangenschaft gehalten. Doch fand dann eine Wiedererweckung statt. An verschiedenen Orten wirkte Gott in den Herzen mancher, was zu tiefen Seelenübungen führte. In manchen Ländern und an verschiedenen Orten gab es eine Bewegung, die zur Befreiung vieler führte.
Die Urkunde ihrer Befreiung aus der Gefangenschaft war das Wort Gottes. Über dieses beugten sie sich Tag und Nacht und fanden darin beides, Licht und Leben. Anhand der Heiligen Schrift überprüften sie sich selbst und ihre Wege; durch sie erkannten sie auch den wahren Charakter ihrer bisherigen Gebundenheit und empfingen daraus auch Leitung für die Zukunft. Indem sie auf die Belehrungen des Wortes Gottes achteten, richteten sie den Tisch des Herrn wieder auf, in seiner ganzen Einfachheit. Sie lernten, dass der Heilige Geist im Haus Gottes wohnt und dass der Herr verheissen hat, bald zu kommen, um sein Volk zu sich zu nehmen. Sofort aber sahen sie sich der Schwierigkeit gegenübergestellt, die in diesem Kapitel erwähnt wird, der Schwierigkeit, den Anspruch und die Befugnis zum Brechen des Brotes am Tisch des Herrn abzuklären. In der Vergangenheit durfte es jeder gute Bürger tun, und oft wurden sogar alle ermahnt zu kommen. Keiner, der ein Christ zu sein bekannte, wurde je zurückgewiesen, und viele, deren Leben ihrem Bekenntnis widersprach, wurden ungefragt zugelassen. Durfte diese Handlungsweise fortgesetzt werden?
Es wurde ihnen die Antwort gegeben, dass nur die, die «ihr Vaterhaus angeben» oder ihr «Geschlechtsregister-Verzeichnis» finden konnten, schriftgemässen Anspruch auf einen Platz am Tisch des Herrn hatten. Mit anderen Worten: Wenn wir nicht Frieden mit Gott haben, wenn wir nicht wissen, dass wir durch den Besitz des Geistes der Kindschaft Kinder Gottes sind und so unser Vaterhaus und unsere Abkunft angeben können, haben wir nicht das erforderliche göttliche Anrecht. Bekenntnis ist nicht genug. An einem Tag wie diesem, einem Tag der Wiederherstellung von der Gefangenschaft, müssen wir fähig sein, unser Bekenntnis durch das sichere Wort Gottes als wahr nachzuweisen. Denn der Apostel sagt: «Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brot» (1. Kor 10,16.17).
Aber dem wird entgegengehalten: Willst du dich denn zum Richter über andere aufspielen? Keineswegs. Wir haben uns so zu verhalten, wie der Tirsatha in unserem Kapitel, der zu den Priestern, die ausgeschlossen wurden, gewissermassen sagte: «Ihr mögt wirklich Priester sein, nur könnt ihr euren Anspruch nicht beweisen. Die Sache muss daher vertagt werden, bis ein Priester für die Urim und Tummim aufsteht – einer, der Gott gemäss urteilen kann.» Nun hat der, der zum Tisch des Herrn kommen und sich mit seinem Volk eins machen will, den Beweis seiner Zugehörigkeit zu erbringen. Vermag er dies nicht, wird er nicht von denen ausgeschlossen, die es mit ihm zu tun haben, sondern durch seine eigene Unfähigkeit, sein Geschlechtsregister nachzuweisen. Sollte er dennoch ein Glied am Leib des Christus sein, wird sein Anspruch, der ja ganz auf Gnade beruht, an einem kommenden Tag vom Herrn selbst völlig anerkannt werden. Es ist wichtig, dass dieser schriftgemässe Grundsatz verstanden und befolgt wird.
Die Frage bezüglich der Priester geht noch weiter. Wie wir gesehen haben, wurden diese ihres Amtes enthoben, das darin bestand, vor dem Herrn zu dienen und das Volk zu lehren (siehe 2. Mose 28; 3. Mose 10,9-11; 5. Mose 10,8; Mal 2,5-7), und es wurde ihnen, weil sie ihr Geschlechtsregister-Verzeichnis nicht finden konnten untersagt, vom Hochheiligen zu essen (vgl. auch 3. Mose 22,1-16.)
Im christlichen Zeitalter sind alle wahren Gläubigen Priester (1. Pet 2). Gott hat sie alle zu Anbetern in seinem Heiligtum gemacht. Niemand darf sich das ausschliessliche Recht anmassen, in Anbetung Gott zu nahen und Ihm im Namen aller zu dienen. Wenn die hier im Buch Esra genannten Priester nicht von den heiligen Dingen essen durften, weil sie ihr Geschlechtsregister nicht finden konnten, so ist damit auch ein ernstes Urteil gefällt über die Praxis, die man in der Christenheit jahrhundertelang geübt hat. Nicht allein wurden viele aufgrund eines äusserlichen Bekenntnisses zum Abendmahl zugelassen, also auch solche, die ihr Geschlecht nicht beweisen konnten, die keine wahren Gläubigen waren, oder über die man in dieser Hinsicht unsicher war. Vielen von diesen gab man durch menschliche Ordination sogar die Befugnis, «heiligen» Priesterdienst auszuüben!
Die Zahl der ganzen Versammlung, so wird uns nun gesagt, war 42'360. Ausser diesen gab es noch 7337 Knechte und Mägde und unter diesen noch 200 Sänger und Sängerinnen. Schliesslich wird auch noch die genaue Zahl der Pferde, Maultiere, Kamele und Esel genannt (Verse 64-67).
Das war die grosse Reisegesellschaft oder Karawane, die von Babylon nach Juda und Jerusalem hinaufzog. Ihre Herzen waren ganz auf das heilige Unternehmen gerichtet, zu dem Gott sie hatte aufrufen lassen.
Am Bestimmungsort angelangt, geben einige Häupter der Väter, als sie zum Haus des HERRN kamen, freiwillige Gaben für das Haus Gottes, um es an seiner Stätte aufzurichten. Sie gaben nach ihrem Vermögen für den Schatz des Werkes 61'000 Danken an Gold und 5000 Minen an Silber und 100 Priester-Leibröcke (Verse 68 und 69).
Die Formulierung dieses Berichts ist interessant: «Als sie zum Haus des HERRN in Jerusalem kamen.» Daraus geht hervor, dass das Haus, in welchem Zustand es auch immer gewesen sein mag – niedergerissen bis auf den Grund –, vor den Augen Gottes immer noch bestand. Obgleich es bis zur Zeit des Herrn drei verschiedene Häuser gab, so war es für Gott doch immer nur dasselbe Haus. Haggai sagt in diesem Zusammenhang: «Die letzte Herrlichkeit dieses Hauses wird grösser sein als die erste» (Hag 2,9).
Da war zweifellos noch ein anderer Grund für diese Ausdrucksweise in Esra. Es scheint, dass Gott die Verwüstung seines Heiligtums benützt hat, um die Herzen der Häupter der Väter zu berühren. Als sie zum Haus des HERRN kamen, als sie seinen Zustand sahen, wurden sie bewegt und «gaben freiwillig» von ihrem Vermögen und, wie der Geist Gottes mit Sorgfalt hinzufügt und sein Siegel der Zustimmung darauf setzt: «Nach ihrem Vermögen gaben sie.» Darin sind sie gewiss für alle Zeiten Beispiele für alle, die zum Volk des Herrn gehören und das Vorrecht haben, dem Herrn zu dienen, indem sie Gemeinschaft haben mit den Bedürfnissen der Heiligen oder mit den Erfordernissen seines Dienstes.
Das Kapitel schliesst mit der Feststellung: «Und die Priester und die Leviten und die aus dem Volk und die Sänger und die Torhüter und die Nethinim wohnten in ihren Städten; und ganz Israel wohnte in seinen Städten» (Vers 70). Es bleibt dem geistlichen Leser erlaubt zu fragen, ob dieser Bericht, besonders wenn er im Licht von Haggai 1 gelesen wird, nicht kennzeichnend ist für das Nachlassen ihrer ersten Energie. Er redet von ihrer Neigung, an sich und ihre eigenen Häuser zu denken, und dies vor die Interessen des Hauses des Herrn zu stellen. Salomo baute dreizehn Jahre an seinem eigenen Hause, während er für den Tempel nur sieben Jahre verwendete. Wenn man berücksichtigt, wie der Mensch ist, ist es nicht verwunderlich, dass der wiederhergestellte Überrest damit beginnt, zuerst an seine eigenen Dinge zu denken. Aber das nächste Kapitel zeigt, dass das Wort Gottes doch immer noch in ihren Seelen wirksam war, zum Preise Dessen, der sie aus der Gefangenschaft erlöst und sie in den Gedanken seines Herzens über Jerusalem und über sein Volk mit sich selbst verbunden hatte.