Kapitel 6,15-22
Nun wird das Datum genannt, an dem das Haus vollendet wurde: am 3. Tag des Monats Adar, im 6. Jahr der Regierung des Königs Darius. Sie waren somit vier Jahre mit dem Wiederaufbau des Tempels beschäftigt gewesen (Kap. 4,24). Wie viele Jahre seit der Grundlegung verflossen waren, kann hingegen nicht genau festgestellt werden, da die Dauer der Regierung der Könige zwischen Kores und Darius nicht angegeben wird. Es mochten kaum weniger, vielleicht sogar mehr als zwanzig Jahre sein. Mit welcher Langmut und Geduld hatte Gott das Versagen seines Volkes ertragen! Nachdem nun sein Ziel erreicht und das Haus gebaut ist, lenkt Er unsere Aufmerksamkeit mit Freuden auf die Arbeit seines Volkes! Wenn auch alles durch seine Gnade zustande gekommen ist, so rechnet Er in derselben Gnade doch seinem Volk an, was Er selbst gewirkt hat. So war es von jeher, und so wird es auch immer sein, wie der Richterstuhl es deutlich machen wird. Denn wenn einige von uns für das Gute, das sie im Leib getan haben, Belohnung empfangen, so werden sie zum Preise Gottes gern bekennen, dass Er selbst die Quelle und die Kraft aller guten Werke war, die Er ihnen zu tun gab.
Nach der Feststellung, dass das Haus des HERRN vollendet ist, folgt als nächstes der Bericht über dessen Einweihung.
«Die Kinder Israel, die Priester und die Leviten und die übrigen Kinder der Wegführung feierten die Einweihung dieses Hauses Gottes mit Freuden. Und sie brachten dar zur Einweihung dieses Hauses Gottes 100 Stiere, 200 Widder, 400 Lämmer; und zum Sündopfer für ganz Israel 12 Ziegenböcke, nach der Zahl der Stämme Israels. Und sie bestellten die Priester in ihre Klassen und die Leviten in ihre Abteilungen zum Dienst Gottes in Jerusalem, nach der Vorschrift des Buches Moses» (Verse 16-18).
Es war nur natürlich, dass sie sich jetzt freuten, denn das Haus ihres Gottes war doch der Ausdruck aller Segnungen des Bundes, in dem sie standen. Endlich, nach ermüdenden Jahren der Arbeit, der Schwachheit, der Schwierigkeiten, der Enttäuschungen und der Leiden, stand es vor ihren Augen vollendet da. Zu diesem Zweck waren sie aus Babel herausgeführt worden, und wenn einige von ihnen mit Tränen gesät hatten, so konnten sie nun mit Freuden ernten. Aber ihre eigene Schwachheit und die Armut ihrer Umstände kann aus dem Gegensatz dieser Einweihung mit der des Tempels Salomos ermessen werden. Damals opferte der König 22'000 Rinder und 120'000 Schafe, nebst dem Klein- und Rindvieh, das vor der Lade geopfert wurde, das nicht berechnet und nicht gezählt werden konnte vor Menge (2. Chr 7,5; 5,6). Hätten sie es von dieser Seite angesehen, wäre ihre Freude – wie bei der Grundlegung – wohl auch von Klagen und Tränen begleitet gewesen. Der Glaube hingegen hat es mit unsichtbaren Dingen zu tun, und er konnte dem Geist dieses schwachen Überrestes in Erinnerung rufen, dass der HERR für sie nicht weniger mächtig und nicht weniger gnädig war als für Salomo.
Das Haus mochte weniger herrlich und sie selbst nur arme Untertanen eines heidnischen Monarchen sein; doch weil Gott für sie war, waren die für den Glauben zugänglichen Hilfsquellen wie eh und je überströmend. Auch uns kann sich die Wahrheit nicht zu tief in den Sinn einprägen, dass Christus für sein Volk an einem Tag der Schwierigkeit derselbe bleibt wie in einer Zeit der Wohlfahrt. In der Kraft dieser Tatsache zu leben, erhebt uns über die Umstände wie nichts anderes sonst, und gibt uns Mut, voranzueilen, wie gross auch die Gefahren des Weges sein mögen.
Bei diesen Kindern der Gefangenschaft war der Glaube wirklich tätig: sie opferten ein Sündopfer für ganz Israel. Obwohl nicht ganz Israel anwesend war – nur Vertreter von zwei oder drei Stämmen – standen diese wenigen vor Gott auf dem Boden der Nation. Sie verstanden dies und schlossen somit alle Stämme Israels in ihr Sündopfer ein. – Dies ist auch eine bedeutsame Lektion für den in diesen letzten Tagen zum Namen des Herrn Jesus Christus versammelten Überrest. Es mögen nur wenige sein, die dazu noch arm und schwach sind; aber wenn sie die Wahrheit ihrer Stellung erfassen, werden sie alle Glieder des einen Leibes in ihre Herzen und ihre Gebete einschliessen. Sie werden im Geist den Boden einnehmen, auf den sie «mit allen Heiligen» gestellt worden sind, sonst werden sie zu den vielen Sekten, die die Kirche schon zertrennen, nur noch eine andere hinzufügen. Ist der Glaube lebendig, so ist es nicht schwierig, diesen Standpunkt einzunehmen; denn der Glaube, der sich einerseits mit Gott verbindet, weiss sich anderseits auch eins mit seinem ganzen Volk.
Der Überrest war in diesem Augenblick auch durch Gehorsam gekennzeichnet. Sie regelten den Dienst des Hauses Gottes durch die Priester und Leviten «nach der Vorschrift des Buches Moses». – Der Weg des Gehorsams, sei es für den Einzelnen, sei es für die Versammlung, ist der einzige Weg des Segens. – Jetzt, nachdem das Haus Gottes gerade vollendet worden war, wäre es ihnen töricht erschienen, wenn der Mensch seine eigenen Gedanken in den Dienst des Hauses Gottes eingeführt hätte. Sie wünschten nur zu erkennen, was Gott gesagt und was Er angeordnet hatte. – So war es auch, als am Pfingsttag das Haus Gottes aus lebendigen Steinen gebaut wurde, und so war es wiederum, als Gott in seiner Gnade am Anfang des 19. Jahrhunderts das Wiederaufleben der Wahrheit bezüglich der Versammlung bewirkte. Aber was sich nach dem AbscheidenAbscheiden Abscheiden der Apostel ereignete, geschieht auch jetzt wieder: Das Wort Gottes, das der alleinige Regulator seines Hauses sein soll, wird oft durch den Menschen ersetzt, der nach seinem eigenen Ermessen und nach seiner eigenen Weisheit Anordnungen trifft. Auch der jüdische Überrest verfiel dieser Gefahr, wie aus Esra 10 hervorgeht.
Keine Gefahr ist heimtückischer als die des allmählichen Einschleichens menschlicher Gedanken und Anordnungen als Ersatz für die Weisungen des Wortes Gottes. Wenn auch nicht beabsichtigt, so ist dies doch eine Verdrängung des Herrn von seinem Platz der Oberhoheit über sein Volk. Nie war es nötiger als jetzt, sich an die Worte unseres auferstandenen Herrn zu erinnern: «Wer ein Ohr hat, höre, was der Geist den Versammlungen sagt!»
Auf die Einweihung des Hauses folgte nach einer kurzen Zwischenzeit die Feier des Passahs: «Die Kinder der Wegführung feierten das Passah am vierzehnten Tag des ersten Monats. Denn die Priester und die Leviten hatten sich gereinigt wie ein Mann; sie waren alle rein. Und sie schlachteten das Passah für alle Kinder der Wegführung und für ihre Brüder, die Priester, und für sich selbst. Und die Kinder Israel, die aus der Wegführung zurückgekehrt waren, assen, und jeder, der sich von der Unreinheit der Nationen des Landes zu ihnen abgesondert hatte, um den HERRN, den Gott Israels, zu suchen. Und sie feierten das Fest der ungesäuerten Brote sieben Tage mit Freuden; denn der HERR hatte ihnen Freude gegeben und ihnen das Herz des Königs von Assyrien zugewandt, so dass er ihre Hände stärkte im Werk des Hauses Gottes, des Gottes Israels» (Verse 19-22).
Die Verbindung ist ausserordentlich schön. Nachdem nun das Haus ihres Gottes vollendet war, feierte das Volk das Gedächtnis seiner Erlösung aus dem Land Ägypten, und dachte zum Preise des HERRN an den Boden, auf dem sie standen, und an die Tatsache, dass das Blut des geschlachteten Lammes die Grundlage aller ihrer Segnungen, aller Taten der Gnade Gottes für sie war. Das Passah war, nach den Worten von Mose, «eine Nacht, die dem HERRN zu halten ist, weil er sie aus dem Land Ägypten herausführte; ebendiese Nacht gehört dem HERRN, sie ist zu halten von allen Kindern Israel bei ihren Geschlechtern» (2. Mo 12,42). Nichts hätte besser zeigen können, dass die Kinder der Gefangenschaft in diesem Augenblick in Übereinstimmung mit den Gedanken des HERRN waren, als ihr Halten des Passahs. Sie gingen in Gedanken durch die Jahrhunderte zurück, an den Herrlichkeiten des Königtums vorbei, bis sie die Grundlage alles dessen erreichten, was sie besassen, sowohl in Wirklichkeit als auch bezüglich der Zukunft, und an diesem Punkt bekannten sie Gott als den Gott ihres Heils. Sie bauten somit auf das, was Gott aufgrund des Blutes des Passahlammes für sie war, und fanden darin, was auch die einzelnen Seelen darin finden: einen unveränderlichen und unbeweglichen Felsen. Ihr Herz war an diesem Fest beteiligt, «denn», so lesen wir, «die Priester und Leviten hatten sich gereinigt wie ein Mann; sie waren alle rein» (vgl. 4. Mose 9,10-14). Sie hatten erfasst, was sich Dem gegenüber geziemte, Dessen Fest sie feierten.
Ausser ihnen waren noch andere da, die sich mit ihnen dieser Vorschrift unterzogen, solche, die «sich von der Unreinheit der Nationen des Landes zu ihnen abgesondert hatten, um den HERRN, den Gott Israels, zu suchen». Ob es sich hier um die wenigen Israeliten handelte, die im Land zurückgelassen worden waren, als ihre Brüder einst gefangen weggeführt worden waren, oder ob es solche von den Nationen waren, wird nicht erwähnt. In 2. Mose 12,43 wird gesagt: «Kein Fremder soll davon essen.» Doch wird hinzugefügt: «Wenn ein Fremder bei dir weilt und dem HERRN das Passah feiern will, so werde alles Männliche bei ihm beschnitten, und dann komme er herzu, es zu feiern» (Vers 48, siehe auch 4. Mose 9,14). Vermutlich waren es daher «Fremde»,1 und wenn dem so war, so hatten sie sich den Kindern der Gefangenschaft deshalb angeschlossen, weil sie sich von der göttlichen Kraft angezogen fühlten, die sich in der Trennung vom Bösen bei ihnen zeigte. Ach! Wir lesen nicht, dass weitere in dieser Weise angezogen wurden, vielmehr neigten sich die Kinder Israel wieder zu den Heiden. So ist es immer mit dem Volk Gottes. Wenn der Geist Gottes in ihrer Mitte wirkt und sie als Folge davon in gewissem Mass gemäss ihrer Berufung wandeln, so wird es manche geben, die, angezogen von dem, was sie sehen, ihre Gesellschaft und Gemeinschaft suchen. Wenn aber Leben und Kraft schwinden und Gleichgültigkeit und Kälte zutage treten, so ist die Welt die Anziehende und nicht die Kirche. So übt also jede Bewegung in der Versammlung Gottes am Anfang einen grossen Einfluss aus, weil dann die Entfaltung der Kraft des Geistes offensichtlich ist.
Nach dem Passah feierten sie, entsprechend dem Wort Gottes, sieben Tage lang mit Freuden das Fest der ungesäuerten Brote (siehe 2. Mose 13). Dieses Fest folgte unmittelbar auf das Passah; seine besondere Bedeutung ist davon abgeleitet. Der Apostel Paulus hat es uns erklärt. Er sagt: «Denn auch unser Passah, Christus, ist geschlachtet worden. Darum lasst uns Festfeier halten, nicht mit altem Sauerteig, auch nicht mit Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit Ungesäuertem der Lauterkeit und Wahrheit» (1. Kor 5,7.8). Das will sagen: Sobald wir erlöst sind, erwartet und wünscht Gott von uns, dass wir durch ein heiliges Leben seinen Anforderungen entsprechen, in der Trennung vom Bösen und der Absonderung zu Ihm hin. Das Fest dauerte sieben Tage, also einen vollkommenen Zeitabschnitt lang, der im Vorbild unser ganzes Lebens darstellt. «Ihr seid nicht euer selbst, denn ihr seid um einen Preis erkauft worden» (1. Kor 19.20). Das ist, wenn auch die Worte ändern, der unveränderliche Grundton, der uns immer wieder dieselbe Lektion lehrt: «Seid heilig, denn ich bin heilig.» Sauerteig soll in unseren Wohnungen nicht gefunden werden; wir sollen das Fest allezeit mit Ungesäuertem der Lauterkeit und Wahrheit feiern. Diese beiden Dinge sollten auch nie von der Lehre getrennt werden:
- Wenn uns in der Erlösung überströmende Gnade zuteilwurde, so soll diese Gnade auch in den Herzen der Erlösten wirken;
- wenn uns Gott aus der Welt herausruft, so sollten wir nicht dahin zurückkehren und unser Zuhause wieder in der Welt suchen;
- wenn wir durch Gnade im kostbaren Blut Christi gewaschen sind, so sollen wir darauf achten, dass wir unsere Kleider unbefleckt erhalten.
Ist also das Gedächtnis unserer Erlösung kostbar für uns, lieben wir es, um den Tisch des Herrn versammelt zu sein, angesichts der Symbole seines Leibes und seines Blutes, so lasst uns auch mit Freuden das Fest der ungesäuerten Brote feiern, zum Zeugnis für Den, der uns erlöst hat, und zur Verherrlichung seines Namens.
Das war eine Zeit der Freude für diesen armen Überrest; denn der Segen Gottes ruhte auf ihm, und das Herz des heidnischen Königs war ihnen zugewandt. Für eine Weile waren die Wolken verschwunden, und sie konnten im Sonnenschein himmlischer und irdischer Gunst stehen.
Hier schliesst der erste Teil dieses Buches; die verbleibenden vier Kapitel beschäftigen sich mit dem Auftrag und dem Werk Esras.
- 1Dieser Schluss mag infrage gezogen werden. Der Leser möge dies prüfen und nach eigenem Urteil seine Meinung bilden.