Als die Stunde der Prüfung für Christus abgelaufen war, als die Zeit seines Verlassenseins ihr Ende gefunden hatte, kam der Augenblick seiner Befreiung. Wäre Gott seinem Sohn vor dem richtigen Zeitpunkt zu Hilfe gekommen, so wären wir nicht errettet worden. Anderseits aber erlaubte seine Liebe zu Ihm nicht, dass die Prüfung auch nur einen Augenblick länger als nötig dauerte.1
Was aus diesen Versen 23-25 hervorzugehen scheint, ist der Ausdruck der unermesslichen Veränderung, die der Herr beim Übergang aus den schrecklichen Stunden in die Freude der Gemeinschaft mit dem Vater erlebte. Seine Brüder sollen wissen, welch ein Gott Ihn sowohl aus den drei Stunden der Finsternis wie auch vom Tod befreit hat. Er kennt und schätzt die Anteilnahme, die diese wenigen, die Er seine Brüder nennt, an seinem Schmerz genommen haben. «Der HERR erhöre dich am Tag der Drangsal», so lautete der Anfang des 20. Psalms; hier in Psalm 22 aber, nach den Leiden, als alles vollkommen durchlebt war, sagt der Herr selbst: «Du hast mich erhört …» Er, der für die auf Gott Vertrauenden Fürsprache einlegte, damit sie, seine Brüder, durch sein Verlassensein weder beschämt noch zuschanden würden (Ps 69,7), hat nun, wir verstehen es, grosse Eile, ihnen die wunderbare Befreiung mitzuteilen, die Er soeben erlebt hat. Seine Liebe erwartete von seinen Jüngern, wie heute auch von uns, eine tiefe Anteilnahme des Herzens an den Dingen, die Ihn betreffen und ganz besonders an dieser Antwort Gottes auf seinen Glauben.
Das wird in unseren Lobpreisungen vielleicht zu wenig hervorgehoben. Wir sollten in unserem Gottesdienst nicht unterlassen, Gott für die Art und Weise zu preisen, wie Er Jesus befreit hat. Wenn wir es tun, machen wir uns eins mit der Freude des Herrn, der seinen Gott, seinen Vater anbetet und lobt für diese Veränderung, die keine Zunge auszudrücken vermag; Er allein kennt ihre Tiefe; sie hat Ihn aus dem Zorn Gottes zur vertrautesten Gemeinschaft mit Ihm übergeleitet.
Hätten wir eine tiefere Empfindung für die entsetzliche Prüfung, der der Herr unterworfen war, für seinen Schmerz, seine Einsamkeit, seine Verlassenheit, dann fände sich in unseren Herzen häufiger jener Ton des Lobes, um Gott zu preisen, der Jesus aus diesen unbeschreiblichen Stunden befreit hat. Wir preisen Gott für das, was Er für uns getan, aber sehr wenig für das, was Er für Christus getan hat. Die Finsternis, der Zorn, das Verlassensein – dann die volle Freude vor dem Angesicht Gottes, wie nur Jesus sie kennt, das ist die Veränderung, die hier angedeutet wird und das Herz zum Lob stimmt, umso mehr als diese Veränderung gewissermassen auch unser Teil ist: Wir sind aus diesem, durch das Gericht Gottes gekennzeichneten Zustand, ohne ihn selber erlitten zu haben, zu derselben Gunst gelangt, die Christus jetzt geniesst.
«Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern.» Nicht nur beeilt er sich, die erfahrene Befreiung bekannt zu machen, Er wollte auch den offenbaren, der ihr Urheber war; denn der Name ist die Person selber. Der Herr hat zwar schon vor dem Kreuz Gott kundgemacht, aber die volle Offenbarung Gottes geschah erst nach den drei Stunden der Finsternis. Alle göttlichen Eigenschaften wurden erst am Kreuz von Golgatha in voller Klarheit enthüllt.
«Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast», sagt der Herr in Johannes 17,6, und in Vers 26: «Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun.» So auch hier: «Verkündigen will ich deinen Namen.» Aus diesem Ausdruck leuchtet die ganze Liebe des Herrn zum Gott seiner Befreiung hervor, eine Liebe, deren teuerster Wunsch darin besteht, nunmehr die einzuführen, die Er seine Brüder nennt. Das kommt auch im obigen Vers zum Ausdruck: «Damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen.» Immerhin ist diese Stelle aus Johannes 17 allgemeiner. Sie umschreibt das, was der Herr während seines Lebens getan hat und noch fortfährt zu tun. Der vorliegende Vers unseres Psalms jedoch, der in Hebräer 2,12 angeführt wird, enthält den genaueren Hinweis auf die Tatsache, dass der Herr das Herz seiner Brüder mit derselben Freude erfüllen will wie sie in seinem Herzen ist, mit einer Freude, die mit der Befreiung verknüpft ist, die Er erlebte und die auch die ihre ist. Er macht sie mit dem Heiland-Gott bekannt.
«Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern.» Es ist, wie wenn der Herr mit diesen Worten sagen wollte: «Ich gehe hin und werde meinen Brüdern sagen, welch einen Befreier ich in dir gefunden habe; ich werde von dir zu ihnen reden, so wie ich dich kennen gelernt habe in der Befreiung, die ich erfahren habe.» Wunderbare Gnade, dass der Herr uns in Bezug auf die Art und Weise, wie Er Gott in seiner Befreiung kennen gelernt hat, sein Herz öffnet! Christus ist, ehe Er litt und erhört wurde, niemals da hindurch gegangen; daher hatte Er das Herz jetzt voll von Gefühlen und Gedanken, die Er seinen Brüdern mitteilen wollte. Welch ein Zeichen zärtlicher Liebe, dass Er die Seinen in einen Gegenstand, der seinem eigenen Herzen so kostbar ist, einführen will! Und das erscheint uns umso wunderbarer, wenn wir uns daran erinnern, dass Er, als es sich für Ihn darum handelte, geschlagen zu werden und den Zorn zu erleiden, dies mit niemandem teilen konnte. Geht es aber um seine Freude, so teilt Er sie mit den Seinen! Und wie wünschte der Herr, dass wir beim Gedächtnis seines Todes und seiner Befreiung der Freude und dem Lob Ausdruck geben, die gegenüber seinem Gott und Vater in seinem Herzen sind! Das ist es, was Er von uns erwartet. Wenn wir darüber nachdenken, wird uns bewusst, wie arm unsere Gottesdienste sind.
Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass es ein Mensch ist, der hier redet. Er ist Gott, aber Er ist auch Mensch, und mit diesem Menschen, der Gott in seinem Tod verherrlicht und den Gott befreit hat, sind alle Heiligen verbunden. Das Wort Bruder hat hier einen umfassenderen Sinn als was wir in seiner rein christlichen Bedeutung darunter verstehen. In dem Augenblick, als der Herr nach seiner Auferstehung den Namen seines Gottes und seines Vaters offenbarte, war der Heilige Geist noch nicht gekommen, und die Kirche hatte noch nicht begonnen.2 Das Werk Christi hat alle Gläubigen zu einer priesterlichen Familie gemacht. Die dem Werk am Kreuz entspringende Segnung erstreckt sich auch auf die Heiligen, die in den früheren Zeitaltern gelebt hatten; vorausschauend hat Gott sie in Christus, dem einzigen Mittler zwischen Gott und Menschen, segnen können. Gott ist unser Gott – das ist das Ergebnis des Werkes am Kreuz. Dieser Ausdruck: «Verkündigen will ich deinen Namen meinen Brüdern» scheint nicht nur auf die Offenbarung, dass Gott unser Vater ist, hinzudeuten, sondern auch auf den Fortschritt in der Erkenntnis und im Genuss unseres Gottes und Vaters, wozu uns der Herr führen will, einer Erkenntnis, die sich in dem Mass vertieft, wie man vom Wort genährt wird und in der Gemeinschaft mit dem Herrn lebt. Die Offenbarung Gottes zeigt sich auch in unseren eigenen Umständen.
Das also ist die kostbare Nachricht, die der Herr in einer so rührenden Eile den Seinen persönlich verkündete. Die Engel am Grab bezeugten zwar seine Auferstehung, aber in Bezug auf das neue Verhältnis, in das sein Werk die Seinen versetzt hat, und betreffend die Erkenntnis seines Gottes und seines Vaters, überliess der Herr niemand anderem die Aufgabe, sie darüber einzuweihen.
Eine solche Erkenntnis führt immer zu Lobpreis. Der Herr singt – «inmitten der Versammlung will ich dich loben» – und Er wünscht, dass wir uns diesem Lob anschliessen. Mit welcher Aufmerksamkeit sollten wir in diesem Dienst daher seine Leitung suchen! «Ich will lobsingen mit dem Geist …» (1. Kor 14,15), bedeutet das nicht, im Einklang mit dem Herrn zu singen? Es liegt auf der Hand, dass, wenn unsere Herzen ernsthaft mit seinem Leiden und Sterben beschäftigt sind, wie auch mit seiner Befreiung und seiner Herrlichkeit, unser Ohr geöffnet ist, um auf seine Stimme zu hören und bereit zu sein, Ihm nachzufolgen, ganz besonders in der gemeinsamen Anbetung. Sind dagegen unsere Herzen leichtfertig, wenig beeindruckt von dem, was Gott für uns getan hat, dann werden wir nichts zum Ausdruck zu bringen und seinem Lobpreis keinen Ton beizufügen haben.
Der Herr hat nur eines im Sinn: Gottes Verherrlichung. «Ich habe dich verherrlicht auf der Erde» (Joh 17,4). Das war das Ziel, das Er sein Leben lang vor sich hatte; auch in der Auferstehung ist es wieder die Verherrlichung und das Lob Gottes, was Er sucht. Ehe Er ans Kreuz ging, auf dem Weg zum Ölberg, sang Er mit seinen Jüngern ein Loblied. Und als alles vollbracht war, rief Er aus: «Inmitten der Versammlung will ich dich loben.»
Seinen Vater und seine «Brüder» schliesst Er in denselben Gedanken ein. Das Band ist geknüpft. Er denkt an Gott, Er denkt an die Seinen. Das Werk am Kreuz, das dürfen wir nie vergessen, ist sowohl für Gott als auch für den Gläubigen.
Wie beugt es uns, wenn wir daran denken, wie sehr unsere Haltung, unsere Ausdrücke und unser Tun oft so förmlich sind! Das liegt daran, dass unser Herz nicht wahrhaft von der Gnade Gottes ergriffen ist. Die verstandesmässige Erkenntnis fehlt uns nicht, aber unser Herz ist zu wenig berührt. Wäre es so, wie es sein sollte, welch ein Lob würde dann zu Gott und zu Christus emporsteigen für sein unvergleichliches Werk! Erkennten wir wirklich die in Christus offenbarte Gnade, wie würden dann unsere Herzen von Dankbarkeit, Lob und Anbetung überfliessen!