Psalm 22 (4)

Psalm 22,13-16

Verse 13-16

Diese Szene, in der Jesus als Gegenstand des Hasses der Menschen vor uns steht, ist von einer Grösse, die unser Fassungsvermögen übersteigt. Er hängt am Kreuz und schweigt zu all dem Hohn, dem beissenden Spott, zu den Beschimpfungen der Obersten und auch der Räuber, die mit Ihm gekreuzigt sind. Nichts von alledem was die Menschen Ihm antun, vermag seine Gedanken vom Vater abzulenken. Er wendet sich an Ihn. Den Menschen hat Er nichts zu sagen, aber mit Gott redet Er in unerschüttertem, vollem Vertrauen.

In den Versen 13-19 gibt der Herr in seiner schrecklichen Lage seinen Gefühlen vor Gott Ausdruck: Von der Erde erhöht, von Gottlosen umringt, schildert Er Ihm seine Drangsal und ruft Ihn an (Vers 20): «Meine Stärke, eile mir zu Hilfe!»

Es scheint, dass in diesen Versen zwei Kategorien von bösen Menschen unterschieden werden. In Vers 13 ist von vielen Stieren und gewaltigen Stieren von Basan die Rede. Damit sind die Vertreter der obrigkeitlichen Gewalten, die Obersten und Führer des Volkes gemeint, die der Kreuzigung beiwohnten und mit dem Volk Jesus verspotteten (Lk 23,35). – Die Ausdrücke «Hunde» … «eine Rotte von Übeltätern» hingegen scheinen die römischen Soldaten, den sensationshungrigen Pöbel, die namenlose Volksmenge zu bezeichnen. In der Ausübung ihrer Schandtat gegen über dem Herrn waren sie sich alle einig.

Diese Verse, die die Haltung der genannten beiden Gesellschaftsklassen gegenüber dem Herrn beschreiben, führen uns auch zwei verschiedene Ursachen seiner Leiden vor Augen. Sie zeigen, was Er unter dem Tun derer empfand, die ihre Macht und Autorität gegen Ihn missbrauchten, und wie Er unter dem Benehmen der zweiten Gruppe litt, die Ihn in seiner schändlichen Erniedrigung mit unverhohlener Neugier betrachtete. Einerseits musste Er wegen der unbarmherzigen Härte und Grausamkeit derer, die seine Schwachheit ausnützten, Leiden erdulden, und andererseits schmerzte Ihn vielleicht noch mehr, was die unreinen Menschen, die «Hunde», Ihm antaten, indem sie sich, ohne die geringste sittliche Hemmung, an seiner Schande weideten. Angesichts des Herrn, der eingewilligt hatte, in seinen Leiden den Blicken der Menschen ausgesetzt zu werden, nahm ihre sittliche Zügellosigkeit freien Lauf.

Wir tun gut, diese beiden Arten von Leiden, die der Herr am Kreuz vonseiten der Menschen erduldete, wohl zu erwägen. In Berührung mit so viel Gewalttätigkeit und so viel Schmach suchte Er bei Gott Trost; doch musste Er feststellen: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Der Mensch nützte die Gelegenheit aus, um seine ganze Bosheit zu zeigen gegen jemand, der sich – wir sagen es mit aller Ehrfurcht – der Gewalttätigkeit und Verdorbenheit des menschlichen Herzens so völlig als Zielscheibe aussetzte.

In diesen beiden Klassen von Personen, die das Kreuz umringten, waren alle Arten von Menschen vertreten, die zu den verschiedensten Stufen der gesellschaftlichen Rangordnung gehörten, Arme und Reiche, Unwissende und Gebildete. Aber Gott hält sich nicht bei diesen Unterschieden auf, von denen wir Menschen so viel Wesens machen; denn derselbe Mensch gebärdet sich bald wie ein Stier oder Gewaltiger von Basan, bald wie ein Hund, der sich über die Schande eines anderen freut. Wie beschämend für uns! Vor Gott gibt es nicht Millionen verschiedenartiger Menschen, sondern nur zweierlei Menschen: den «ersten Menschen» und den «zweiten Menschen». Auch hier standen sie sich gegenüber. In diesen Stunden des Kreuzes zeigte sich das wahre Antlitz der Welt. In seinen Zügen können wir sehen, was der Mensch ist. Wir haben nicht nötig, alles zu lesen, was von Menschen geschrieben wird, um zu wissen, was der erste Mensch ist; dem, was uns hier im vollkommenen sittlichen Licht gezeigt wird, vermag es nichts hinzuzufügen. Diese unerhörte Szene, wo der vollkommene Mensch in sittlicher Hinsicht unter die Füsse getreten und von diesen «Hunden», die Ihn betrachteten, in seiner Schmach öffentlich beschimpft und verspottet wurde, wie es keiner von uns auch nur einen Augenblick lang ausgehalten hätte, diese Szene offenbart die Wirklichkeit der Geschichte der Welt und des Menschen.

In diesem unverwischbaren Gemälde sehen wir das geöffnete Herz Christi dem geöffneten Herzen des Menschen gegenübergestellt. Auch können wir darin die unergründliche Grösse des Herzens Gottes erkennen, der, alles im Voraus wissend, den hingegeben hat, dessen Vollkommenheit in dieser Welt offenbar wurde, zum Heil einer Menschheit, deren völlige Bosheit im gleichen Augenblick endgültig bewiesen worden ist. Nur wenige Einzelheiten dieses Gemäldes können in Worte gefasst werden; selbst dessen Betrachtung in der Ewigkeit wird es nicht ausschöpfen.

Hier steht eine unvergleichliche, sittliche Schönheit einer unsagbaren Hässlichkeit gegenüber. Bei den Vergleichen, die der Heilige Geist zwischen dem Herrn und allen diesen Menschen macht, fällt uns auf, wie der göttliche Schreibstil nie in den alltäglichen oder ungeziemenden Realismus der Menschen fällt; der Geist Gottes schildert diese Szene mit grosser Genauigkeit des Ausdrucks, gepaart mit vollkommener Feinheit. Die Haltung des Herrn, gekennzeichnet durch völlige Schwachheit, die nach aussen hin jede Äusserung der Energie völlig ausschloss, steht in unbedingtem Gegensatz zu der Tatkraft der Stiere und gewaltigen Stieren von Basan. Es gibt Menschen, die sich selbst noch im Tod wehren; Christus aber nahm das Leiden völlig an und zeigte nicht den geringsten Widerstand. Das geht besonders aus Vers 16 hervor. Ein anderes Kennzeichen der Unterwürfigkeit des Herrn offenbarte sich darin, dass Er sich nicht bei Ursachen zweiter Ordnung aufhielt. Er sah das Tun der Menschen und sprach davon, und doch sagte Er: «In den Staub des Todes legst du mich» (Vers 16). Hatte Er den Kelch, den Er jetzt trank, nicht schon in Gethsemane aus der Hand des Vaters selbst angenommen?

Ein anderer Wesenszug des Herrn, vor dem man stehen bleiben muss, zeigt sich darin, dass Er in all seiner Schmach und in seinem Schmerz sein Haupt nicht aufwarf, so wie ein Mensch es sonst tut, indem er, um sich zu verteidigen, sich stolz zeigt und andere herausfordert. Christus suchte nicht in dieser Verteidigungsform Zuflucht; Er nahm die schreckliche Lage an, in der Er sich befand.

Wie leuchtet hier seine Vollkommenheit so hell hervor! Sie wird in schrecklicher Weise auf die Probe gestellt, aber sie triumphiert. Nichts und niemand kommt Ihm zu Hilfe. Alles und alle sind gegen Ihn: Gott, die verschiedenen Menschenklassen, die Obrigkeiten, Satan und die Dämonen. Er wurde in Schwachheit gekreuzigt, scheinbar zur Ohnmacht gezwungen, und doch war gerade das der Augenblick, in dem Er die Fürstentümer und die Gewalten auszog, sie öffentlich zur Schau stellte und durch das Kreuz über sie einen Triumph hielt (Kol 2,15). Alle Bemühungen Satans und des Menschen, dessen er sich bediente, um den Herrn zu veranlassen, sich zu schützen und sich dem Leiden zu entziehen, waren vergeblich, und so wurde sein Verhalten zu einem einmaligen Beispiel.

Nie gab es einen Schmerz wie Seinen Schmerz; nichts reichte an Ihn heran. In der Tat, einerseits sind die Schmerzen der Menschen Schmerzen von Sündern und daher zum grossen Teil selbstverschuldet; anderseits gab es nie eine solch völlige Annahme des Schmerzes, wie Christus sie zeigte. Der Herr ist nicht bewunderungswürdig, weil Er wie ein Held seine Feinde herausforderte, sondern weil Er sich bedingungslos unterwarf. Es war eine Erprobung seiner Vollkommenheit: Es sollte sich erweisen, ob sie stärker sein würde als aller Schmerz, der Ihm bereitet wurde; und der Ihm auferlegte Schmerz stand in Beziehung zu der Regelung der ganzen Frage des Guten und des Bösen. Diese Regelung geschah in absoluter Weise und Gott entsprechend. Das Problem kann nicht mehr aufgeworfen werden; Satan weiss es sehr wohl.

Wie die Frage des Vertrauens, so wurde am Kreuz auch die Frage der vollkommenen Unterwürfigkeit erschöpfend beantwortet. Durch die Menschen trat Satan versuchend an Ihn heran mit den Worten: «Wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz! … Rette dich selbst! …» Vor der vollkommenen Unterwürfigkeit Jesu, in der seine Liebe zum Vater zum Ausdruck kam, beugen wir uns tief. Satan rückte in diesem entscheidenden Augenblick mit allen Seinen teuflischen Mitteln ins Feld und konzentrierte alle seine Anstrengungen zu einem äussersten Versuch, um den Widerstand, die Treue des Herrn, zu brechen. Die Macht des Teufels, die hier auf dem Spiel stand, war eine ernst zu nehmende Tatsache, bezüglich der die Schrift besonders spärlich an Einzelheiten ist. Aber welch überragenden Wert erkennen wir jetzt in dem Sieg Christi! Satans Macht ist heute gebrochen, seine Niederlage ist vollkommen.

Warum Gott dem Bösen einzudringen erlaubte, ist nicht offenbart. Das eine aber wissen wir: Der Triumph des Guten über das Böse im Blick auf den Menschen sollte in dem Menschen und durch den Menschen vollbracht werden. Gott wurde in dem Menschen offenbart und verherrlicht, nicht in den Engeln. Man kann sagen: Gott verdankt die Entfaltung seiner Herrlichkeit dem zweiten Menschen, das heisst Christus, seinem Kommen in diese Welt und seinem Tod am Kreuz, wo Er im Verlauf der drei Stunden der Finsternis die schreckliche Frage der Sünde regelte. Der Mensch Christus Jesus gab Gott die Möglichkeit, sich in der Erlösung zu verherrlichen.

Der Triumph des Guten über das Böse ist etwas weit Erhabeneres als die Aufrechthaltung des Zustandes der Unschuld. In diesem Triumph hat Gott Gelegenheit gefunden, sich zu offenbaren. Wollen wir wissen, was Gott ist, so brauchen wir nur ans Kreuz zu blicken; wollen wir wissen, was wir sind – auch das lernen wir am Kreuz, und wir müssen daher immer wieder dorthin zurückkehren. Der Römerbrief liefert uns die geistliche Begründung der Sache, hier aber haben wir die Tatsache selbst, wie nirgendwo anders. Das Herz des Menschen zu allen Zeiten ist es, das hier offenbart wird. Diese Frage ist durch Christus vor Gott endgültig abgeklärt worden. Auch wir müssen uns in diesem Licht beurteilen. Die praktische Verwirklichung davon wird in uns zweifellos zu wünschen übriglassen, aber lasst uns wenigstens völlig überzeugt sein, dass alles, was wir in unserem natürlichen Zustand sind, am Kreuz ans Licht gebracht und geregelt worden ist. Sind wir zu dieser Überzeugung gelangt, so haben wir in unserer geistlichen Entwicklung einen grossen Schritt vorwärts getan.

Unser Ich ist am Kreuz entlarvt worden. Dort zeigte es sich mit seinem wahren Gesicht, und dort wurde es auch verurteilt. Die von Gott belehrten Christen werden sich daher in Bezug auf sich selbst keine Illusionen mehr machen. Alle sittlichen oder materiellen Anstrengungen, den Menschen zu verbessern, sind vergeblich; sie sind zwecklose Versuche, um die in der Seele wirkende Kraft der Wahrheit zu übertönen. Dass uns Gott diese endgültigen Wahrheiten bekannt gemacht hat, ist ein Wunder; wir müssen nicht mehr zögern, wie alle Philosophien der Welt es tun, den Schlusspunkt der Wahrheit zu suchen. Er ist völlig offenbart; wir müssen nur noch unsere Schlussfolgerungen daraus ziehen.

Was der Mensch zu tun vermag, hat sich in seiner Geschichte, in einer vollständigen Liste aller Verbrechen, gezeigt. Und das Verbrechen, das alle anderen in den Schatten stellt, ist die Ermordung Christi. Im Keim zeigte es sich schon im Tun Kains. Gott schmeichelt uns nicht; seine Liebe belehrt uns über alles, was wir zu unserem eigenen Wohl wissen müssen, sowohl über das, was wir sind, als auch über das, was Er selber ist. Da, bei diesem Punkt, öffnet sich der Weg der Glückseligkeit.

Wenn die Stunden des Kreuzes heute noch andauerten, so könnte diese Szene den Augen Gottes nicht gegenwärtiger sein als sie es schon ist. Für Ihn ist sich die Welt gleich geblieben, so also, wie sie sich während der sechs Stunden des Kreuzes gezeigt hat. Wir selber aber vergessen es so leicht! Jemand hat gesagt: Wenn wir treu wären, so würden wir uns so betragen, als ob der Tod Jesu gestern stattgefunden hätte. Wenn auch bei uns das Bewusstsein von der Szene des Kreuzes so tief wäre, wie wenn sie sich soeben erst abgespielt hätte, wie sehr wäre dann unser ganzes Leben von dem Wert des dargebrachten Opfers durchdrungen, von dem Preis, der bezahlt wurde, um uns zu erkaufen, wie auch von einem Abscheu des Bösen, der den Kosten seiner Abschaffung angemessen ist!

Alle diese Dinge, diese ganze Szene, alle diese Wahrheiten laden uns ein, den Tod des Herrn mit glücklichem Herzen zu verkündigen, wenn wir um seinen Tisch versammelt sind. Aber auch mit welch feierlichem Ernst, mit welcher Sammlung, mit welcher Zurückhaltung und ehrfürchtigem Schweigen sollten wir es tun!