6. Gott ist Liebe – seine Liebe in uns
In diesen Versen sehen wir die gegenwärtigen Beweise der Liebe Gottes, die wir auf unserer Lebensreise durch diese Welt erfahren können.
Kinder Gottes lieben einander (V. 11)
«Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sind auch wir schuldig, einander zu lieben.» Das ist der Grundsatz der Gnade. Gott hat uns geliebt, darum lieben wir. Der Grundsatz des Gesetzes lautet: Du musst etwas tun, damit du etwas wirst. Aber der Grundsatz der Gnade ist anders: Wir haben etwas umsonst empfangen, damit es unser Beweggrund und Massstab für unser Verhalten sei. Die Aussage «Wenn Gott uns so geliebt hat …» verweist auf die Verse 9 und 10, wo uns auf eine wunderbare Weise vorgestellt wird, wie Gottes Liebe auf Golgatha erstrahlte.
Die Liebe Gottes strahlte schon in der Schöpfung hervor, indem Er die Erde für den Menschen schuf. Der Liederdichter drückt es so aus:
- Deine Gnade an uns dachte,
eh der Welten Grund gelegt.
Deine Liebe uns bewachte,
seit uns diese Erde trägt.
Gott liebte auch das irdische Volk Israel. Er zog es mit Seilen der Liebe. Er hatte es auserwählt, nicht weil es grösser war als andere Völker, sondern weil Er es liebte (5. Mo 7,7.8).
Aber die Fortsetzung des erwähnten Liedes lautet:
- Doch am hellsten strahlt die Sonne
deiner Lieb und Gnad, o Gott,
als Du Jesus, deine Wonne,
gabst für Sünder in den Tod.
Gott hat dem Menschen seine Liebe immer wieder bewiesen. Aber auf Golgatha erstrahlte das ganze Ausmass seiner wunderbaren Liebe. Und diese Liebe motiviert uns und leitet uns an, einander in der Familie Gottes zu lieben.
Wie Gott sich heute offenbart (V. 12)
«Niemand hat Gott jemals gesehen.» Das war so, bis der eingeborene Sohn auf die Erde kam und Gott kundmachte (Joh 1,18). In der Person des Sohnes, der als Mensch hier lebte, konnte man sehen, wer Gott ist. Einerseits zeigte sich die Gesinnung des Herrn Jesus darin, dass Er konsequent alles ablehnte, was gegen Gott und sein Wort war. Er offenbarte einen Gott, der Licht ist und in dem gar keine Finsternis ist. Anderseits zeigte sich die Gesinnung des Heilands in seiner Gnade und seinem Erbarmen zu den Menschen. Er offenbarte einen Gott, der Liebe ist. Wenn man Gott sehen wollte, musste man den Herrn Jesus betrachten, wie Er als himmlischer Fremder von einem Ort zum anderen zog. Seine Begleiter haben im Glauben seine Herrlichkeit angeschaut und in Ihm Gott gesehen.
Inzwischen lebt Er nicht mehr auf der Erde. Nachdem Er das Werk vollbracht hatte und ins Grab gelegt worden war, ist Er auferstanden und in den Himmel zurückgekehrt. Wie kann man jetzt auf der Erde Gott sehen? Diese Frage wird hier beantwortet. «Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, so bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.» Wenn die Kinder Gottes einander lieben, kann Gott gesehen werden. Er wird durch ihre Liebe offenbart. Hinter der Aussage dieses Verses steht keine verborgene Ermahnung, sondern es wird eine Tatsache vorgestellt: Kinder Gottes lieben einander! Wenn wir diese abstrakte Redeweise von Johannes vor unsere Herzen und Gewissen stellen, dann hat sie eine gewaltige Wirkung auf unsere Praxis.
Ein Erlebnis mag uns helfen, diesen Vers zu verstehen: Ich las während einer Bahnfahrt die Bibel und meine Studienbibel lag neben mir. Der Mann, der mir gegenüber sass, sprach mich an und bemerkte: «Sie haben zwei Bibeln, ich besitze drei Bibeln.» Im Lauf des Gesprächs wurde klar, dass wir beide Leben aus Gott hatten. Dadurch entstand eine gesegnete Unterhaltung. Unsere Herzen verbanden sich in Liebe miteinander als Kinder Gottes. Ein dritter Mann schaltete sich in unser Gespräch ein, weil er an meiner Sprache meine Herkunft erkannte. Er lobte mein Heimatland. Bald merkte ich, dass er zwar freundlich und gebildet war, aber keine geistlichen Interessen hatte. Ich erkannte den Unterschied. Mit dem Ersten war ich in göttlicher Liebe verbunden, obwohl wir uns vorher nicht gekannt hatten. In unserer kurzen Gemeinschaft wurde der unsichtbare Gott sichtbar – jedenfalls für mich, bestimmt auch für mein Gegenüber und ich hoffe auch für den Dritten. So offenbart sich Gott heute, wenn sich die Kinder Gottes lieben.
Die Offenbarung Gottes geschieht zunächst dadurch, dass die Liebe Gottes in uns offenbart wird, wenn wir einander lieben. Aber Gott wird auch durch uns offenbart. Wenn diese gegenseitige Liebe bei den Kindern Gottes gesehen wird, hat das eine Zeugniskraft. Dann wird um uns her sichtbar, dass es wirklich einen Gott gibt. Obwohl wir als Christen ganz verschieden sind, versammeln wir uns miteinander zum Namen des Herrn Jesus hin. Wir stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und sind ganz verschieden. Unter uns gibt es übergenaue und grosszügige, langsame und schnelle Glaubensgeschwister, solche, die viel reden und andere, die schweigsam sind, Akademiker und Handwerker. Trotzdem kommen wir mehrmals in der Woche an einem Ort zusammen. Warum? Weil wir uns als Kinder Gottes lieben und miteinander dem Wort Gottes gehorchen möchten. Dadurch wird Gott für uns und auch für die Welt sichtbar.
Gott bleibt in uns. Er ist in diesen Beziehungen anwesend und bewirkt diese Liebe, die alle Schranken übersteigt.
Der Vers endet mit den Worten: «Seine Liebe ist vollendet in uns.» Das ist etwas Grosses: Wenn Gott in uns bleibt, kommt unser Denken, Fühlen und Handeln in seiner Liebe zur Ruhe.
Wir in Ihm, Er in uns (V. 13)
«Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns.» Johannes liebt es zu sagen: «wir in ihm und er in uns.» Oder umgekehrt: «er in uns und wir in ihm.» Da diese Ausdrucksweise wiederholt vorkommt, fragen wir uns: Was will der Apostel damit sagen? Drei Gedanken helfen uns, die Bedeutung dieser Sätze zu verstehen:
- Der Grundgedanke dieser wechselseitigen Aussage ist in allen Fällen Gemeinschaft. Dies wird noch durch das Wort «bleiben» unterstrichen, das auch mit «wohnen» übersetzt werden kann. Früher sprach man von einer Bleibe und meinte damit ein Haus oder eine Wohnung. Da hält man sich auf, da geht man nicht weg. Johannes denkt also beim Ausdruck «bleiben» an «wohnen». Glaubende Menschen haben ein Verlangen nach Gott, sie lieben Gott, sie haben jetzt in Gott eine Wohnstätte gefunden. Sie freuen sich an und in Gott. Sie fühlen sich wohl bei Ihm. Das ist das Wesen der Kinder Gottes.
- Bei dieser wechselseitigen Aussage denkt Johannes manchmal an die grundsätzliche und manchmal an die praktische Gemeinschaft. Aus dem Zusammenhang können wir erkennen, ob er das eine oder das andere oder beides meint.
- Durch die Reihenfolge wird klar, ob er die Seite unserer Verantwortung anspricht oder ob er uns die Seite der Gnade Gottes zeigen will. Wenn er mit uns anfängt: «wir in ihm und er in uns», dann stellt er unsere Verantwortung vor. Beginnt er jedoch mit «er in uns und wir in ihm», dann zeigt er uns die göttliche Gnade.
Die Verantwortung der Gemeinschaft (V. 13)
Der Vers beginnt mit den Worten: «Hieran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben.» Das spricht von unserer Verantwortung. Bei unserer Bekehrung kamen wir grundsätzlich und bleibend in die Gemeinschaft mit Gott. Doch dann fährt der Apostel fort: «… und er in uns.» Gott beantwortet diesen Glaubensschritt, indem Er für immer in uns bleibt, denn im bußfertigen Menschen findet Er eine Wohnstätte. Das ist etwas Wunderbares: Ein hoher Gast kommt zu uns kleinen Menschen und wohnt in uns. Es ist Gott selbst, der in uns ehemaligen Sündern wohnen möchte. Ist das nicht gewaltig?
Johannes stellt hier also eine grundsätzliche Gemeinschaft mit Gott vor, die von jedem Kind Gottes wahr ist. Aber im Erkennen dieser Tatsache liegt eine gewaltige praktische Wirkung.
Ich möchte das an einem Beispiel klarmachen: Wenn wir in unserer Familie für ein oder mehrere Tage einen Gast zu Besuch hatten, veränderte seine Gegenwart die ganze Atmosphäre des Hauses. Die Familie sah in dieser Zeit anders aus. Sie passte sich dem Besuch an. Wenn Gott in uns ist, d.h. eine Wohnstätte in seinen Kindern gefunden hat, dann adelt das alles in unserem Leben. Es bringt eine völlig andere Atmosphäre in unsere Herzen und in unsere Familien.
Der Geist Gottes (V. 13)
«Dass er uns von seinem Geist gegeben hat.» Der Geist Gottes ist gekommen und uns gegeben worden. Durch Ihn empfangen wir Kraft, in der Gemeinschaft mit Gott zu leben. Wir könnten das nicht aus eigener Energie.
Es geht hier nicht um den Gedanken der Sicherheit wie z.B. in Epheser 1,13. Dort heisst es, dass «wir versiegelt worden sind mit dem Heiligen Geist der Verheissung». Das bedeutet: Wir gehen nicht verloren, weil Gott seine Hand für Zeit und Ewigkeit auf uns gelegt hat. Den Gedanken an Sicherheit finden wir auch in 1. Johannes 3,24: «Hieran erkennen wir, dass er in uns bleibt, durch den Geist, den er uns gegeben hat.»
Doch hier in Vers 13 dürfen wir daran denken, dass der Geist Gottes in uns wohnt, um uns Kraft für die Gemeinschaft mit Gott zu geben.
Unser Zeugnis (V. 14)
«Wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt.» Jetzt geht es nicht mehr um Gemeinschaft, sondern um Zeugnis. Überrascht uns der Wechsel von der Gemeinschaft zum Zeugnis? Wir finden in der Bibel wiederholt den wichtigen Grundsatz, dass jedes Zeugnis für Gott auf der Erde aus der Gemeinschaft mit Ihm entspringt.
Das sehen wir schon bei Joseph. In 1. Mose 37 sandte Jakob seinen Sohn Joseph zu den Brüdern. Sofort war dieser bereit zu gehen, um nach ihrem Wohlergehen zu sehen. Er trug das Kleid, das er vom Vater bekommen hatte, und legte dadurch seinen Brüdern ein Zeugnis vom Vater ab. Der Ausgangspunkt für seine Reise zu den Brüdern war das Tal Hebron (= Gemeinschaft). Joseph kam aus der Gemeinschaft mit seinem Vater, um bei den Brüdern von ihm zu zeugen. Dieses Prinzip ist überaus wichtig für unsere Praxis. Wir können nur ein echtes Zeugnis für Gott auf der Erde sein, wenn es aus dem verborgenen Umgang mit Ihm selbst hervorkommt.
Man kann das Zeugnis vor den Menschen nicht organisieren oder trainieren. Leider geschieht das in der Christenheit. Aber wenn die persönliche Gemeinschaft mit Gott fehlt, werden wir nie kraftvolle Zeugen für Ihn sein.
«Wir haben gesehen und bezeugen, dass der Vater den Sohn gesandt hat, als Heiland der Welt.» Wir sehen hier, wie das Herz des alten Apostels weit wird. Nachdem er die Ruhe und die Freude der Gemeinschaft der Kinder Gottes beschrieben hat, kommt jetzt der tiefe Wunsch aus seinem Herzen, dass doch alle Menschen diese Vorrechte geniessen möchten. Kennen wir das nicht auch? Da waren wir am Sonntagvormittag zusammen, um Brot zu brechen. Die ganze Liebe des Christus auf Golgatha stand vor unseren Herzen. Wurde da nicht in uns der Wunsch wach, hinauszugehen, um den Menschen durch unser Verhalten die Liebe des Heilands zu bezeugen?
Aus diesem Grund stellt Petrus in seinem ersten Brief zuerst die heilige Priesterschaft (= Anbetung) und dann die königliche Priesterschaft (= Zeugnis) vor. In dem Mass, wie wir beim Brotbrechen als Anbeter vor Gott erscheinen, werden wir als Zeugen in die Welt hinausgehen und seine Tugenden verkünden.
Der Heiland der Welt (V. 14)
Welch ein schöner Name unseres Herrn: Heiland der Welt! Er kommt nur hier und in Johannes 4,42 vor. Dort sehen wir den Herrn Jesus in Samaria. Beim Lesen jenes Kapitels fesselt es mich immer wieder, wie der Sohn Gottes das Herz jener sündigen samaritischen Frau durch eine Bitte aufschliesst. Nach dem Gespräch mit Ihm geht sie zu den Leuten ihrer Stadt und erzählt ihnen von Dem, der ihr alles gesagt hat, was sie getan hat. Daraufhin kommen die Bewohner von Sichar selbst hinaus, um Ihn zu sehen. Nach der Begegnung mit Jesus Christus bekennen sie: «Wir glauben nicht mehr um deines Redens willen, denn wir selbst haben gehört und wissen, dass dieser wahrhaftig der Heiland der Welt ist.» Der Herr Jesus als Heiland der Welt ist die alleinige Grundlage für den Dienst im Evangelium.
Die Gnade der Gemeinschaft (V. 15)
Nachdem Johannes gezeigt hat, dass die Liebe Gottes alle Schranken durchbrechen kann und allen Menschen die Errettung in Jesus Christus anbietet, fährt er fort: «Wer irgend bekennt, dass Jesus der Sohn Gottes ist, in ihm bleibt Gott und er in Gott.» Im Vergleich zu Vers 13 ist jetzt die Reihenfolge umgekehrt: Gott bleibt im Glaubenden und er in Gott. Das ist die Reihenfolge der göttlichen Gnade. Vergessen wir nie: Dass wir als Kinder Gottes Gemeinschaft mit Ihm haben dürfen, ist reine Gnade!
Das Vertrauen der Gemeinschaft (V. 16)
Weiter schreibt Johannes: «Wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.» Jetzt ist die Reihenfolge gegenüber Vers 15 wieder umgekehrt, denn es geht um unsere Verantwortung. Dass wir mit Gott Gemeinschaft haben können, ist auf der einen Seite eine wunderbare Gnade Gottes, aber auf der anderen Seite bringt sie auch die Verantwortung mit sich, alles aus unserem Leben zu entfernen, was diese Gemeinschaft mit Gott hindert.