Psalm 22 (1)

Psalm 22,2

Einleitung

Dieser Psalm, der jedem mit der Schrift vertrauten Christen wohlbekannt ist, erwähnt die Ergebnisse des Werkes Christi nur in allgemeinen Bemerkungen (Verse 23-32). In anderen Psalmen sind sie ausführlicher dargestellt, und im Neuen Testament werden sie in ihrem ganzen Reichtum in Bezug auf die Kirche entfaltet. Aber alle in den Psalmen erwähnten Segnungen, sowohl für den einzelnen Gläubigen (zum Beispiel Psalm 32), wie auch für das Volk Israel oder für die ganze Erde, haben ihre Grundlage in dem hier beschriebenen Werk.

Christus selbst, in seinen unendlichen und grenzenlos mannigfaltigen Leiden, vor allem in seinem alles überragenden Schmerz des Verlassenseins von Gott, ohne das alle anderen Leiden für uns wirkungslos gewesen wären, wird hier vor die Blicke der Gläubigen gestellt; und dies ist das Bezeichnende dieses Psalms.

Er bildet den sittlichen Mittelpunkt aller Psalmen; denn er zeigt uns das Werk des Herrn Jesus, das alle im übrigen Teil des Buches enthaltenen Segnungen sowie die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes gegenüber seinem Volk und gegenüber der Erde möglich macht. Wir stehen hier, im 1. Vers, vor dem, was den Kern der Gedanken Gottes hinsichtlich seiner eigenen Herrlichkeit und unserer Segnung ausmacht: Vor den Leiden Christi während der letzten drei Stunden des Kreuzes.

Wie seltsam und demütigend, dass wir diesen erhabenen Gegenstand so oft vernachlässigen und uns mehr mit Dingen von geringerer Bedeutung beschäftigen! Gewiss, es ist das schwierigste Thema, das wir betrachten können, weil es beim Betrachtenden tiefste und ernsteste Übungen der Seele voraussetzt. Über die christlichen Segnungen zu sinnen, ist ganz am Platz; sie bilden eine kostbare Quelle der Ermunterung und des Trostes. Dabei darf man aber nicht aus dem Auge verlieren, dass alle Segnungen des Gläubigen nichts anderes als die Früchte der Leiden des Herrn sind. Ausserdem gibt es in diesem Hauptgegenstand, den wir betrachten, eine Quelle des Lichts über alle Dinge, wie sie sonst nirgends zu finden ist. Das veranlasst uns jetzt, mit der Hilfe des Heiligen Geistes längere Zeit bei diesem Gegenstand zu verweilen. Wenn wir uns in heiliger Ehrfurcht hineinversenken, werden wir alle grossen Nutzen davon haben.

Vers 2

Unmittelbar, ohne Einleitung, werden wir hier vor die grosse Tatsache gestellt, dass Christus verlassen wurde. Denn dieser Schmerzensschrei kam ja aus seinem Mund, als Er am Kreuz hing.

Dieser erste Vers ist einer der tiefsten, wunderbarsten und unergründlichsten der ganzen Schrift. Er bringt den Grundgedanken des Psalms zum Ausdruck, wie dies im Allgemeinen auch bei den übrigen Psalmen der Fall ist.

Hier ist er gleichzeitig die Einführung in den ersten Teil des Psalms (Verse 2-22), der uns den Herrn Jesus am Kreuz vorstellt. Alles, was in diesen Versen beschrieben wird, wie auch die Gedanken, die darin zum Ausdruck kommen, entsprechen dem, was sich während der sechs Stunden der Kreuzigung zugetragen hat. Sie reden nicht nur von den sühnenden Leiden des Herrn (Vers 2), sondern auch von vielen anderen Leiden, die jenen vorausgegangen sind.

Im zweiten Teil des Psalms (Verse 22-32) ist von den Ergebnissen seiner Leiden die Rede:

  • Erstens für den Überrest aus Juda, der gemäss Hebräer 2,12 während der ganzen Zeit, die auf die Auferstehung des Herrn folgte, mit der Versammlung verschmolzen ist;
  • sodann für die Gottesfürchtigen und Sanftmütigen in Israel, die bekehrt werden, wenn das Evangelium des Reiches gepredigt wird;
  • und schliesslich für «ein Volk, das geboren wird», also für die, die während des Tau­send­jäh­ri­gen Reiches geboren werden.

In anderen Psalmen, im vorhergehenden zum Beispiel, hört man mehrere Mitsprecher. Hier aber, in diesen schrecklichen Augenblicken, ist Christus selbst der Sprechende. Schon in diesem wunderbaren ersten Vers, der so oft angeführt wird, ist es so; und es soll uns ein Anliegen sein, dass die Worte: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» ihre Kraft auf unser Herz und Gewissen nie verlieren! Im Matthäus-Evangelium wird uns mitgeteilt, dass dieser Ausruf Jesu mit lauter Stimme um die neunte Stunde erfolgte. Um seine Bedeutung zu unterstreichen, hat uns der Heilige Geist dieses unvergleichliche Wort sogar in der Sprache aufbewahrt, in der es ausgesprochen wurde: «Eli, Eli, lama sabachthani?» Auf diesen Schrei hin antwortet das Herz des Gläubigen ohne Zögern: Um meinetwillen! Und alle, die in der Folge Nutzniesser des Werkes sein werden – der jüdische Überrest, Israel und dereinst die ganze Erde – können im Grund auf diesen bangen Ausruf eine ähnliche Antwort geben, auch wenn für sie die Resultate des Werkes andere sind als für uns.

Hier ging es jedoch nicht in erster Linie um die Segnung des Menschen, sondern um weit mehr, um die reine und ewige Herrlichkeit Gottes. Und das ist es gerade, was uns ein Gefühl gibt für die Grösse der Beschimpfung, die für Gott in der unscheinbarsten Sünde, im kleinsten Ungehorsam, im geringsten Zeichen des Eigenwillens liegt. Eine Sünde, worin sie auch bestehen mag, beleidigt Gott. Das Mass der Empfindung, die sie in Gott auslöst, konnte nur im Verlassensein Jesu zum Ausdruck kommen. Welch ein Licht wirft das auf den Zustand und die Geschichte der ganzen Welt! Nicht dadurch, dass das Böse in dem einen mit dem Bösen in dem andern verglichen wird, kann es gemessen werden; die Abscheulichkeit des Bösen im Menschen wird nur durch die Art und Weise offenbar, in der Gott ihm begegnet, wenn es in seine Gegenwart gestellt ist. Wenn wir Gott vergessen, neigen wir zu einer milderen Beurteilung der Sünde; Christus aber, gerade weil Er Ihn nie vergessen hat, musste es in den Umständen, die hier vor uns sind, mit Gott zu tun haben. Er ist nicht nur wegen der Sünden gestorben, die bei uns Abscheu hervorrufen, sondern auch wegen der ganzen Torheit, Leichtfertigkeit und Eitelkeit, wegen der unscheinbarsten wie auch der schwärzesten Fehler der menschlichen Natur. Vor Gott ist alles gleicherweise abscheulich und verdammungswürdig.

Der Herr Jesus hat am Kreuz Gott, seinem Vater, die einzigartige Möglichkeit gegeben, in vollem Mass zu zeigen, was Er angesichts der Sünde ist. Das Gericht der Gottlosen, der Feuersee, der mit Schwefel brennt, werden dieses Mass nicht in seiner vollen Tiefe darstellen können; denn dort ist es ein verdientes Gericht, vollzogen an Sündern und Aufrührern. Im Fall Christi aber konnte sich das Mass des Zorns Gottes vollkommen zeigen, weil er an einer Person zur Ausübung kam, die «Sünde nicht kannte», aber sich aus Gehorsam geopfert hat, um für uns «zur Sünde gemacht» zu werden. Gott war scheinbar ungerecht, als Er seinen Sohn dermassen schlug; und doch offenbarte Er gerade darin das völlige Mass seiner Gerechtigkeit. Nichts vermag die Seele so zu heiligen, wie die Betrachtung dieser Dinge.

Die Freude der Gemeinschaft, die der Herr als Mensch mit seinem Vater verwirklichte, war unendlich – und gerade dieser Gemeinschaft sollte Er beraubt werden. In einem äusserst geringen Mass wissen auch wir, was leiden heisst, wenn uns die Gemeinschaft mit dem Vater geraubt ist; jeder von uns empfindet diesen Verlust entsprechend dem Wert, den er dieser Gemeinschaft beimisst. Für Christus hatte diese Gemeinschaft einen unendlichen Wert, und ihre Unterbrechung musste daher bei Ihm einen unendlichen Schmerz auslösen.

Diese drei schrecklichen Stunden am Kreuz waren es, die Er in Gethsemane auf sich zukommen sah und die dort in seiner Seele einen ringenden Kampf hervorriefen. In schwachem Mass können wir es begreifen, dass der Herr – bei dem Gedanken, von Gott verlassen zu werden, dessen Wonne Er allezeit gewesen war und den Er in allen Umständen in vollkommenem Gehorsam ununterbrochen verherrlicht hatte – von Entsetzen ergriffen, sehr bestürzt und beängstigt wurde, ja, dass seine Seele «bis zum Tod» betrübt war (Mk 14,34).

Es mag angebracht sein, daran zu erinnern, dass der Herr Jesus erst von der sechsten Stunde an in gerichtlicher Weise mit unseren Sünden beladen wurde. Dann aber, von der sechsten bis zur neunten Stunde, hat Er, der Vollkommene, der nie mit irgendwelcher Verunreinigung in Berührung gekommen war, nicht nur die Last unserer Sünden getragen, sondern ist für uns «zur Sünde» gemacht worden, damit Gott «die Sünde im Fleisch verurteilte». Er, der gegenüber dem Bösen eine nicht abgestumpfte, bis ins Kleinste gehende Empfindsamkeit besass und die Sünde mit vollkommenem Abscheu hasste, wurde da so betrachtet und behandelt, wie Er selbst die Sünde betrachtete, so, wie das Böse in den Augen Gottes behandelt zu werden verdient. Und für Gott hat die Sünde eine zweifache Folge:

  • Erstens Verunreinigung und
  • zweitens Schuld.

Die Verunreinigung ist für einen heiligen Gott etwas Verabscheuungswürdiges und die Schuld ihrerseits ruft vonseiten eines gerechten Gottes ein schonungsloses Gericht herbei. Wir müssen uns in dieses Licht stellen. Nur dort, nur dort allein können wir im Unterscheiden des Guten und des Bösen Fortschritte machen. Nur dort, in jenen drei Stunden, findet sich der hierfür massgebliche, absolute Prüfstein. In einem anderen Licht erscheint alles relativ.

Und nun kann man sich fragen: Welche Kraft war es wohl, die den Herrn aufrecht hielt, als Er sich in diesen Abgrund stürzte? Welches Wunder der Gnade und der Kraft ermöglichte es Ihm, in diese drei Stunden der Finsternis hineinzugehen, worin Er verlassen werden sollte? Er, dessen Speise und Lust es war, den Willen seines Vaters zu tun und Ihm zu gehorchen, konnte sich dort nicht auf Gott stützen. In Gethsemane redete Er Ihn mit «Abba, Vater» an; auch auf dem Kreuz selbst rief Er vor und nach den letzten drei Stunden zu seinem Vater. Während dieser drei Stunden jedoch nicht mehr! Die einzige Kraft für sein Herz, das, während seines ganzen Lebens als Mensch seine Stütze gewesen war, sollte Ihm fehlen. Noch weniger konnte Er auf seine Jünger zählen; auf nichts und auf niemand konnte Er sich stützen. So sehr war Jesus verlassen! Aber eines hatte Er, das Ihn aufrecht hielt und Ihm Kraft gab, diesen Weg zu gehen: Die Macht seiner Liebe zu Gott und zu den Menschen. Hier wurde die Kraft der göttlichen Liebe blossgelegt, in endgültiger und absoluter Weise offenbart. «Die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude» hat Jesus «das Kreuz erduldet», lesen wir in Hebräer 12,2. Diese Freude war nichts anderes als die in Ihm zur Auswirkung kommende Liebe zum Vater; es lag vor Ihm die Freude, Gott in einem unendlichen Mass verherrlicht zu haben. Die Vollkommenheit – worauf irgend sie sich auch beziehen mag – steht immer in Verbindung mit der Liebe, die man zu Gott hat; die Vollkommenheit ist deren Frucht. Der Herr hat bewiesen, dass sein Ausspruch: «Ich liebe den Vater» (Joh 14,31), volle Wahrheit war. Beim Anblick dieser wunderbaren Liebe kommt uns der Ausspruch eines alten Bruders in den Sinn: «Es gibt nichts, was mit dem Kreuz verglichen werden kann, es sei denn das Herz dessen, der auf ihm starb.»

Es steht geschrieben: «Grosse Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht» (Hld 8,7). Das kann im absoluten Sinn nur von der göttlichen Liebe Jesu gesagt werden, dieser glühenden Liebe in seinem Herzen, die durch die Fluten des Gerichts, die über Ihn hinweggingen, nicht ausgelöscht werden konnte.

Das waren einzigartige Stunden: Die Menschen waren gegen den Herrn; die Jünger hatten Ihn verlassen; alle Mächte der Hölle waren um Ihn her; und dann noch das Schrecklichste: Gott selbst wandte sich gegen Ihn! Diesem allem gegenüber war der Herr Jesus ganz allein. Er hatte zu Petrus gesagt: «meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte und er mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel stellen würde?» (Mt 26,53). Doch die Engel waren da, betrachteten dieses Schauspiel, ohne eingreifen zu dürfen.

Ihn, den Gerechten verlassen zu sehen, der ohne weiteres in das Heiligtum des Himmels hätte zurückkehren können, ist ein Ereignis, das wohl geeignet ist, unsere Herzen zu fesseln. Auf diese Weise musste Er durch sein Blut «aus jedem Stamm und jeder Sprache und jedem Volk und jeder Nation» Menschen für Gott erkaufen und sie Gott zu einem Königtum und Priestern machen. Es handelte sich um das Heil derer, die gerade durch ihre Sünden die Ursache dieser schrecklichen Stunden waren. In unseren Sünden waren daher auch wir auf diesem einzigartigen Schauplatz vertreten, und wir können im Bewusstsein, dass wir dem Herrn alle diese Leiden verursacht haben, diese Szene nicht betrachten, ohne «bittere Kräuter» zu essen.

Das ist es, woran wir uns am ersten Tag der Woche vor allen Dingen erinnern. Die Tatsache, dass Jesus von Gott verlassen wurde, damit alles, was Gott ist – seine Liebe gegenüber den Sündern und seine Heiligkeit gegenüber der Sünde – offenbar werde, ist die Quelle des Lobes und der Anbetung. Der Gottesdienst, das Abendmahl sollte daher mit Wahrheit im Herzen und in tiefer Einfalt gefeiert werden, und in Gegensatz zum Formenwesen und zur Leichtfertigkeit stehen. Es genügt nicht, wie die Töchter Jerusalems, die dem Herrn nachfolgten, als Er sein Kreuz trug, Tränen der Rührung zu vergiessen; nötig sind Sammlung und Ehrfurcht, die nur der Heilige Geist und das Wort im Herzen der Heiligen bewirken und unterhalten können; es setzt in Erinnerung an unsere Sünde, die diese Stunden notwendig machte, eine demütige Haltung voraus. Nichts anderes vermag uns so mit wahrem Ernst zu erfüllen, wie die Betrachtung des Verlassenseins Jesu, dem keine Milderung seiner Schmerzen zuteilwurde, als Er den bitteren Kelch trank.