Kapitel 4
Sobald die Grundlage des Tempels gelegt war, erschienen Widersacher auf dem Schauplatz. So war es auch in den Zeiten des Neuen Testaments. Wohin der Apostel auch immer ging und die Grundlage der Versammlung legte, rief dies die gegensätzliche Tätigkeit des Feindes hervor. Daher seine Warnung: «Nach der Gnade Gottes, die mir gegeben ist, habe ich als ein weiser Baumeister den Grund gelegt; ein anderer aber baut darauf; ein jeder aber sehe zu, wie er darauf baut. Denn einen anderen Grund kann niemand legen, ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus» (1. Kor 3,10.11). Aber wie bei Paulus, so war es auch bei Serubbabel und Jeschua: der Feind gab sich den Anschein der Freundlichkeit. «Und die Feinde Judas und Benjamins hörten, dass die Kinder der Wegführung dem HERRN, dem Gott Israels, einen Tempel bauten; und sie traten zu Serubbabel und zu den Häuptern der Väter und sprachen zu ihnen: Wir wollen mit euch bauen; denn wir suchen euren Gott wie ihr; und ihm opfern wir seit den Tagen Esar-Haddons, des Königs von Assyrien, der uns hierher heraufgeführt hat» (Verse 1 und 2).
Der Leser wird bezüglich des Charakters dieser sogenannten Helfer im Werk des Volkes Gottes keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Der Heilige Geist sagt uns deutlich, dass sie «Feinde Judas und Benjamins» waren, obgleich sie Worte des Friedens gebrauchten; denn Er kannte ihre Herzen, ihre Ziele und Zwecke. Und tatsächlich, gerade in den Worten, die sie brauchten, verrieten sie sich schon. Es ist immer so; denn der blosse Bekenner kann die Dinge Gottes nicht verstehen. Sie sagen: «Ihm (Gott) opfern wir seit den Tagen Esar-Haddons, des Königs von Assyrien, der uns hierher heraufgeführt hat.» Dadurch offenbarten sie ihre wahre Herkunft. Sie waren nach ihrem eigenen Bekenntnis nicht Kinder Abrahams, sondern Assyrer und hatten daher keinen Anspruch darauf, Kinder Israels zu sein. Diese Menschen waren die Väter der Samariter (siehe 2. Könige 17,24-41), die bis zum Ende der jüdischen Zeitperiode an den Platz der Vorrechte und der Segnung einzudringen versuchten. Aus diesem Grund und wegen des Streites, der daraus entstand, verkehrten die Juden nicht mit den Samaritern.
Für uns selbst können wir aus diesem Zwischenfall die Quelle einer der ernstesten Gefahren für das Werk des Herrn erkennen. Die Küsse eines Feindes sind sowohl trügerisch als auch gefährlich und erfordern Widerstand, mag es noch so unfreundlich erscheinen, die angebotene Hilfe von solchen zurückzuweisen, die Freunde zu sein bekennen. Die Kirche hat zu ihrem Schaden diese Wahrheit nicht nur vergessen, sondern in ihrem Werk sogar systematisch die Hilfe der Welt gesucht. So ist sie verdorben und eine Illustration für das alte Sprichwort geworden: «Das Verderben der besten Sache ist das schlimmste Verderben.»
Serubbabel, Jeschua und die Mitbauenden waren von Gott geleitet; sie erkannten und durchschauten die Schliche des Feindes. Auf das verführerische Angebot antworteten sie: «Es geziemt euch nicht, mit uns unserem Gott ein Haus zu bauen; sondern wir allein wollen dem HERRN, dem Gott Israels, bauen, wie der König Kores, der König von Persien, uns geboten hat» (Vers 3). Einigen mag es scheinen, dass diese Führer des Volkes eine gar zu enge und exklusive Haltung eingenommen hätten, aber sie handelten darin nach den Gedanken des HERRN und gründeten sich auf einen göttlichen Grundsatz, der immer noch gültig ist, nämlich auf den, dass nur das Volk des Herrn am Werk seines Hauses mitarbeiten darf. Andere mögen sich Mitbauende nennen und den Wunsch zum Ausdruck bringen, an seinem Werk mitzuwirken, aber sie können nur mit Holz, Heu und Stroh bauen; und der Apostel hat für alle Zeiten die ernste Warnung ausgesprochen: «Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben; denn der Tempel Gottes ist heilig» (1. Kor 3,17). Keine Verlegenheit oder Schwierigkeit, noch irgendwelche andere Umstände rechtfertigen eine Verbindung der Kirche mit der Welt und die Annahme weltlicher Gunst oder Mithilfe am heiligen Werk des Herrn. Als solche, die nicht von der Welt sind, wie Christus nicht von der Welt ist, würden wir unseren eigenen Charakter und den der Welt selbst verleugnen, wenn wir den am Kreuz enthüllten, immerwährenden Gegensatz zwischen uns und ihr nicht gelten lassen wollten (siehe Galater 6,14; Johannes 15,18-21).
Die wahre Natur des Angebotes der Feinde Judas und Benjamins zeigte sich, als es zurückgewiesen wurde. Denn was lesen wir? «Da suchte das Volk des Landes die Hände des Volkes Juda schlaff zu machen und sie vom Bauen abzuschrecken. Und sie dingten Ratgeber gegen sie, um ihren Plan zu vereiteln, alle Tage Kores', des Königs von Persien, und bis zur Regierung Darius', des Königs von Persien» (Verse 4 und 5). Nachdem ihre Absicht, das Werk zu verderben, an dem die aus der Gefangenschaft Zurückgekehrten arbeiteten, durchkreuzt war, legten sie die Maske der Freundschaft ab und suchten es durch offene Feindschaft aufzuhalten. Das ist die Methode, nach der Satan in jedem Zeitalter handelt. Er und seine Diener verwandeln sich oft in Engel des Lichts und in Diener der Gerechtigkeit, weil es leichter ist, die Heiligen zu überlisten als ihnen offen entgegenzutreten. Sobald aber seine Gegenwart und seine Tätigkeit entdeckt und bekanntgemacht werden, gerät er in Wut. Wie sollte es ihm daran liegen, den Bau des Hauses Gottes zu fördern? Dessen Grundlage ist ja Christus, «und welche Gemeinschaft hat Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial?» (2. Kor 6,14.15). Aber ach! Satan errang in dem vor uns liegenden Fall doch einen zeitlichen Vorteil! Durch seine Machenschaften, durch die er unter dem Volk Furcht und Unglauben hervorrief, gelang es ihm, den Bau des Tempels sogar bis zur Regierung Darius', des Königs von Persien, aufzuhalten.
Man beachte, dass die beiden Verse 4 und 5 eine Zusammenfassung der ganzen Aktivität der Feinde Israels sind, während der Herrschaft Kores', Ahasveros' und Artasastas, und dass sich daher Vers 24 an Vers 5 anschliesst. Der dazwischenliegende Abschnitt erklärt, auf welche Weise die Feinde Judas und Benjamins ihre Absicht verwirklichen konnten. Überdies scheint es uns, wenn wir die Prophezeiungen Haggais mit diesem Kapitel vergleichen, dass die Kinder Israel schon lange bevor das Verbot in Kraft trat, zu bauen aufhörten. Denn aus Haggai 2,15 geht hervor, dass der Bau seit der Grundlegung, wenn überhaupt, so doch nur einen kleinen Fortschritt gemacht hatte. Die Furcht vor ihren Widersachern war grösser als ihr Vertrauen in Gott. Daher verloren sie den Mut, dachten an sich selbst und an ihre eigenen, selbstsüchtigen Interessen. Sie begannen ihre eigenen Häuser zu bauen und zu sagen: «Die Zeit ist nicht gekommen, die Zeit, dass das Haus des HERRN gebaut werde» (Hag 1,2). Wohl waren sie nur ein schwacher Überrest und ihre Feinde zahlreich und aktiv. Aber in einem ihrer eigenen Psalmen hätten sie lesen können: «Als Übeltäter mir nahten, um mein Fleisch zu fressen – meine Bedränger und meine Feinde –, sie strauchelten und fielen. Wenn ein Heer sich gegen mich lagert, nicht fürchtet sich mein Herz; wenn Krieg sich gegen mich erhebt, hierauf vertraue ich: Eins habe ich von dem HERRN erbeten, danach will ich trachten: zu wohnen im Haus des HERRN alle Tage meines Lebens, um anzuschauen die Lieblichkeit des HERRN und nach ihm zu forschen in seinem Tempel» (Ps 27,2-4). Aber ach! Unsere eigenen Herzen verstehen die Schwachheit und die Furcht dieser armen Gefangenen nur zu gut. Wie leicht werden wir durch die Demonstrationen der Macht des Feindes entmutigt, wenn wir vergessen, dass, wenn Gott für uns ist, niemand in seinen bösen Plänen gegen uns Erfolg haben wird. Mit anderen Worten: Wir verzagen, wenn wir statt durch Glauben nach dem Sichtbaren wandeln. Das Versagen des Volkes Gottes in diesem Kapitel ist also gleicher Art wie das Versagen seiner Knechte zu allen Zeiten.
Die Verse 6-23 schildern uns die Einzelheiten des Weges, auf dem die Feinde des Volkes Gottes ein ihrem Willen entsprechendes königliches Dekret erwirkten, das den Aufbau des Tempels verbot. Ein ähnlicher Versuch schien in der Regierungszeit des Ahasveros misslungen zu sein (Vers 6), aber nichts liess sie davon abhalten, ihr Anliegen Artaxerxes, seinem Nachfolger wieder vorzubringen, und nun konnten sie ihr Ziel erreichen.
Im Bericht über ihr Vorgehen gibt es einige Punkte, die für uns lehrreich sind.
Der erste ist der, dass alle Völkergruppen des Landes gegen Jerusalem eingestellt waren. «Rechum, der Statthalter, und Schimschai, der Schreiber, und ihre übrigen Genossen, Diniter und Apharsatkiter, Tarpeliter, Apharsiter, Arkewiter, Babylonier, Susaniter, Dehiter und Elamiter und die übrigen Völker, die der grosse und erlauchte Osnappar wegführte und in den Städten Samarias und im übrigen Gebiet jenseits des Stromes wohnen liess» (Verse 9 und 10). Alle diese verbanden sich, um das Werk des HERRN im Bau seines Hauses zu verhindern. Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, und daher ist es nicht schwierig, wenn Gott und sein Zeugnis infrage stehen, unter seinen Feinden Widersacher zu sammeln. So verschieden diese auch unter sich sein und einander gar hassen mögen, so haben sie doch nur einen Sinn, wenn Gott auf dem Schauplatz erscheint. Dies trat im Fall unseres geliebten Herrn besonders deutlich in Erscheinung, als die Könige der Erde auftraten und die Fürsten miteinander gegen den HERRN und gegen seinen Gesalbten beraten (Ps 2): Herodes und Pilatus, die vorher gegeneinander in Feindschaft waren, wurden durch die gegenseitige Geringschätzung Christi Freunde.
Auf diese Weise hat sich Satan als der Gott dieser Welt erwiesen, denn es gelang ihm, Hohe und Niedrige gegen den Sohn Gottes zu verbinden und zum Kampf aufzustellen – sowohl Römer und Juden, zivile, religiöse und militärische Autoritäten als auch das gewöhnliche Volk –, und er führte eine Truppe an, die von seinem eigenen Geist und Sinn erfüllt war, um Christus aus dem Land der Lebendigen abzuschneiden. Noch einmal in der Geschichte der Welt wird er seine Macht über die Herzen sündiger Menschen beweisen, aber dann zu seinem eigenen und ach! zum ewigen Verderben seines Anhangs (Off 19 und 20). So war Satan auch in unserem Kapitel, obgleich verborgen, der Handelnde, indem er diese verschiedenen Völker zu ihrem bösen Tun gegen das Werk des Überrestes aufstachelte.
Das geht auch aus dem nächsten bemerkenswerten Punkt hervor. In dem an den König adressierten Brief schreiben sie: «Dem König sei mitgeteilt, dass die Juden, die von dir heraufgezogen sind, zu uns nach Jerusalem gekommen sind; sie bauen die aufrührerische und böse Stadt wieder auf und vollenden die Mauern und bessern die Grundlagen aus» (Vers 12). Diese Erklärung verrät die Sprache des «Verklägers der Brüder»; denn sie war trügerisch und von Satan eingegeben, von dem gesagt wird: «Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Eigenen, denn er ist ein Lügner und ihr Vater» (Joh 8,44). Die Juden waren doch noch weit davon entfernt, die Mauern der Stadt zu vollenden und die Grundlagen auszubessern! Sie hatten ja noch kaum die Grundlagen des Tempels gelegt! Und beachten wir, obwohl diese «Feinde Judas und Benjamins» den Wunsch geäussert hatten, beim Aufbau des Tempels zu helfen, da auch sie schon lange dem Gott Israels geopfert hätten, so unterliessen sie in ihrer Anklage doch jede Bezugnahme auf den Tempel und sprachen nur von der Stadt. Der Grund war offensichtlich. Der Aufruf des Kores betraf den Tempel. Wenn sie daher die Juden bezichtigten, dass sie die Stadt bauten, gaben sie dem Ganzen den Anstrich von Rebellion und verräterischem Handeln, und aus der Antwort des Königs geht hervor, dass sie sich in der Wirkung ihrer Anklage nicht verrechnet hatten (Verse 19 und 20).
Ein weiterer Punkt, der nicht übersehen werden darf, ist der, dass die Sünde Israels in der Vergangenheit für diese Kinder der Gefangenschaft bittere Früchte trug. Ihr letzter König, Zedekia, hatte «bei Gott geschworen», gegenüber Nebukadnezar treu zu sein, dann aber seinen Schwur gebrochen, sich gegen den König von Babel empört und so die Zerstörung Jerusalems herbeigeführt und auch das Gericht Gottes auf sich herabgezogen (siehe 2. Chr 36,13; Hes 17,12-16). Die Bemerkung in der Anklageschrift, dass Jerusalem eine aufrührerische Stadt sei, war also zutreffend. Wenn der Überrest auch unter der Gunst und dem Schutz Gottes stand und ihnen niemand Böses tun konnte, solange sie auf Ihn vertrauten, so hatten sie doch in seinen Regierungswegen über diese Welt unter den Folgen der Sünden ihrer Väter zu leiden. Doch hätten diese Gegner keine Macht gegen das Volk Gottes gehabt, wenn das Volk nicht selbst sein Vertrauen in Gott und den Eifer für sein Werk verloren hätte. Der Apostel schrieb: «Denn eine grosse und wirkungsvolle Tür ist mir aufgetan, und die Widersacher sind zahlreich» (1. Kor 16,9). Aber keiner dieser Widersacher konnte sein Werk hindern, weil er mit Dem rechnete, «der da öffnet, und niemand wird schliessen». So war das Versagen also der eigenen Trägheit und dem Unglauben des Überrestes zuzuschreiben; denn sie unterbrachen das Werk schon bevor das Verbot ausgesprochen wurde.
Die beiden Gründe, die angegeben wurden, um den König zum Einspruch zu veranlassen, konnten seine Interessen «diesseits des Stromes» gefährden und seine Einkünfte verringern.
Nachdem der König diese Behauptungen bezüglich des Charakters der Stadt in der Vergangenheit anhand der Aufzeichnungen in den königlichen Archiven hatte nachprüfen lassen, schrieb er: «So gebt nun Befehl, diesen Männern zu wehren, damit diese Stadt nicht wieder aufgebaut werde, bis von mir Befehl gegeben wird. Und hütet euch, hierin einen Fehler zu begehen. Warum sollte der Schaden wachsen, um den Königen Nachteil zu bringen?» (Verse 17-22). Die Feinde hatten also einen Erfolg errungen. Sobald sie den Brief empfangen hatten, gingen sie, mit königlicher Autorität versehen, unverzüglich nach Jerusalem und wehrten den Juden mit Gewalt und Macht, weiter am Haus des HERRN zu bauen.
Das Kapitel schliesst mit der Feststellung: «Damals hörte die Arbeit am Haus Gottes in Jerusalem auf, und sie unterblieb bis zum zweiten Jahr der Regierung des Königs Darius von Persien» (Vers 24). Dieser letzte Vers ist also mit dem Vers 5 verbunden und zeigt das Ergebnis des feindlichen Widerstands, von dem die Verse 4 und 5 eine allgemeine Zusammenfassung geben. Im Ganzen ist es ein trauriges Kapitel – der Bericht von der Tätigkeit Satans. Der einzige Lichtblick darin ist die Treue der Führer Israels, in der sie sich weigerten, mit der Welt ein Bündnis einzugehen. Gott erscheint nicht in diesem Kapitel, und, mit menschlichen Augen betrachtet, macht es den Anschein, als ob der Feind einen völligen Sieg errungen hätte. Aber wenn sich Gott auch nicht dazwischen stellt, so ist Er gegenüber den Geschehnissen doch keineswegs ein uninteressierter Zuschauer. Wie der Zustand seines Volkes auch immer sein mag – Er bleibt treu. Obwohl Er sein Volk jetzt gründlich prüfte, wartete Er nur den geeigneten Augenblick ab, um eine Macht zu erwecken, der der Feind nicht widerstehen konnte. Sie wird seine Knechte aus ihrem Schlaf aufwecken und sie in der Verfolgung des Zieles antreiben, für das sie aus Babylon zurückgeführt worden sind.