Es gibt im menschlichen Wortschatz keinen Begriff, der die aussergewöhnliche Liebe Christi auszudrücken vermöchte, eine Liebe, die den allmächtigen Gott, den Schöpfer aller Dinge, als wahrhaftigen Menschen ans Kreuz, in die Mitte von Menschen brachte, die Ihn schmähten, ohne dass Er ihnen auch nur mit einem einzigen Wort geantwortet hätte. Er hätte seine Feinde vernichten oder diesen Schauplatz verlassen können. Aber Er tat es nicht. Das Werk des Vaters musste vollbracht werden, und Christus führte es mit einer unvergleichlichen Vollkommenheit aus, die durch die ausserordentlichen und erschwerenden Umstände, unter denen es geschah, nur umso mehr hervorgehoben wurde. Es war selbstverständlich, dass Jesus inmitten der ganzen, gegen Ihn gerichteten Bosheit des Menschen, die Er so tief empfand, Hilfe bei dem suchte, der bis dahin ununterbrochen seine Kraft gewesen war – doch gerade in diesen Augenblicken musste Er feststellen und verkünden, dass Gott Ihn verlassen hatte.
Sein Gott hat Ihn in den schlimmsten Umständen verlassen, die es geben kann. Er aber hat dabei das Vertrauen in seinen Gott nicht aufgegeben. Doch fand dieses Vertrauen im Herzen Jesu, das durch unveränderliche Treue, durch Gehorsam, durch die Liebe zum Vater und zu uns unterhalten wurde, in jenen Stunden keine Nahrung oder Stärkung, wie sie in einer Antwort Gottes gelegen hätte.
Die Prüfung musste zum Höchstmass kommen: Gottes Liebe zu den Menschen zögerte nicht, seinen Geliebten einer totalen Prüfung zu unterziehen. Aber auch die Liebe Christi schreckte nicht davor zurück. Er erwies sich als über alle Prüfung erhaben, dadurch, dass Er in sich allein die Kraft fand, um unter den in diesem Psalm geschilderten Umständen durch das Verlassensein und den Zorn Gottes zu gehen.
Wir stehen hier auf dem heiligsten Boden, den es im ganzen Universum Gottes gibt, und es geziemt sich uns, «die Schuhe auszuziehen».
In Jesaja 53,10 finden wir den Ausdruck: «Dem HERRN gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen.» Dass es Gott «gefiel», genügte dem Sohn – der allezeit im höchsten Sinn des Wortes gehorsam und immer mit dem beschäftigt war, was Seinem Vater wohlgefiel – sich diesem Leiden zu unterziehen, das Ihm nach Gottes Ratschluss auferlegt wurde. Die Fortsetzung in diesem Vers: «Wenn seine Seele das Schuldopfer gestellt haben wird …» zeigt, dass Jesus den Willen seines Vaters völlig annahm und ausführte.
Wie einzigartig und bewunderungswürdig war es, dass der Herr in seiner schrecklichen Lage in keiner Weise nach irgendeiner anderen Hilfsquelle suchte! Wir haben Mühe, dies zu begreifen, weil wir in schweren Prüfungen unsere Hilfsquellen so leicht in diesem oder jenem Tröster oder in den Anstrengungen unseres Eigenwillens suchen. Der Herr aber hatte keinen Eigenwillen, nichts schützte Ihn. Seine Leiden der Seele und des Leibes lagen wie eine offene Wunde da, um weitere Schläge zu empfangen, Schläge von Menschen und Schläge von Gott. Nicht nur antwortete der Herr auf das Tun jener bösen, gewalttätigen Menschen mit keiner Kundgebung seiner Macht, nicht nur empfand Er ihnen gegenüber keinerlei Rachegefühl – Er legte im Gegenteil Fürbitte für sie ein – sondern es regte sich in Ihm nicht einmal ein Gefühl der Selbstverteidigung. Das ist in seiner Vollkommenheit etwas absolut Einzigartiges.
Gerade weil in jenen drei Stunden die Herrlichkeit des Herrn auf so wunderbare Weise hervorstrahlte, so unternimmt der Feind die grössten Anstrengungen, die herrliche Klarheit des Kreuzes in der Christenheit und sogar unter den wahren Gläubigen zu verdunkeln. Wir halten zwar, was uns betrifft, daran fest, dass wir ohne das Kreuz kein Heil besässen, eine Wahrheit, die nicht überall bewahrt wird. Aber welchen Verlust haben wir, wenn wir es nicht verstehen, gemeinsam am Fuss des Kreuzes zu bleiben! Welche Einbuße erleidet die Kirche, wenn sie jetzt nicht dort zu verweilen weiss, um sich in jene Szene zu vertiefen, die sie doch in Ewigkeit betrachten wird! Welch ein Verlust auch für den einzelnen Christen, wenn er Seinen Blick von dem Kreuz des Herrn abzieht! Ihn betrachten, das ist die verborgene Triebfeder aller christlichen Tätigkeit.
Es ist unzweifelhaft, dass in der ersten Zeit des christlichen Zeugnisses die Betrachtung des Kreuzes im Herzen der Gläubigen einen ersten Platz eingenommen hat. Unsere heimgegangenen Brüder wurden dahin geführt, diesen Gegenstand zu ergründen, nicht durch theologisch-wissenschaftliches Studium, sondern durch ehrfürchtige Erforschung des Wortes, unter Mithilfe des Heiligen Geistes. Sie haben Christus auf dem Kreuz betrachtet, nicht nur als unseren Sündenträger, sondern auch als den, der dort seine unerforschlichen, persönlichen Vortreffendkeiten offenbarte. Sie betrachteten aber auch Christus in der Herrlichkeit; denn das Kreuz und die Herrlichkeit berühren sich.
Das Teil, das einst Maria gewählt hat, ist ein wirklich gutes Teil, und es sollte auch das unsere sein. Sich viel an diesem Ort aufzuhalten, bedeutet keinen Zeitverlust; da nährt und bereichert sich die Seele und geht in die Freuden und Gedanken Gottes ein. Sie hat davon grossen Nutzen und Erbauung, und die Beschäftigung mit dem Kreuz führt sie auch zu einer einsichtsvolleren Anbetung.
Es ist wichtig, in der Erkenntnis dessen, was auf Golgatha geschehen ist, wohlgegründet zu sein. Unsere Vorgänger haben mit aller Energie an der grundlegenden Wahrheit festgehalten, dass die Sühnung ausschliesslich während der drei Stunden der Finsternis geschehen ist, obwohl diese Kämpfer für die Wahrheit darum stark angegriffen und sogar der Lästerung bezichtigt wurden. Wir, die wir jetzt in den letzten Zeiten des Zeugnisses leben, sollten uns davor hüten, dieses uns anvertraute Gut der Wahrheit, die sich auf die Herrlichkeit Jesu bezieht, rauben zu lassen. Unwissenheit auf diesem Gebiet ist eine offene Tür für den Feind, dessen Absichten uns nicht unbekannt sind.
Es ist also von aller Wichtigkeit, daran festzuhalten, dass der Herr vor der sechsten und nach der neunten Stunde am Kreuz die Gemeinschaft mit seinem Gott genoss, innerhalb dieser drei Stunden aber dieses Teil, das die Freude seines Herzens ausmachte, entbehren musste. Mehr noch, Gott war gegen Ihn. Das ist es, was die Vorgänge, die sich in jenen drei Stunden abspielten, so unergründlich macht und sie von den ersten drei Stunden am Kreuz so völlig unterscheidet. Die Qualen, die Jesus vonseiten der Menschen erduldete und deren Beschreibung wir in den folgenden Versen finden, treten gegenüber den Leiden in den Hintergrund, die Er nachher unter den schrecklichen Schlägen Gottes, im Verlassensein von Ihm erlitt. Wenn wir dies nicht festhalten, so verlieren wir das Verständnis für die Bedeutung der drei Stunden der Finsternis, und alle Empfindungen, die sich bei der Betrachtung dieses Schauspiels für den Gläubigen geziemen – die Furcht, der Ernst, die Demütigung und die Anbetung – werden dadurch geschwächt. Es ist in der Tat eine Szene, auf die man immer wieder und besonders am Sonntagmorgen zurückkommen sollte, so unerschöpflich ist sie. Dort sehen wir Jesus nicht als nachzuahmendes Vorbild – das ist Er vor der sechsten und nach der neunten Stunde – sondern als den einen, wunderbaren Heiland.
Gewiss stehen wir alle unter dem Eindruck, dass das Kreuz des Herrn, wie die Schrift es uns darstellt und wie der Heilige Geist es uns betrachten lehrt, die Herrlichkeit und das Banner der Kirche ist. Da wurde die Frage des Guten und des Bösen durch Gott endgültig geregelt. Alles seit den Tagen Abels vergossene Blut, das ganze Verderben, alle Schändlichkeiten und Gewalttaten sind nur der Ausfluss des Bösen. Hier aber wurde die Quelle des Bösen selbst getroffen. Nichts wie die Betrachtung des Kreuzes ist so sehr geeignet, uns zu heiligen, jeden Leichtsinn, alle Flatterhaftigkeit und auch die Neigung zu zerstören, es der Welt im Scherzen über das Böse gleichzutun, was ja nur möglich ist, wenn man die Arglist des Fleisches aus den Augen verliert.
Auch sind wir nur in dem Mass fähig, anzubeten, als wir an das Kreuz denken. Wenn wir nicht in das eingehen, wovon es zu uns spricht, was wird dann aus unserer Anbetung? In unserem Gottesdienst sollte es sich nicht in erster Linie um uns handeln, sondern um unseren Herrn Jesus Christus und um seine Leiden.
Am Kreuz lernen wir im Vergleich mit Christus auch uns selbst kennen: Wir sehen in Ihm einen Menschen, der nur handelt und redet oder das Schweigen bewahrt, wenn es zur Verherrlichung Gottes dient, und dessen Lebensäusserungen alle den unseren so völlig entgegengesetzt sind. Nichts vermag uns in unseren eigenen Augen so sehr herabzusetzen, wie ein solcher Vergleich. Derartige Gedanken machen unserer ganzen Anmassung ein Ende und auch allen unseren Bemühungen, unser eigenwilliges und verdorbenes Fleisch mit einem falschen Schein zu umgeben, womit wir so gerne uns selbst und andere täuschen. Nur so, nur wenn wir uns in dem Licht des gesegneten Kreuzes aufhalten, das dem Strom der Gnade Gottes den Weg öffnet, werden wir glücklich sein. Doch wie oft gehen unsere Worte über das hinaus, was sich in unseren Herzen abspielt, besonders in der gemeinsamen Anbetung!
Die Betrachtung dieser Dinge, die zum Erhabensten gehören, was uns die Offenbarung Christi gebracht hat, ist unbedingt mit dem Bestehen des Zeugnisses für den Herrn verknüpft. Ohne diese zentralen Wahrheiten am Ausgangspunkt des ganzen Werkes Gottes gegenüber dem Menschen gibt es kein wahres Zeugnis. Deshalb bildet der Tisch des Herrn, wo das Gedächtnis des Todes Christi gefeiert wird, den Mittelpunkt des Zeugnisses. Wird die sittliche Schönheit des Kreuzes in unseren Herzen durch unsere Betriebsamkeit, durch unsere Dienstleistungen, durch die Verkündigung des Evangeliums oder durch die Sorge um die Seelen verhüllt, so ist dies ein unersetzlicher Verlust. Anderseits aber wird gerade die ungehinderte Betrachtung des Kreuzes das Herz zu allen diesen Werken antreiben.
Welch ein Glück wäre es, wenn die Kirche aller ihrer menschlichen Verzierungen beraubt wäre! Welch eine Freude würden wir schmecken, wenn unser Verlangen grösser wäre, uns mit Christus, so wie Er ist, einszumachen! Und welche Freude wäre dies für sein eigenes Herz! Wir sind in den Auswirkungen seines Todes mit Jesus verbunden; aber ebenso müssen wir verwirklichen, dass wir auch in seinem Tod mit Ihm einsgemacht sind. Der Platz der Schmach und der Verwerfung, den Er unter den Menschen einnahm, ist auch der unsere; lasst uns begehren, diesem Vorrecht zu entsprechen! Vor allem aber müssen wir verwirklichen, dass das Gericht Gottes, das Christus traf, unser Gericht ist, das wir in unserer sündigen Natur und ihren Früchten verdient hatten. Wenn wir uns dies alles besser vergegenwärtigten, wie sehr gewönnen da alle unsere Zusammenkünfte zur Anbetung, zum Brotbrechen usw. an Einfachheit, an Tiefe und geistlichem Wesen!
Der Heilige Geist kann uns jedoch nicht in die Betrachtung dieses Wunders am Kreuz einführen, solange wir nicht von dem ungerichteten Eigenwillen befreit sind, der aus der Eigenliebe und dem Hochmut hervorkommt und gerade am Kreuz seine unwiderrufliche Verurteilung gefunden hat. Noch weniger kann Er es uns geniessen lassen, wenn unsere Herzen in allerlei Dinge verwickelt und vom Staub und den Unreinheiten dieser Welt erfüllt sind. Er löse uns davon, damit Jesus in allen Herzen, die Ihm gehören, den Vorrang habe. Er ist es würdig! Wie die Wunden in seinen Füssen und Händen, die Merkmale seiner körperlichen Leiden, so bleiben auch die Leidensspuren seines Verlassenseins in sein Herz eingeprägt, und in diesem Herzen, das für uns litt, in dem göttlichen Herzen des Heilands, nehmen wir einen ewigen Platz ein.