Psalm 22 (3)

Psalm 22,3-12

Gottesdienst ist der wunderbarste Dienst, der den Menschen je anvertraut worden ist. Und doch geben ihm die meisten Christen nicht den ersten Platz; viele üben ihn überhaupt nicht aus. In den Anstrengungen Satans, die Seelen vom Wichtigsten abzuziehen, hat er hier wiederum einen Sieg davongetragen.

Das Wesen des Gottesdienstes besteht darin, die Vollkommenheit des Opfers Jesu Christi und seines Werkes vor dem Angesicht Gottes darzubringen. Gewiss gäbe es für die Erlösten ohne die Erinnerung an das Sündopfer, wie wir es am Anfang des Lobgesanges in Offenbarung 1 finden, keinen Gottesdienst. Aber je mehr wir über die Vollkommenheiten des Opfers selbst nachsinnen, desto mehr werden sich unsere Körbe für den Gottesdienst füllen. Und diese Vollkommenheiten leuchten in unvergleichlicher Weise aus diesem Psalm hervor: Es sind die Herrlichkeiten Jesu in seinem Leiden der Sühnung.

Von diesen Leiden ist im Wort verhältnismässig wenig die Rede. Es wird uns nicht gesagt, worin sie bestanden haben; sie sind sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen, wenn im 40. Psalm von «meinen Ungerechtigkeiten» (Ps 40,13), im 69. Psalm von «meiner Torheit» und «meinen Vergehungen» (Ps 69,6), und in unserem Psalm vom Verlassensein von Gott die Rede ist. Man kann sie wahrnehmen, wenn das Wort vom Schwert spricht, das «gegen meinen Hirten und gegen den Mann, der mein Genosse ist» erwacht (Sach 13,7), und wenn der Herr ausruft, dass Ihm die Wasser «bis an die Seele gekommen» seien und Er in «tiefen Schlamm versunken» sei und «die Flut» Ihn «überströme» (Ps 69,2.3). Das sind für den menschlichen Geist unergründliche Dinge, die wir erst in der Ewigkeit verstehen werden.

Vers 3

Sowohl dieser Vers als auch die Verse 15 und 16 unseres Psalms geben uns einen Begriff von der Tiefe der Leiden dessen, der auf diese Weise von Gott verlassen und geschlagen wurde: «Mein Gott! Ich rufe am Tag, und du antwortest nicht; und bei Nacht, und mir wird keine Ruhe.» Er, der in Psalm 63,2 sagt: «Gott, du bist mein Gott! Früh suche ich dich …», muss hier bekennen: «Ich rufe am Tag, und du antwortest nicht …» Er wendet sich an seinen «starken Gott» (El), erhält aber keine Antwort. Dabei ist sehr beachtenswert, dass der Herr trotzdem sein Angesicht Gott zugewandt hält und seine Klage vor Ihm ausschüttet. Wenn sein Gebet auch nicht bis zu Gott hindurchdrang – ein Ausdruck, den wir in Klagelieder 3,44 finden – so blieb Gott gleichwohl der Gegenstand seines Herzens und der Beweggrund seines Lebens.

So trat also in seinen Leiden am Kreuz die erhabenste Vollkommenheit des Herrn Jesus zutage; dort kam das, was Er ist, in absoluter Weise zum Vorschein. Und diese Vollkommenheit des Opfers ist es, die wir als Anbeter Gott, seinem Vater, darbringen.

Vers 4

In diesem Psalm zeigen sich nicht nur die Vollkommenheiten der Natur des Herrn, sondern auch die Vollkommenheiten seiner Gefühle und seines Vertrauens, das gerade in diesen Stunden so deutlich zutage trat. An das Kreuz genagelt, verkündete Jesus die Heiligkeit Gottes: «Doch du bist heilig, der du wohnst bei den Lobgesängen Israels.» Er machte sich mit Israel eins in der Erkenntnis, dass der HERR der Lobgesänge seines Volkes würdig ist, und indem Er die Last des ganzen Zornes Gottes gegen die Sünde trug, stellte Er gleichzeitig das Mass der Heiligkeit Gottes fest.

Die Heiligkeit Gottes liess es nicht zu, dass sich sündige Menschen mit Ihm versöhnten, es sei denn, ein vollkommenes Opfer werde für sie dargebracht. Die Vollkommenheit des reinen und fleckenlosen Opfers Christi war nötig, um der göttlichen Heiligkeit zu entsprechen. Durch seinen Tod am Kreuz hat der Herr Jesus seinem Vater Gelegenheit gegeben, für alle Ewigkeit seine Herrlichkeit zu entfalten. Man darf sagen: Auch wenn kein einziger Sünder errettet worden wäre, so hätte der Herr dennoch sein Leben dafür hingegeben, dass die sittliche Herrlichkeit Gottes für ewig offenbart wurde.

Verse 5-7

In diesen Versen erinnert Christus an die Treue Gottes, der immer und ausnahmslos alle befreit hat, die auf Ihn vertrauten. Der Herr selbst hatte in seinem Dienst die Menschen eingeladen, auf Gott zu vertrauen, und nun war Er hier gezwungen, in aller Öffentlichkeit vor den Menschen, vor den Engeln und vor der Geschichte zu verkünden, dass Gott Ihn verlassen habe.

Welch eine erstaunliche Tatsache für die Engel, die dieses aussergewöhnliche Schauspiel betrachteten! Der Herr erklärte (Vers 5): «Auf dich vertrauten unsere Väter … und du errettetest sie.» Im ganzen Verlauf der Geschichte der Menschheit hatte es nie einen auf Gott vertrauenden Menschen gegeben, der von Ihm verlassen worden wäre. Aber hier verleugnete Gott scheinbar sich selbst. In Psalm 69,7 tritt der Herr für die Seinen ein und betet für sie, dass sie nicht durch Ihn beschämt werden möchten. Er bittet darum, dass das Verlassensein, das Er erfahren musste, den Heiligen nicht zum Ärgernis werde, zum Stein des Anstosses für die, die Gott suchen, und wegen des Anblicks des verlassenen Christus am Kreuz an Gottes Treue zweifeln könnten.

Wenn hier ein Vergleich erlaubt ist, so hat auch Paulus aus seinen Trübsalen heraus den Ephesern geschrieben: «Deshalb bitte ich, nicht mutlos zu werden durch meine Drangsale für euch, die eure Ehre sind» (Eph 3,13).

Hier, in den Versen 5 und 6, bezeugt der Herr, dass die Treue Gottes weder gegenüber dem Glauben der Väter noch gegenüber dem Vertrauen von irgendeinem Menschen gefehlt habe. Aber im siebten Vers stellt Er sieh in Gegensatz zu ihnen allen: «Ich aber bin ein Wurm und kein Mann …» Welch eine unbegreifliche Erniedrigung! Welch eine Demütigung ohnegleichen!

Verse 8 und 9

Aus diesen Versen geht hervor, wie sehr der Herr am Kreuz unter dem Spott der Menschen gelitten und wie Ihn dort der höhnende Zuruf der Obersten der Juden tief geschmerzt hat: «Vertraue auf den HERRN! – Der errette ihn, befreie ihn, weil er Gefallen an ihm hat!» Das Herz des Herrn war für einen solchen Pfeil der Zunge der Menschen unendlich verwundbar. Psalm 57,5 bezeichnet sie als «Menschenkinder, deren Zähne Speere und Pfeile sind und deren Zunge ein scharfes Schwert ist». Er wurde hier angeklagt, wie einst Hiob von seinen Freunden, seine Lage beweise, dass er Gott nicht wohlgefalle: «Gott rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt» (Mt 27,43). Daher wird der Überrest später bekennen: «Wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt» (Jes 53,4). Während Hiob, der in seinen Leiden bis zur Ankunft seiner Freunde mit seinen Lippen nicht gesündigt hatte, in dieser Versuchung strauchelte, blieb Christus fest und offenbarte dabei nur seine eigenen Vollkommenheiten.

Der Herausforderung gegenüber: «Gott … rette ihn jetzt, wenn er ihn begehrt», ist die Antwort des Herrn Jesus kostbar; wir vernehmen sie wie einen Widerhall aus dem Jenseits der Auferstehung: «Er befreite mich, weil er Gefallen an mir hatte» (Ps 18,20). Übrigens war diese Herausforderung an den HERRN selbst gerichtet, und man kann sich denken, was sie für das Herz dessen bedeutete, der am Jordan über seinem Sohn den Himmel geöffnet und gesagt hatte: «An dir habe ich Wohlgefallen gefunden» (Mk 1,11).

Anderseits haben wir wohl zu beachten, dass es die Feinde selbst waren, die in diesem erhabenen Augenblick feststellten, dass Christus auf Gott vertraute.

Verse 10-12

Es scheint, dass sich der Herr im zehnten Vers auf Gott beruft. Mochten die Menschen denken und sagen, Er habe Gott nicht wohlgefallen und sei aus diesem Grund nicht durch Ihn befreit worden – Christus brachte mit innerer Gewissheit zum Ausdruck, dass Er vom Mutterschoss an auf Gott vertraut habe. Auch hierin ist Er weit erhaben über Hiob, der im Schmelztiegel der Prüfung voller Bitterkeit ausrief: «Warum starb ich nicht vom Mutterleib an?» (Hiob 3,11).

Eine Einzelheit in den Worten des Herrn hebt dieses Vertrauen deutlich hervor: Im Augenblick seines Verlassenseins sagte Er nicht «Gott», sondern «mein Gott» (Verse 2, 3 und 11). Ein an sich unbedeutendes Wort, und doch drückt es eine Wahrheit von unendlicher Tragweite aus.

Der Herr verwirklichte die Treue im Festhalten am Vertrauen auf Gott in völliger Weise, eine Treue, die wir so wenig kennen, obwohl sie eine der grossen Tugenden des Glaubens ist. Während wie vieler Augenblicke im Lauf eines Jahres vertrauen wir auf Gott? Wir stützen uns viel lieber auf die Umstände und auf alle möglichen Dinge.

Jesus hätte von seiner göttlichen Macht Gebrauch machen, sich schützen und sich in manchen Umständen einen Ausweg schaffen können; aber Er tat es nie. So war es z.B. auch, als Er in dem Schiff schlief: Erst als sein Vertrauen völlig offenbart war, hat Er als Gott dem Sturm und dem Meer befohlen. Auch in allen anderen Tagen und Stunden seines Lebens, von denen im Wort nichts erzählt wird, war es so. Sein bis dahin fortwährend offenbartes, vollkommenes Vertrauen erlaubte dem Herrn, so zu reden, wie Er es in den so schrecklichen Umständen des Kreuzes tat.

Doch gerade Er, der als einziger den Beweis geliefert hatte, dass man Gott unbedingt vertrauen kann, Er, der diesen Weg öffentlich vorangegangen ist, gerade Er musste ausrufen, dass der Gott seines Vertrauens Ihn verlassen habe. Aber gleichzeitig gab Er auch bekannt, dass Er trotzdem nicht aufhören werde, seinem Gott zu vertrauen! Das ist in Bezug auf die Vollkommenheit Christi das wunderbarste aller Geheimnisse.

Dieses Leben des Vertrauens an sich allein wäre auf dem Pfad des Herrn hier auf der Erde schon etwas Wunderbares gewesen. Aber zur Verherrlichung Gottes hätte daran das Schönste und Herrlichste gefehlt. So war auch der unerhörte Umstand des Verlassenseins Christi nötig, um das wahre Ausmass seiner Vollkommenheit, die in seinem Vertrauen offenbart wurde, anschaulich zu machen. Niemand wird sagen können: Christus hat vertraut, weil Gott so ganz für Ihn war, oder auch, weil Er keine Sünde mit sich herumtrug; es sei für einen mit der Sünde in Verbindung gekommenen Menschen viel schwieriger, auf Gott zu vertrauen. Nein, am Kreuz sehen wir Christus auf Gott vertrauen, als Gott gegen Ihn war, wie Er es nie gegen jemand anders sein wird. Er blieb vollkommen und immer gleich in sich selbst bis zum Ende der Prüfung.

Wenn die Gläubigen – vor und nach dem Kreuz – die Folgen dieses Vertrauens in Gott geniessen dürfen, so haben wir dies ausschliesslich der Tatsache zu verdanken, dass Jesus durch diese Leiden hindurchgegangen ist, ohne schwach zu werden und ohne irgendwelche Stütze zu haben. Wovon würde die Seele eines jeden Sünders in einer weit weniger heftigen Prüfung als dieser ergriffen werden? – Von Verzweiflung, von der Verzweiflung eines Menschen, der sich auf nichts mehr stützen kann. Jesus aber war ohne irgendwelche Stütze vonseiten der Engel oder vonseiten Gottes, und doch blieb sein Vertrauen in Gott unerschütterlich. Er hielt es aufrecht, als Ihm jede äussere Veranlassung dazu genommen war. Für sein Vertrauen gab es nur einen einzigen, einen innerlichen Grund: seine eigene Vollkommenheit. Eine solche Prüfung ohnegleichen musste unbedingt stattfinden, wenn diese überaus wichtigen sittlichen Probleme beleuchtet werden sollten. Jetzt aber ist alles vollkommen abgeklärt. Welcherlei sittliche Frage man auch in Betracht ziehen mag – am Kreuz wurde sie geregelt. Auch Satan hat nichts mehr zu sagen: sein Mund ist zum Schweigen gebracht; er hatte ihn während des Lebens Christi und, durch seine Werkzeuge, auch beim Tod Christi geöffnet. Wir sehen da den unbedingten Triumph des vollkommenen Menschen über alle Folgen des Bösen.

Wie gross ist das Werk, das durch den Eintritt der Sünde in die Welt notwendig geworden ist! Beim Sündenfall wurde Misstrauen in das Herz Adams und Evas gesät. Das Vertrauen Christi war nötig, selbst bis in das Verlassensein hinein, um das Vertrauen des Menschen Gott gegenüber wieder herzustellen. Und es war notwendig, dass Gott selbst im Blick auf die Verunehrung, die Er erlitten hat, durch das Vertrauen, das Jesus während jener drei Stunden an den Tag legte, auf eine unendlich erhabene Weise verherrlicht wurde. Die durch das Misstrauen des Menschen beleidigte Herrlichkeit Gottes erforderte diese Massnahme.

Wir sind leicht geneigt, alle diese Tatsachen in einer allgemeinen und oberflächlichen Weise zu betrachten, aber Gott will uns daran erinnern, dass alle diese Leiden Wirklichkeit waren; und die sittlichen und geistlichen Wahrheiten sind um vieles erhabener als alle anderen Wirklichkeiten. Es gibt aber keine sittliche Wahrheit, die nicht am Kreuz beleuchtet worden wäre; alle Wahrheiten wurden dort bis auf den Grund kundgetan, alle Fragen zur Verherrlichung Gottes, zur Verherrlichung Christi und zum Segen für die Auserwählten gründlich geregelt. Sich mit dem Kreuz beschäftigen, heisst, sich mit dem Wunderbarsten und Heiligsten beschäftigen, das es überhaupt gibt.

Die Liebe, das Vertrauen und die Abhängigkeit in allen Dingen, diese verschiedenen Wesenszüge des göttlichen Lebens im Leben Jesu und vor allem in seinem Tod zu betrachten – davon soll sich die Kirche nähren.