Esra (6)

Esra 5,1-17

Kapitel 5

Im vorhergehenden Kapitel sahen wir, wie das Volk durch die Tätigkeit Satans vom Werk abgehalten wurde. In den ersten beiden Versen dieses Kapitels finden wir nun den Bericht vom Eingreifen Gottes durch seine Propheten zugunsten seines Volkes, um die Absichten des Feindes zunichtezumachen.

Der Leser möge sich die besondere Lage dieser aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten in Erinnerung rufen. Obwohl durch die Gnade Gottes in ihr eigenes Land zurückgebracht, konnten sie doch die sichtbare Gegenwart des HERRN nicht in ihrer Mitte haben, wie in den Tagen des Königtums; denn Er hatte die Herrschaft über die Erde den Nationen übergeben. Es kam kein Feuer mehr vom Himmel, um ihre Opfer zu verzehren, und die Priester waren ohne die heiligen Urim und Tummim (Kap. 2,63). Gott war daher für sie ausschliesslich ein Gegenstand des Glaubens, und der Gottesfürchtige hatte auszuharren, indem er auf Ihn, den Unsichtbaren blickte.

Gerade in diesem Zusammenhang griff Gott ein, nicht durch einen Akt der Macht, um den Widersacher zu vernichten, sondern durch das Wort der Weissagung, um das Gewissen seines Volkes zu erreichen und ihr Vertrauen in Ihn anzufachen. So stärkte Er sie für den Kampf, den ihr Tun hervorrufen würde, und Er sicherte ihnen zu, dass, solange sie auf Ihn vertrauten, selbst die äussersten Anstrengungen des Feindes vergeblich sein würden.

Daraus erkennen wir die wahre Funktion eines Propheten. Ein anderer hat gesagt: «Weissagung setzt voraus, dass das Volk Gottes in einem schlechten Zustand ist, auch wenn es noch als solches anerkannt ist und Prophezeiungen an sie gerichtet werden. Dagegen besteht keine Notwendigkeit, einem Volk ein machtvolles Zeugnis zuzurufen, das in den Wegen des Herrn glücklich vorangeht, noch den Glauben eines geprüften Überrestes durch die Hoffnung auf die unveränderliche Treue Gottes anzufachen, solange sich dieser in völligem Frieden der Früchte seiner gegenwärtigen Güte erfreut, als einer Folge der Treue des Volkes. Der Beweis dieses einfachen und leicht verständlichen Grundsatzes findet sich in jedem der Propheten.»

Beachten wir im Weiteren, dass der Prophet als ein Mittel der Verbindung mit dem Volk Gottes erweckt wurde, als das verantwortliche Haupt oder die Häupter des Volkes gefehlt hatten. Als das Priestertum unter Eli versagt hatte, war Samuel das von Gott erwählte Gefäss zur Übermittlung seiner Botschaften an das Volk, und sein Dienst wurde auch während der Regierung Sauls fortgesetzt, wenigstens bis David gesalbter König war. Dies erklärt den Umstand, dass die Grössten der Propheten in den dunkelsten Perioden der Geschichte Israels auf dem Schauplatz erschienen, wie zum Beispiel Elia und Elisa. Zu diesem Zeitpunkt waren Serubbabel, der Statthalter, und Jeschua, der Hohepriester, die verantwortlichen Häupter des Überrestes. Aber sowohl sie als auch das Volk waren den zermürbenden Angriffen der Widersacher erlegen und entmutigt, und alle hatten aufgehört, am Haus des HERRN zu bauen. Daher sandte ihnen Gott nun die Propheten Haggai und Sacharja, und diese «weissagten den Juden, die in Juda und in Jerusalem waren, im Namen des Gottes Israels, der über ihnen war» (Vers 1).

Haggai empfing seine erste Botschaft vom HERRN (wie aus einem Vergleich der Zeitpunkte ihrer Weissagungen hervorgeht) zwei Monate vor dem Tag, an dem Sacharja von Gott gebraucht wurde, und es ist als Hinweis für das Versagen der Führer bemerkenswert, dass ihn Gott zuerst zu Serubbabel und zu Jeschua sandte (siehe Hagai 1,1). Es ist nötig, die Botschaften der beiden Propheten in Verbindung mit Esra zu lesen, denn in diesem Buch wird der wahre Zustand des Volkes geschildert. Offensichtlich war es nicht nur die Furcht vor dem Feind, die sie dazu führte, das Werk aufzugeben; ihre eigenen Herzen hatten die Neigung, es sich bequem zu machen. Sie fanden Zeit, ihre eigenen Häuser zu bauen und sagten: «Die Zeit ist nicht gekommen, die Zeit, dass das Haus des HERRN gebaut werde» (Hag 1,1-5). Ach! Wie oft kam es vor, dass das Volk Gottes, sein Bürgertum im Himmel und seine Stellung der Pilgerschaft vergessend, ihre Anstrengungen darauf richtete, in einer Umgebung des Todes und des Gerichts für sich selbst Häuser zu bauen! So wandten sich die Kinder der Gefangenschaft, unberührt vom Anblick des verwüsteten Hauses des HERRN, davon weg, um für sich selbst «getäfelte Häuser» zu errichten. Aber im Gegensatz zu ihnen war Gott gegenüber dem Zustand seines Hauses nicht gleichgültig, und Er «blies» auf den Ertrag ihrer Felder, weil sein Haus wüst lag und jeder für sein eigenes Haus «lief» (Hag 1,6-9).

Haggai wurde gesandt, um auf diesen Zustand aufmerksam zu machen. Seine Worte waren mit einer solchen Energie und Kraft bekleidet, dass die Führer und das Volk selbst innerhalb von kaum drei Wochen aus ihrer selbstsüchtigen Teilnahmslosigkeit erwachten. Sie hörten und auf die Stimme des HERRN, ihres Gottes, und auf die Worte des Propheten Haggai, «so wie der HERR, ihr Gott, ihn gesandt hatte; und das Volk fürchtete sich vor dem HERRN» (vgl. Hag 1,1 mit den Versen 12-15). Es scheint also, dass der erste Vers von Esra 5 das Werk der Propheten zusammenfasst, während der zweite Vers die Wirkung der ersten Botschaft Haggais beschreibt oder vielleicht auch die des prophetischen Dienstes unter dem Volk überhaupt.

«Da machten sich Serubbabel, der Sohn Schealtiels, und Jeschua, der Sohn Jozadaks, auf und fingen an, das Haus Gottes in Jerusalem zu bauen, und mit ihnen die Propheten Gottes, die sie unterstützten» (Vers 2). Diese letzte Aussage bezieht sich auf das fortwährende Wirken der Propheten während des Fortgangs des Baues, durch das der HERR sein Volk ermutigte, ihre Arbeit weiterzuführen, indem Er durch die Weissagungen die zukünftige Herrlichkeit in Verbindung mit dem Kommen des Messias und der Aufrichtung seines Reiches vor ihnen entfaltete. Das Volk baute und die Propheten weissagten, beide füllten den ihnen bezeichneten Platz aus und widmeten sich ihrer Aufgabe in Gemeinschaft mit den Gedanken Gottes. Die Propheten redeten, so wie der Heilige Geist sie trieb (2. Pet 1,21), und der HERR erweckte den Geist der Bauenden (Haggai 1,14). Daher arbeiteten alle in der Kraft des Geistes und alle standen an dem Platz, den ihnen die erhabene Gnade Gottes bezeichnet hatte.

Der Leser beachte, dass das Volk nicht auf die Erneuerung ihres Auftrags zum Bauen seitens des Herrschers der Nationen wartete. Zweifellos waren sie jenen Mächten unterworfen, und gewiss bestand ein Dekret, das ihnen das Bauen untersagte; aber Gott selbst hatte gesprochen. Wenn sie daher dem Kaiser zu geben hatten, was des Kaisers ist, so mussten sie auch Gott geben, was Gottes ist. Wenn Gott sich herablässt zu reden, so haben seine Ansprüche vor allen anderen Erwägungen den Vorrang, welche Folgen auch immer daraus entstehen mögen. Dieser Grundsatz wurde von Petrus und Johannes, den «Bauenden» späterer Tage, erkannt. Als ihnen untersagt wurde, im Namen Jesu zu reden und zu lehren, antworteten sie: «Ob es vor Gott recht ist, auf euch mehr zu hören als auf Gott, urteilt ihr; denn uns ist es unmöglich, von dem, was wir gesehen und gehört haben, nicht zu reden» (Apg 4,19.20). Der Glaube verbindet die Seele mit Gott selbst, mit seinem Willen und mit seiner Kraft, und sie kann daher jede andere Frage getrost Ihm überlassen. So gehorchten diese Kinder der Gefangenschaft der Stimme ihres Gottes und setzten ihr Werk im Bewusstsein fort, dass Er die Herzen aller Menschen in seiner Hand hält und dass Er – wie es im Verlauf der Ereignisse auch geschah – selbst den Widerstand der Feinde benützen kann, um das Werk an seinem Haus zu fördern. Der Bericht über die Weise, in der Gott zeigte, dass Er über allen hochmütigen Anschlägen des Widersachers stand, ist im übrigen Teil dieses Kapitels und in Kapitel 6 enthalten. Zunächst lesen wir, was der heidnische Statthalter und seine Genossen taten:

«In jener Zeit kamen Tatnai, der Statthalter diesseits des Stromes, und Schetar-Bosnai und ihre Genossen zu ihnen und sprachen zu ihnen so: Wer hat euch Befehl gegeben, dieses Haus zu bauen und diese Mauer zu vollenden? Darauf sagten wir ihnen, welches die Namen der Männer wären, die diesen Bau ausführten» (Verse 3 und 4).

Der Statthalter war zweifellos in seinem Recht, wenn er diese Erkundigung einzog, und er handelte nach den Interessen seines Herrschers, da ja ein Dekret erlassen worden war, das den Wiederaufbau der Stadt – jedoch nicht des Tempels – verbot. Er konnte von keinem anderen Befehl Kenntnis haben, als von dem seines eigenen Königs. Die Kinder dieser Welt können die Ansprüche Gottes an sein Volk nie verstehen, und es erscheint ihnen immer als eine Torheit, wenn jemand das Missfallen eines irdischen Monarchen riskiert, um Dem zu gefallen, an den sie, die Weltkinder, selbst nicht glauben.

Auf Verlangen dieser Leute (Vers 10) nannten ihnen die Juden die Namen der Verantwortlichen, die diesen Bau ausführten, damit sie diese Übertreter des Verbots beim König anklagen konnten. Satan steht hinter der Szene; wann immer Gott durch sein Volk auf der Erde handelt, arbeitet Satan sogleich entgegen. Das ist die Belehrung der Worte: «in jener Zeit» (Vers 3). Wir lesen von keiner Verfolgung des Volkes, während der Zeit, in der sie – nach den Worten Haggais – ihre eigenen Häuser bauten und täfelten. Beim Wiederbeginn ihrer Arbeit am Haus des HERRN aber begegneten sie sogleich neuen Schwierigkeiten, ja sogar offenem Widerstand.

Das Haus des HERRN war das Zeugnis Gottes jener Tage, und das ist es, was Satan immer hasst. Wenn sich Gläubige in der Welt niederlassen, von irdischen Dingen erfüllt sind und «Erdbewohner» werden – in sittlicher Hinsicht, meine ich –, wird Satan sie in Ruhe lassen. Sobald sie aber durch den Geist Gottes dazu geführt werden, seine Gedanken zu verstehen und sie in der Folge als ein lebendiges Zeugnis vorangehen, sucht der Widersacher sie durch irgendwelche Listen oder Anschläge, die ihm für sein Ziel passend erscheinen, davon abzulenken. Aber wir haben im Leben unseres Herrn selbst eine deutliche Illustration dafür, dass Satan machtlos ist, Gottes Volk anzugreifen, wenn es in Abhängigkeit und Gehorsam vorangeht (siehe Matthäus 4).

Wenn Satan erbarmungslos ist in seiner Gegnerschaft, so ist Gott anderseits nicht gleichgültig gegenüber den Bedürfnissen und der Schwachheit seiner Knechte, die im Kampf stehen. Nach der neuen Anstrengung des Feindes, die Juden von ihrem Werk abzuhalten, lesen wir die Worte: «Aber das Auge ihres Gottes war über den Ältesten der Juden, dass man ihnen nicht wehrte, bis die Sache an Darius gelangte» (Vers 5). Das Auge Gottes war auf sein geliebtes Volk gerichtet; Er erkannte ihre Gefahr und sorgte dafür, dass sie in der Gegenwart des Feindes den nötigen Mut hatten; Er gab ihnen das Bewusstsein seiner Gegenwart und seines Schutzes und regte sie damit an, an ihrem Werk auszuharren. Es ist für unsere Seelen tatsächlich etwas Wunderbares, im Bewusstsein zu leben, dass das Auge Gottes über uns ist. Dies bewirkt in uns eine heilige Gottesfurcht, die uns zu furchtlosen Menschen macht und uns auch das kostbare Gefühl der überschattenden Gegenwart und des Schutzes Dessen gibt, der uns in seiner Gnade durch unvergängliche Bande mit sich selbst verbunden hat. Ist dies für uns eine Wirklichkeit, werden wir in die siegreiche Herausforderung des Apostels einstimmen: «Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns?» (Röm 8,31). So werden wir befähigt, den Weg des Dienstes in Ruhe und Frieden fortzusetzen, auch wenn wir von mächtigen Feinden umgeben sind, weil wir des allmächtigen Beistands unseres Gottes gewiss sind. Es ist ein Ansporn zum Ausharren und zur Treue.

Als nächstes wird nun die Abschrift des Briefes wiedergegeben, den Tatnai und seine Genossen an den König Darius sandten, aus dem nähere Einzelheiten ihres Besuchs in Jerusalem ersichtlich sind. Eine genauere Betrachtung dieses Briefs wird für uns nützlich sein.

Sie waren vom Werk der schwachen Juden sichtlich beeindruckt, denn sie sagten: «Dem König sei mitgeteilt, dass wir in die Landschaft Juda zum Haus des grossen Gottes gegangen sind; und es wird mit Quadersteinen erbaut, und Balken werden in die Wände gelegt; und diese Arbeit wird eifrig betrieben, und sie gedeiht unter ihrer Hand» (Vers 8). Im Gegensatz zu dem in Kapitel 5 erwähnten Brief vermittelt uns dieser wenigstens einen treuen Tatsachenbericht, wenn auch beide bezweckten, den Fortschritt des Werkes aufzuhalten. Hier gibt der Feind den Bauenden Zeugnis von ihrem Eifer und ihrem Erfolg.

Die Verse 9 und 10 sind eine Wiederholung der Verse 3 und 4 zur Information des Königs, und die Verse 11-16 enthalten die Antwort, die die Ältesten der Juden auf ihre Fragen erteilt hatten. Nichts könnte einfacher und schöner sein als die Weise, in der sie ihre eigene Geschichte und die des Tempels wiedergeben, an dessen Wiederaufbau sie arbeiteten. Gegenüber den Anläufen Satans gibt es keine wirksamere Waffe als das kühne Bekenntnis unseres wahren Charakters. Der Anfang vom Fall des Petrus, oder der erste äussere Schritt dazu, war seine Leugnung, dass er zu Jesus von Nazareth gehörte. Und wie oft ist eine solche Verleugnung seither der Vorläufer der Niederlage und der Beschämung gewesen! Wie gut war es daher, dass diese Juden fähig waren, das offene Bekenntnis abzulegen, dass sie Gottes Diener waren: Dies war ein Segen für ihre eigenen Seelen und bestimmt das Ergebnis davon, dass sie wussten, dass das Auge Gottes auf sie gerichtet war; gleichzeitig war es auch ihre völlige Rechtfertigung dafür, dass sie das Werk trotz des königlichen Dekretes wieder aufgenommen hatten. Im Weiteren erwähnten sie auch die Ursache der Zerstörung des Hauses in vergangenen Tagen: «Unsere Väter haben den Gott des Himmels gereizt», daher «hat er sie in die Hand Nebukadnezars, des Königs von Babel, des Chaldäers, gegeben, und er hat dieses Haus zerstört und das Volk nach Babel weggeführt» (Verse 11 und 12).

Welch eine traurige Geschichte: Salomo hatte das Haus gebaut, Nebukadnezar hat es zerstört; und die Ursache all dieses Unglücks waren die Sünden ihrer Väter! Und welche Langmut, Gnade und Barmherzigkeit Gottes waren zwischen diese beiden Zeitpunkte eingeschlossen, aber auch welche Offenbarung des Menschenherzens, das doch unter göttlicher Pflege stand! Mit einem Wort, zwischen diesen beiden Zeitepochen steht die Geschichte des Reiches unter der Verantwortlichkeit des Menschen. Unter Salomo, dem Fürsten des Friedens, wurde es in Herrlichkeit und Glanz aufgerichtet1 und zerstört unter der Regierung des schwachen und bösen Zedekia (siehe 2. Chr 36,11-21).

Ferner erklärten die Juden, dass das Werk, mit dem sie sich befassten, das Ergebnis eines Dekretes von Kores sei. Um dies zu beweisen, berichteten sie, wie die zum Tempel gehörenden goldenen und silbernen Gefässe, die Nebukadnezar herausgenommen hatte, wieder ihrer Obhut übergeben worden seien (Verse 13-15). Schliesslich fügten sie hinzu: «Da kam dieser Sesbazar und legte den Grund des Hauses Gottes, das in Jerusalem ist; und von da an bis jetzt wird daran gebaut, es ist aber noch nicht vollendet» (Vers 16).

Diese Auskunft der Juden war richtig, und so waren sie völlig gerechtfertigt, sogar nach menschlichen Begriffen; denn es war ein wohlbekanntes Merkmal der Gesetze der Meder und Perser – und Kores war König von Persien –, dass sie nicht abgeändert werden durften (Daniel 6). Ihre Gegner waren im Irrtum, weil sie die Gesetze nicht kannten.

Der jetzt abgesandte Brief schloss mit der Bitte: «Und nun, wenn es der König für gut hält, so werde im Schatzhaus des Königs nachgesucht, das dort in Babel ist, ob es so sei, dass vom König Kores Befehl gegeben worden ist, dieses Haus Gottes in Jerusalem zu bauen; und der König sende uns seinen Willen hierüber zu» (Vers 17).

  • 1David war wohl der erste König nach dem Herzen Gottes, aber es war der Bau des Tempels, der die Einsetzung des Königtums kennzeichnete.