Psalm 22 (5)

Psalm 22,17-19

Die Verse 17-22 lassen uns das unvergleichliche Zartgefühl des Herrn erkennen und wie tief Er daher unter alledem litt, was Ihm widerfuhr. Äusserlich war Er ein Mensch wie die anderen; im Vergleich mit ihnen war aber bei Ihm, nebst vielen anderen Unterschieden, ein unendlicher, sittlicher Adel vorhanden. Er kam auch hier wunderbar zum Vorschein, wurde aber durch diese Hunde, diese gegen Ihn entfesselten Menschen, mit Füssen getreten. Wie verblendet waren sie – wir gehörten auch zu ihnen – dass sie es wagten, Hand an den Leib des Herrn zu legen! Auch dieser Demütigung hat Er sich ausgesetzt, ohne sich dagegen zu wehren.

Hätten sie selbst die geringste Zartheit besessen, so hätten sie es unterlassen, Ihn auf dem Kreuz so neugierig anzuschauen. Es gibt Dinge, die zu betrachten es sich nicht ziemt. Ein Mindestmass an Rücksicht erfordert, dass man vor einem leidenden Menschen mit einer gewissen Scheu den Blick abwendet. Sie aber standen schamlos da und wollten sich nichts entgehen lassen. Sie hatten Ihn angetastet, hefteten jetzt den Blick auf Ihn und teilten seine Kleider unter sich – alles das ohne die geringste Zurückhaltung. Wiederholt wird hier gesagt: «Sie haben mich umgeben … mich umringt … mich umzingelt», womit die Gewalttätigkeit und Bosheit dieser unreinen Menschen hervorgehoben werden soll. Sie hatten sich alle gegen den Heiligen und Gerechten verbündet und waren eines Sinnes in ihrer Mordgier gegen den Gekreuzigten.

Diese Ausdrücke der Schrift sind äusserst sprechend; sie geben die Bissigkeit, die wilde Grausamkeit der Hunde wieder, die sie feige an dem ausliessen, der so wehrlos vor ihnen hing. So also zeigte sich das Herz des Menschen: Es überfloss von Hass gegen Seinen Schöpfer, der gekommen war, um ihm Gutes zu tun. Die Menschen gebärdeten sich wie eine Meute von Hunden, die gegen Ihn, den Vollkommenen, heulten, der seinem Wesen nach Sanftmut und Güte war. Man weiss ja, wie roh eine Volksmenge sein kann; sie offenbart oft die niedrigsten Instinkte und gibt ihnen freien Lauf, wenn sie weiss, dass der Einzelne anonym bleibt.

Die vor uns liegenden Verse zeigen uns, wie sehr das Herz unseres Herrn dadurch gepeinigt wurde. Unter diesen feindlichen Volksmengen, die eine unreine Neugierde zum Schauspiel der Kreuzigung hinzog und die während jenen Tagen des Passahfestes besonders zahlreich sein mochten, waren Tausende, die Er mit Sorgfalt und in Mitleid belehrt und geheilt und denen Er in der Wüste Speise dargereicht hatte, viele, die Ihm einige Tage zuvor bei seinem Einzug in Jerusalem als dem König zugejauchzt hatten. Wie tief hat Er diese Undankbarkeit empfinden müssen! Wie begreiflich, dass sein Herz angesichts eines solchen Hasses wie Wachs zerschmolz! Die hier verwendeten Ausdrücke sind aussergewöhnlich: «Wie Wasser bin ich hingeschüttet … wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide.» Rings um Ihn her war Gewalttätigkeit, Hass, Undankbarkeit, Spott. Alles war gegen Ihn. Alles im Herzen des Menschen verborgene Böse hat sich am Kreuz offenbart.

Auf dem Boden natürlicher Gefühle zeigen sich in der Handlungsweise der Menschen Unterschiede. Die einen werden die Schmach eines anderen möglichst zu verbergen suchen. Hier aber handelten alle schändlich, da war kein Unterschied. Diese Szene zeigt, dass man in keiner Weise auf die sittliche Zartheit des Menschenherzens bauen, noch auch damit rechnen kann, dass der Mensch gegenüber Gott, gegenüber dem vollkommen Guten, den Ihm gebührenden Respekt und Anstand wahren wird. Als der vollkommen Gute dem Menschen Hilfe anbot, da hat er sie, ohne es sich einzugestehen, bis zum äussersten ausgenützt, um sich hinterher als das zu offenbaren, was er ist. Hier war er kein Heuchler mehr.

Damit ist die völlige Verdorbenheit des Menschen endgültig zutage getreten, wie auch die Unmöglichkeit einer Verbindung mit Gott. Zwischen Ihm und dem Menschen in seinem natürlichen Zustand ist nur im Gericht eine Berührung möglich, wenn man das Berührung nennen kann. Wir sagen dies nicht aus dem Wunsch heraus, den Menschen herabzusetzen; aber wenn die Leiden des Herrn und seine sittliche Herrlichkeit eine Seite der Wahrheit sind, so gibt es auch eine andere Seite, die von ihr unzertrennlich ist: der traurige Zustand des Menschen. Um davon überzeugt zu sein, hatte Gott nicht nötig, den Menschen dadurch zu erproben, dass Er ihm seinen Sohn vorstellte; Er kannte diesen Seinen Zustand ja seit dem Sündenfall. Aber wir Menschen hatten eine solche Erprobung nötig, um unser eigenes Bild zu sehen und zu erkennen. Wie sollten wir, die wir dieses Bild betrachtet haben, uns doch von den Menschen unterscheiden, die von sich selbst noch eine solch hohe Meinung zur Schau tragen! Wir sollten uns nicht fürchten, ihnen bei Gelegenheit zu sagen, was der Mensch in den Augen Gottes ist.

Man erwarte also vom natürlichen Menschen nicht Takt und Zartgefühl; auch auf diesem Boden hat er gezeigt, wie schlecht es um ihn steht. In den Beziehungen der Menschen untereinander mögen diese Dinge noch ihren Wert haben; aber Christus hat erprobt, wie weit unsere natürliche sittliche Zartheit reicht: Der Mensch freute sich in Bosheit über die Schmach Jesu! Und was der Herr hier sagt – denn Er ist es immer noch, der hier redet – zeigt, wie tief Er dies empfand: «Sie schauen und sehen mich an» (oder: «Sie sehen mit Genugtuung auf mich»). Er empfand es viel tiefer als wir, weil Er vollkommen war; die Sünde hatte seine Empfindsamkeit, seine göttliche Empfindsamkeit, nicht abgestumpft.

«Alle meine Gebeine könnte ich zählen.» – Deutet Er mit diesen Worten nicht auf seine physische Schmach hin, die vor allen diesen Blicken ausgebreitet war? Alle seine Gebeine waren sichtbar, und sein Dienst hatte Arbeit, Müdigkeit und Leiden mit sich gebracht, die an seinem Leib Spuren hinterliessen. – Nach der Schrift sollte nicht eines seiner Gebeine zerbrochen werden (Ps 34,21). Die Gebeine scheinen ein Sinnbild des Willens des Menschen zu sein. Ein Mensch kann Widerstand leisten, weil er Gebeine hat; und man findet in der Schrift Andeutungen, dass Gott, um segnen zu können, da und dort gezwungen war, die Gebeine eines Menschen im bildlichen oder wirklichen Sinn zu zerbrechen. «Wie ein Löwe zerbrach er alle meine Gebeine», sagte Hiskia (Jes 38,13). Aber bei dem Herrn war nichts zu zerbrechen; bei Ihm gab es keinen unabhängigen Willen; Ihn erfüllte vielmehr der tiefe Wunsch, den Willen des Vaters bis in den Tod zu vollbringen.

Wir sind überzeugt, dass es nie einen Menschen gab, der im Besitz der Macht, sich solchen Blicken zu entziehen, keinen Gebrauch davon gemacht hätte. Niemand, der diese Macht besässe, ertrüge den Schmerz einer solchen Demütigung vonseiten der Menschen, und von was für Menschen! Wir, die wir so sehr geneigt sind, uns mit Ehren zu umgeben, uns zu schmücken und zu zieren, lasst uns lesen, was hier geschrieben steht: «Sie teilen meine Kleider unter sich.» Der Herr spricht als einer, der sich aller dieser Dinge bewusst war, aber alles annahm, weil es so sein musste. An einer anderen Stelle sagt Er: «Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger. Der Hohn hat mein Herz gebrochen …» (Ps 69,20.21). In unseren Zusammenkünften zur Anbetung und in unseren stillen Betrachtungen gibt es Raum für die Erinnerung an dieses alles. Bei diesen Dingen handelt es sich zwar nicht um die Sühnung, aber ohne diese sozusagen vorausgehende Vollkommenheit Christi angesichts derartiger Beschimpfungen wäre die Sühnung gar nicht möglich geworden. Wäre in seinem Herzen der geringste ungute Gedanke aufgekommen gegenüber den vielen entsetzlichen Dingen, die aus dem Inneren der Menschen um Ihn her auf Ihn zukamen, so hätte Er nicht das heilige Opfer sein können.

Weshalb hat Christus, der hauptsächlich auf die Erde gekommen ist, um das Sühnungswerk zu vollbringen, auch die ersten drei Stunden des Kreuzes erfahren müssen, während denen Er es doch noch nicht mit dem Zorn Gottes zu tun hatte? Wenn doch die Erlösung einzig durch seinen Tod geschehen konnte, warum haben wir dann in der Schrift den Bericht über sein Leben als «Mann der Schmerzen» und insbesondere über diese letzten Augenblicke, in denen sich der Hass der Menschen so masslos über Ihn ergoss? Hätte Ihm das nicht erspart werden können? – Nein; ein wichtiger Grund für die Leiden vor und während der ersten drei Stunden des Kreuzes war der, dass Jesus als ein vollkommenes Opfer offenbart werden musste, und alle Prüfungen, die Er vor den schrecklichen Stunden des Zorns Gottes erlebt hat, haben zu diesem wunderbaren Beweis geführt. Im Schmelztiegel des Leidens ist bei Ihm vollkommen reines Gold zum Vorschein gekommen. Alles hat sich miteinander verbunden, um die Darstellung dieser Vollkommenheit zu verhindern; aber dadurch ist seine Vollkommenheit nur umso deutlicher sichtbar geworden. Es ist eine unerhörte Szene, vor der wir beschämt verstummen.

In den beiden Abschnitten der Verse 13-16 und 17-19 sieht man die beiden Wesenszüge der Sünde zutage treten; einerseits die Gewalttätigkeit und anderseits die Sittenverderbnis und ihre Auswirkungen: eine gemeine und niederträchtige Gesinnung. Wie oft zeigen sich die Menschen, die zwar Hemmungen hätten, ihren Nächsten vor den Augen anderer Schläge zu versetzen, hintenherum in ihrer Handlungsweise und in ihren Reden sittlich so tiefstehend! Wir alle haben uns vor dieser Falschheit unserer menschlichen Natur in Acht zu nehmen.

Die sittliche Verdorbenheit des Menschen findet sich überall und nichts vermag sie zu ändern.

Es gibt Dinge, unter denen sie sich mehr oder weniger geschickt verbergen kann; in gewissen Kreisen zeigt sie sich hemmungsloser als in anderen; aber sie ist überall zu finden. Die Erziehung, selbst wenn sie christlich ist, verbessert nichts daran. Sie bremst sie, aber zerstört sie nicht. Einzig die göttliche Natur, die der Mensch bei seiner Bekehrung empfängt, wird andere Wesenszüge offenbaren. Ohne Neugeburt gibt es nichts Gutes im Menschen. Und selbst nach der Bekehrung wird sich das Fleisch früher oder später zeigen, wenn es nicht mit Wachsamkeit im Tod gehalten wird.

Ein schreckliches Gefühl wird hier blossgelegt: Ein unversöhnlicher Hass gegen alles, was sittlich über uns steht. Kain wurde zum Mörder, weil die Werke seines Bruders gerecht waren, die eigenen aber böse (1. Joh 3,12). Wir finden diesen Hass sowohl bei den «Hunden» als auch bei den «Stieren». Und wir, sind wir in unseren Herzen völlig frei davon? Gibt es da nicht dann und wann böse Gefühle, wenn uns die Vollkommenheit anderer straft? Und gerade dieser Hass gegen das Licht ist es, den die Welt den Gläubigen in dem Mass fühlen lässt, wie dieser treu ist, Hass gegen das, was heilig ist und was den Wohlgeruch Christi offenbart. «Alle, aber auch, die gottselig leben wollen in Christus Jesus, werden verfolgt werden» (2. Tim 3,12).

In dieser Szene des Kreuzes wurde wie nirgendwo sonst der Beweis erbracht, dass es zwischen Licht und Finsternis keine Gemeinschaft gibt. Man konnte Jesus nichts vorwerfen; im Gegenteil, bei Ihm war alles Licht und Liebe; und darum rächte man sich an Ihm.

Der Herr hat es seinen Zeugen im Lauf der Jahrhunderte geschenkt, ähnliches zu erdulden und sogar um seinetwillen eines schmachvollen Todes zu sterben. «In Kälte und Blösse», sagt der Apostel (2. Kor 11,27). Das sind Worte, die wir wenig erwägen. Es gibt Märtyrer, denen es gegeben war, öffentlich zur Schau gestellt, tief gedemütigt zu werden und zu sterben, indem sie dabei den Herrn verherrlichten und gegenüber ihren Peinigern keinerlei böse Gedanken offenbarten. Stephanus war ein solcher: Er starb eines schimpflichen Todes, wurde gesteinigt, blutig geschlagen, zerschmettert und niedergeworfen … Aber sein Tod wurde zu einem wahren Triumph: Er war Jesus ähnlich.

Adam und Eva konnten nach ihrem Fall ihren Zustand nicht ertragen und bedeckten sich mit Feigenblättern. So handelt der Mensch in seinem sittlichen Elend. Christus aber, in völligem Gegensatz zum ersten Menschen, ertrug hier, aller seiner Kleider entblösst, in jeder Hinsicht und vor den Augen aller die Folgen ihrer Sünde. Diese Erniedrigung Jesu, die wir zwischen den Zeilen lesen müssen, diese öffentliche Demütigung, dieses Fehlen alles dessen, was Ihn verbergen konnte, ist für den Gläubigen Anlass zur Anbetung. Denn durch diese Schmach hindurch, die Jesus angenommen hat, erkennt der Glaube seine ganze sittliche Schönheit als die Kraft, die Ihn befähigte, diesen Platz einzunehmen.

Wie bietet sich uns hier in Ihm doch ein so völlig anderes Bild, als in dem, was wir in unserer eigenen Natur und in unserer täglichen Umgebung finden! Wie lernen wir da begreifen, dass wir nur Ihn selbst und niemand sonst zum Anführer und zum vollkommenen Vorbild haben können!

Er also ist unser Anführer und unser Herr! Er hing an einem Kreuz, entblösst, gedemütigt, zu Tode betrübt, von allen verworfen, ein Gegenstand des Hasses, der Verachtung, des Spottes und des Abscheus. Sind wir stolz auf Ihn? Rühmen wir uns, angesichts einer Welt, die Ihn verachtet und verwirft, einem solchen Herrn anzugehören und zu dienen, der hier auf der Erde als Mensch gekreuzigt wurde? Oder suchen wir in der Welt einen anderen Platz als den, den sie Ihm gegeben hat?