Kapitel 6,1-14
Der auf diese Weise angerufene König veranlasste eine entsprechende Untersuchung, und das Dekret des Kores fand sich tatsächlich vor (Verse 1-5). Die Erklärung der Juden wurde dadurch in jeder Einzelheit bestätigt; ja mehr noch: nun stellte sich auch heraus, dass Kores nicht nur ein Dekret zum Wiederaufbau des Tempels erlassen, sondern auch befohlen hatte, dass die Kosten aus dem Haus des Königs bestritten und die heiligen Gefässe, die Nebukadnezar weggenommen hatte, zurückgegeben werden sollten.
Aufgrund dieses Dekretes befahl Darius dem Tatnai, Schetar-Bosnai und ihren Genossen, die Juden nicht mehr zu belästigen und deren Werk in Frieden fortführen zu lassen. Für den Glauben war dies ein Beweis des Wirkens Gottes hinter der Szene. Er benützte die Macht des Feindes zur Ausführung seiner eigenen Ziele, indem Er dabei einmal mehr zeigte, wie Er alle Dinge zum Guten derer mitwirken lässt, die Ihn lieben. Denn als Folge der Einmischung ihrer Widersacher bestätigte Darius nicht nur das Dekret des Kores, sondern er erliess auch ein weiteres, dass alle Kosten für den Bau des Hauses Gottes aus dem Einkommen des Königs erstattet werden sollten.
Er sagte: «Von mir wird Befehl gegeben in Bezug auf das, was ihr diesen Ältesten der Juden für den Bau dieses Hauses Gottes tun sollt; nämlich, von den Gütern des Königs, aus der Steuer jenseits des Stromes, sollen diesen Männern die Kosten pünktlich gegeben werden, damit sie nicht behindert werden. Und was nötig ist, sowohl junge Stiere als auch Widder und Lämmer zu Brandopfern für den Gott des Himmels, Weizen, Salz, Wein und Öl, soll ihnen auf Geheiss der Priester, die in Jerusalem sind, Tag für Tag ungeschmälert gegeben werden, damit sie dem Gott des Himmels Opfer lieblichen Geruchs darbringen und für das Leben des Königs und seiner Söhne beten» (Verse 8-10).
«Wenn die Wege eines Mannes dem HERRN wohlgefallen, so lässt er sogar seine Feinde mit ihm in Frieden sein» (Spr 16,7); wenn er also auf dem Weg des Willens Gottes wandelt, so kann er seine Feinde getrost den Händen des Herrn überlassen. Diese Ältesten der Juden hatten jetzt eine Lektion gelernt, die im Wort Gottes oft gelehrt wird und die sein Volk jederzeit so nötig hat: «Mehr sind die, die bei uns, als die bei ihnen sind» (2. Kön 6,16).
So war also Gott selbst der Schild seines Volkes, als sie in seinem Dienst standen; und so lange sie seinem Wort gehorsam waren und sich auf seine Kraft und seinen Schutz stützten, konnten sie nicht daran gehindert werden. In dieser Weise hatte sich also Satan wieder einmal selbst überlistet und trug gegen Willen zur Förderung des Werkes bei, das er hasste, gerade so wie der Apostel es Jahrhunderte später auch erfuhr: «Ich will aber, dass ihr wisst, Brüder, dass meine Umstände mehr zur Förderung des Evangeliums geraten sind» (Phil 1,12). Als es Satan gelang, Paulus ins Gefängnis einzuschliessen, meinte er, einen Sieg errungen zu haben, gerade so wie auch im bemerkenswertesten Fall von allen, als er die Juden dazu trieb, die Kreuzigung ihres Messias zu fordern. Aber beide Male war sein scheinbarer Erfolg eine völlige Niederlage. Trotz allem Widerstand und aller Verfolgung, die sich erheben mögen, können wir ruhig und in mutigem Ausharren vorangehen, weil es das Werk des Herrn ist, mit dem wir beschäftigt sind, und Er gesagt hat: «Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters» (Mt 28,20).
Darius ging noch weiter. Er fügte hinzu: «Und von mir wird Befehl gegeben: Der Mensch, der diesen Erlass abändern wird, von dessen Haus soll ein Balken ausgerissen und er, aufgehängt, daran geschlagen werden; und sein Haus soll dafür zu einer Kotstätte gemacht werden. Der Gott aber, der seinen Namen dort wohnen lässt, stürze jeden König und jedes Volk nieder, die ihre Hand ausstrecken werden, diesen Erlass abzuändern, um dieses Haus Gottes zu zerstören, das in Jerusalem ist! Ich, Darius, habe den Befehl gegeben; pünktlich soll er vollzogen werden!» (Verse 11.12). So umgab der König die Juden mit seiner Autorität und bewahrte sie vor weiterer Belästigung dadurch, dass er die Todesstrafe über die Behinderung ihres Werkes verhängte. Und aufgrund der Worte, die er brauchte, kann schwerlich bezweifelt werden, dass Darius selbst einige Erkenntnis des «Gottes des Himmels» besass; denn er redete von Ihm als Dem, «der seinen Namen dort wohnen lässt». Wie dem auch immer sein mag, Gott neigte sein Herz zugunsten seines Volkes und des Wiederaufbauwerks seines Hauses.
Das Dekret hatte eine sofortige Auswirkung; denn wir lesen, dass Tatnai und seine Genossen «genau taten», was der König Darius entboten hatte. Fortan unterblieb aller Widerstand, und die Feinde des Werks verschwanden vom Schauplatz.
Nicht nur das, Gott hatte in seiner Fürsorge für sein Volk und als Antwort auf ihren Glauben ihnen auch das Herz des Königs zugewandt, so dass nun dessen königliche Macht ihr Schutz und Schirm wurde. So lesen wir:
«Die Ältesten der Juden bauten; und es gelang ihnen durch die Weissagung Haggais, des Propheten, und Sacharjas, des Sohnes Iddos; und sie bauten und vollendeten nach dem Befehl des Gottes Israels und nach dem Befehl Kores' und Darius' und Artasastas, des Königs von Persien. Und dieses Haus wurde bis zum dritten Tag des Monats Adar fertig gestellt, das ist das sechste Jahr der Regierung des Königs Darius» (Verse 14.15).
Bevor wir auf die Einzelheiten dieses Berichtes näher eingehen, möchten wir dem Leser eine auffallende Parallele aus der Geschichte vom Bau des Hauses Gottes im Neuen Testament in Erinnerung rufen. Im Zusammenhang mit dem Tod des Stephanus entstand «eine grosse Verfolgung gegen die Versammlung, die in Jerusalem war; und alle wurden in die Landschaften von Judäa und Samaria zerstreut, ausgenommen die Apostel» (Apg 8,1). Bald darauf, bei dem Besuch des Paulus in Jerusalem, nach seiner Bekehrung,1 erhob sich nochmals der Widerstand; die Hellenisten suchten ihn umzubringen und die Brüder sandten Paulus nach Tarsus weg (Apg 9,29.30). Dann folgt die Feststellung: «So hatte denn die Versammlung durch ganz Judäa und Galiläa und Samaria hin Frieden und wurde erbaut und wandelte in der Furcht des Herrn und mehrte sich durch die Ermunterung des Heiligen Geistes» (Apg 9,31). Gott hatte den Gläubigen vor den Verfolgern Ruhe gegeben, und durch die Gnade benützten sie die Gelegenheit, um sich in ihrem allerheiligsten Glauben aufzuerbauen.
So war es auch hier mit den Vätern der Juden. Sie bauten und wurden ermutigt durch den Trost des Heiligen Geistes, so wie er ihnen durch den Dienst der Propheten vermittelt wurde.
Es ist wichtig, die Klasse der Bauenden und die der Propheten auseinanderzuhalten. Wie schon in Verbindung mit Haggai erwähnt, können diese beiden Arten des Dienstes nicht vermischt werden. Der Bauende kann sich nicht die Funktionen eines Propheten anmassen, noch darf ein Prophet seinen Prophetenmantel mit der Maurerkelle des Bauenden vertauschen. So sagt auch der Apostel: «Da wir aber verschiedene Gnadengaben haben, nach der uns verliehenen Gnade: es sei Weissagung, so lasst uns weissagen nach dem Mass des Glaubens; es sei Dienst, so lasst uns bleiben im Dienst; es sei, der lehrt, in der Lehre» (Röm 12,6.7). Das Werk des Bauenden besteht darin, Steine auf die Grundlage zu legen; er wird von Gott gebraucht, um durch Predigen oder Lehren Seelen zu sammeln und sie als lebendige Steine zu der Grundlage zu bringen, die Jesus Christus ist (siehe 1. Korinther 12). Der Prophet hingegen ist einer, der das Volk durch die Mitteilung der Gedanken Gottes in seinem Werk anspornt und der auch alles anhand seines Wortes prüft. Ein Prophet versetzt das Gewissen in die Gegenwart Gottes, hält somit das Verantwortungsbewusstsein aufrecht, dient zur Führung, tadelt oder ermahnt entsprechend dem Erfordernis des Augenblicks und redet so, wie er vom Heiligen Geist getrieben wird – heute natürlich durch das geschriebene Wort, aber geleitet durch den Geist zu dem für den Fall geeigneten Wort.
So arbeiteten die Ältesten Israels, die Propheten aber weissagten. Auch wird hier vermerkt: «Es gelang ihnen durch die Weissagung Haggais …» Der Grund ist offensichtlich. Der Heilige Geist wirkte in Kraft, zuerst durch die Propheten, dann aber dadurch, dass Er in den Herzen der Bauenden eine Antwort auf das durch die Propheten geredete Wort Gottes hervorrief. Durch die ganze Geschichte des Volkes hindurch lässt sich feststellen, dass die Nation Gedeihen hatte, wenn sie auf die Stimmen ihrer Propheten achteten; anderseits aber auch, dass ihnen aus der Missachtung dieser vom Himmel gesandten Ermahnungen und Warnungen jedes Mal schlimme Folgen erwuchsen.
In der Kirche Gottes ist es nicht anders. Wenn immer die «Bauenden» auf die Propheten achten, die die Gedanken Gottes so entfalten und anwenden, wie sie in seinem Wort mitgeteilt werden, gedeiht ihr Werk; es ist dauerhaft, und sie selbst werden gesegnet. Aber wenn sie gleichgültig gegenüber der göttlichen Führung und Ermahnung sind und nach ihren eigenen Gedanken arbeiten, dann verderben sie das Werk nur, mit dem sie sich beschäftigen und führen Holz, Heu und Stroh, anstatt Gold, Silber und wertvolle Steine ins Haus ein. Ihr Werk mag in menschlichen Augen grösser und erfolgreicher erscheinen, aber die Prüfung des kommenden Tages steht noch aus, und der Herr allein kann beurteilen, was wahrer Erfolg des Dienstes ist.
Nun gab es keine weitere Unterbrechung mehr, denn sie setzten das Werk bis zum Ende fort. Der Geist Gottes bemerkt sorgfältig, dass es vollendet wurde «nach dem Befehl des Gottes Israels und nach dem Befehl Kores' und Darius' und Artasastas, des Königs von Persien.» Alles wurde somit in Gehorsam gegenüber Gott getan und aufgrund der Erlaubnis der irdischen Mächte, denen sie durch Gottes Verordnung unterworfen waren. Gesegnetes Vorrecht dieser Arbeiter, so zu wirken, und keine geringe Ehre, können wir hinzufügen, für diese heidnischen Monarchen, so mit den Absichten Gottes verbunden zu sein und zu deren Ausführung gebraucht zu werden! Ohne Zweifel – und diese Lektion darf nicht übersehen werden – werden die Namen dieser Könige auch aufgeführt, um den Wert zu zeigen, den Gott dem Grundsatz des Gehorsams gegenüber der eingesetzten Autorität beimisst.
Nur dann überschreiten diese eingesetzten weltlichen Mächte die Grenzen ihrer Befugnisse, wenn sie mit ihren Forderungen in das Gebiet eindringen, wo Gottes Ansprüche allein Gültigkeit haben. Im Augenblick, wo menschliche Autorität mit den Ansprüchen Gottes über die Seele zusammenstossen, wird sie null und nichtig. Mit dieser Ausnahme (Apg 4,19) hat der Gläubige sich immer den von Gott verordneten Mächten zu unterziehen (Röm 13).
- 1Wir sagen «nach seiner Bekehrung», doch waren schon verschiedene Jahre seither verstrichen – siehe Galater 1 – aber wir reden entsprechend der Reihenfolge des Berichts.