Verse 20-22
Nach den Versen 17-19, die in ihrer prophetischen Genauigkeit so bemerkenswert sind, und deren volle Wirklichkeit Christus kennen lernen musste, «damit die Schrift erfüllt würde», berief Er sich in den Versen 20-22 auf den, der während seines ganzen Lebens seine Stärke gewesen war. Schon in Gethsemane hatte Er «sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht» (Heb 5,7). An Ihn wandte Er sich nun auch in den dunkelsten Stunden am Kreuz, in denen Er ausrufen musste: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» In Vers 12 haben wir Ihn sagen gehört: «Sei nicht fern von mir!» Dieses Flehen wiederholte Er in Vers 20: «Du aber, HERR, sei nicht fern!» Er sagt nicht: «Mein Gott», sondern: «HERR.» – Du, der du dich nicht veränderst, du, der du immer treu, der du immer meine Stärke und meine Hilfe gewesen bist! … Diese flehentlichen Gebete des Herrn, wer wird sie je ergründen können? Wer wird die Angst und den Schrecken seiner Seele während dieser finsteren Stunden ermessen können? «HERR, sei nicht fern!» Er empfand es tief, dass der HERR sich von Ihm entfernte, dass Er gezwungen war, sich von Ihm zu entfernen.
Man sieht, welch einen furchtbaren Angriff der Feind in diesen Stunden gegen Christus unternommen hat, von denen der Herr zu den Menschen, den Werkzeugen Satans, die gekommen waren, um Ihn zu verhaften, gesagt hatte: «Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis» (Lk 22,53). Wie einst der Philister, mit allen Seinen Waffen bekleidet, David entgegenging, so war der Feind hier in voller Rüstung angerückt, angetan mit Gewalttätigkeit, Bosheit, List und Verdorbenheit. Welch ein Schmerzensschrei entfuhr dem Herzen des Herrn in diesem Augenblick! Er spürte die ganze Wut Satans, seine Raserei, seinen Hass in mannigfacher Gestalt. Dann rief Er aus: «Rette mich aus dem Rachen des Löwen»!
Es scheint nicht, dass sich am Kreuz zwischen Christus und Satan ein eigentlicher Kampf abgespielt hat. Es gab hier tatsächlich kein Ringen wie in der Wüste, wo Jesus dem Widersacher mit dem unwiderstehlichen Schwert des Wortes Gottes antwortete, oder wie in Gethsemane, wo im ringenden Kampf sein Schweiss wie grosse Blutstropfen wurde, die auf die Erde herabfielen. Gewiss, Satan griff Ihn an, und zwar in verzweifeltem Entschluss, aber er überfiel einen wehrlosen Christus, der keinen Kampf mehr zu liefern hatte und ihm keinen Widerstand leistete, da Er den Kelch schon angenommen hatte. Die feurigen Pfeile und die Stacheln des Fürsten der Finsternis trafen auf die Vollkommenheit unseres Herrn Jesus Christus – und erschöpften sich. Auf diese aussergewöhnliche Art wurde der glänzendste aller Triumphe errungen, ein Sieg, der nicht in die Annalen der Völker eingetragen ist, aber im Lied der Erlösten in Ewigkeit verkündet wird.
- Herr Jesus, dir sei Lobgesang
durch alle Ewigkeiten lang,
dir, der uns solchen Sieg errang
an dem Kreuz, an dem Kreuz!
Obwohl man in der Auslegung der verschiedenen Ausdrücke, die die Leiden des Herrn beschreiben, vorsichtig sein muss, will uns scheinen, dass man in dem Schwert, in der Gewalt oder Tatze des Hundes und in dem Rachen des Löwen das sehen darf, was Christus vonseiten Gottes, beziehungsweise seitens des Menschen und des Satans erduldet hat. Das Schwert des HERRN ist am Kreuz gegen den erwacht, der sein Genosse war. Wir erinnern uns daran, dass der Ausruf des zweiten Verses am Ende der drei Stunden der Finsternis, um die neunte Stunde laut wurde. Als der Herr unter dem Ansturm der Leiden vonseiten der Menschen und Satans zu Gott schrie, geschah es, um festzustellen, dass Er auch auf dieser Seite nichts für sich fand, ja sogar, dass Er Gott gegen sich hatte. Das könnte man wohl «das Geheimnis aller Geheimnisse» nennen. Als Antwort auf seinen Schrei zu Gott im Tiegel der Leiden war das Verlassensein und der Zorn über Ihn gekommen.
Im Lauf seines Lebens hatte Christus, wie das schon oft bemerkt worden ist, Gott für sich, so demütig und von allem entblösst Er auch war – sein ganzes Leben war das Leben eines Menschen, der nichts hatte – und Er gab Beweise der Kraft und Macht, indem Er unzählige Wunder vollbrachte. Aber hier, auf dem Kreuz, war seinerseits nicht die geringste Entfaltung äusserer Macht zu sehen, da gab es kein Wunder, da gab es Schwachheit. Er sagte zu Gott: «Meine Stärke», weil Er die menschliche Schwachheit in absoluter Weise verwirklichte. Am Kreuz erfüllte Ihn das Bewusstsein einer völligen Schwachheit, die Er freiwillig angenommen hatte. Er wurde, so steht geschrieben, «in Schwachheit gekreuzigt» (2. Kor 13,4). Wir sehen während dieser Stunden, wie wir schon darauf aufmerksam machten, keine Ausübung der Macht, keinen heldischen Zug irgendwelcher Art an Ihm, kein plötzliches Aufflackern des Willens, wie es bei den Menschen geschieht, sondern die Hingabe jeglichen Willens, die bewusste Annahme alles dessen, was Ihm begegnete. Der Herr, der Gott war und Schöpfer aller Dinge, der alle Macht in seinen Händen hielt, legte hier das Bekenntnis seiner Schwachheit ab! Ein weiteres sittliches Wunder, das sich an die anderen reiht! Er verbarg seine Schwachheit so wenig wie seine Schmach. Auch da erstrahlt seine wunderbare Vollkommenheit.
Es hat im Lauf der Zeitalter viele Gläubige gegeben, die die Schande eines schmachvollen Todes gekostet haben. Aber zwischen ihnen und dem Herrn gab es, ausser der Vollkommenheit, einen unermesslichen Unterschied: Alle Heiligen können in Zeiten der Prüfung auf Gottes Hilfe zählen; Christus aber musste darin erfahren, dass Gott gegen Ihn war. Alle Christen dürfen gewiss sein, dass ihnen Gott nie fehlen wird, weil Er am Kreuz dem gefehlt hat, der allein verdiente, nicht verlassen zu werden. Wir kommen mit der Betrachtung dieser Tatsachen nie ans Ende; sie werden uns ewig beschäftigen. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass die Kirche, jede örtliche Versammlung, sie nicht vergesse.
Vom 22. Vers an ändert sich die ganze Szene. Wir betreten jetzt den Boden der unbegrenzten Folgen dieses unendlichen Werkes am Kreuz. Das erste Ergebnis, das uns unverzüglich vorgestellt wird, ist der Lobgesang Christi gegenüber dem, der Ihn im rechten Augenblick befreit hat. Der Herr lobt Gott inmitten der Heiligen wegen seiner Befreiung und lädt auch uns ein, in Gottes Lob einzustimmen, nicht in erster Linie, weil Er uns errettet, sondern weil Er Christus aus den Toten auferweckt hat.
Diese Befreiung vonseiten Gottes, diese Antwort an Jesus hat sich auf zwei Arten offenbart. Zuerst darin, dass der Herr am Ende der drei Stunden des Verlassenseins die Gemeinschaft mit Gott wiederfand. Die endgültige Antwort sodann bestand in der Auferweckung Christi und seiner Erhöhung zur Rechten der Majestät in den himmlischen Örtern.
Als die drei letzten Stunden vorüber waren, übergab Jesus seinen Geist dem Vater. Das Sühnungswerk war beendet. Aber es musste noch die Frage des Todes und seiner schrecklichen Macht bereinigt werden. Auf dem Kreuz ist das, was das Gericht und den Zorn Gottes betraf, geregelt worden, und auch Satan wurde dort bezwungen. Jesus musste jedoch noch die Schlüssel des Todes und des Hades in die Hand nehmen und überall da hingehen, wo die Folgen der Sünde hinführten. Die eine dieser Folgen war der Zorn Gottes gewesen und Christus war während der drei Stunden hindurchgegangen. Eine andere Folge war aber auch der Tod, dem alle Menschen unterworfen waren. Darum ging Er auch in den Tod und drang in das Reich des Starken ein, angetan mit der Macht eines unauflöslichen Lebens. Der Tod konnte Ihn nicht zurückhalten; Er kam wieder aus ihm hervor, nachdem Er dem Satan diese starke Waffe entrissen hatte, so dass sie nunmehr nichts mehr ist, weder für Christus noch für die Seinen. Aber auch hinsichtlich der übrigen Menschen ist der Tod jetzt in den Händen des Herrn: Er ist «der Erstgeborene der Toten».
Die Art, wie Christus in den Tod gegangen ist, ist von sehr grosser Wichtigkeit. Er ist nicht unter dem gerichtlichen Zorn gestorben; Er hat vorher den Genuss der Gemeinschaft mit seinem Gott wieder gefunden. Zweitens ging Er im Bewusstsein, das Werk völlig vollbracht zu haben, in den Tod; Er sprach zuvor die feierlich bedeutungsvollen Worte aus: «Es ist vollbracht!» Mehr noch, Er gab sein Leben mit einem lauten Schrei dahin – ein Beweis dafür, dass niemand es von Ihm genommen, sondern dass Er es selbst von sich gelassen hat, nach dem Gebot, das Er von seinem Vater empfing. Schliesslich erstrahlen seine Abhängigkeit als Mensch und sein Vertrauen noch einmal aus jener Handlung der Übergabe seines Geistes in die Hände seines Vaters. Obwohl Er die Gewalt hatte, sein Leben sowohl zu lassen als auch wiederzunehmen, so hinderte die vollkommene Abhängigkeit den Herrn daran – wenn wir überhaupt in das Geheimnis einzudringen vermögen – diese Macht ohne seinen Vater auszuüben. Die Auferweckung wird als eine Antwort Gottes dargestellt: «Du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel» (Vers 22).