Der Schatten des Kreuzes (1)
Mit Kapitel 14 kommen wir zu den letzten, feierlich ernsten Szenen im Leben des Herrn, in denen viele Herzen offenbar werden. Die Falschheit und das gewaltsame Vorgehen der jüdischen Führer, die Liebe einer treuergebenen Frau, die Treulosigkeit des Verräters und die Verleugnung durch einen wahren Jünger stehen vor uns. Aber über allem strahlt die unendliche Liebe und vollkommene Gnade Christi hervor: wenn Er das Abendmahl einsetzt, den qualvollen Kampf in Gethsemane durchsteht und sich schweigend den Schmähungen der Menschen unterwirft.
Verse 1,2
Am Anfang des Kapitels wird kurz festgehalten, mit welcher Todesfeindschaft die Führer des Volkes dem Herrn nachstellten. Schon vorher hatten sie Ihn mit Worten des Hasses umgeben und ohne Ursache gegen Ihn gestritten. Sie hatten Ihm Böses für Gutes und Hass für seine Liebe erwiesen (Ps 109,2-5). Bei jedem Schritt hatte Er vollkommene Liebe offenbart; immer und überall hatte Er nur Gutes getan. Er hatte Kranke geheilt, Nackte bekleidet, Hungrige gespeist, Sünden vergeben, vom Teufel befreit und Tote auferweckt. Er hatte die Menschen gewarnt, sie eindringlich zur Umkehr ermahnt, über sie geweint – aber alles umsonst. Und nun ist die Zeit gekommen, da sie entschlossen sind, Ihn zu greifen und zum Tod zu bringen. Um ihr Vorhaben auszuführen, müssen sie mit List vorgehen – ein sicherer Beweis, dass ihre Beweggründe böse waren und dass, obwohl sie Menschen fürchteten, keine Gottesfurcht in ihnen war. Wenn auch die meisten Leute kaum das persönliche Bedürfnis empfanden, Christus nötig zu haben, wussten sie doch seine Güte und die Wohltat seiner Wunder zu schätzen. Aus Furcht vor einem Aufruhr, wenn die Volksmengen zum Passahfest in Jerusalem versammelt sein würden, beschliessen diese Führer, den Herrn nicht an diesem Fest zu verhaften. Gott hatte es jedoch anders bestimmt, und wie immer kommt, trotz der List und Absichten der Menschen, sein Wille zur Ausführung.
Verse 3-9
Nach dieser kurzen Erwähnung bezüglich der Volksführer folgt nun die schöne Szene im Haus von Bethanien. Während der Herr beim Abendessen im Haus Simons, des Aussätzigen, weilt, bringt eine Frau – aus andern Berichten wissen wir, dass es Maria, die Schwester von Martha, war – ein Alabasterfläschchen mit Salböl von echter, kostbarer Narde und giesst dieses aus auf das Haupt des Herrn. Maria offenbart auf diese Weise ihre Wertschätzung für Christus, ihre Zuneigung zu Ihm und ihr geistliches Verständnis. In diesem Augenblick scheint ihr Verständnis das der andern Jünger übertroffen zu haben. Durch Gnade gewonnen und durch Liebe angezogen, war sie in früheren Tagen zu den Füssen Jesu gesessen, um seinen Worten zu lauschen. Die Gnade und Liebe des Herrn Jesus hatten Liebe zu Ihm hervorgebracht, und sein Wort hatte geistliches Verständnis bewirkt.
Ihre Liebe zu Christus machte sie empfindsam für den zunehmenden Hass der Juden. Ihre Handlung war der Beweis ihrer Wertschätzung von Christus in Liebe, und das gerade in dem Augenblick, da die Anschläge der Menschen ihren Hass gegenüber Christus zum Ausdruck brachten. Und – wie traurig! – die Ehrenbezeugung Marias bringt die Habsucht einiger der Anwesenden ans Licht. Aus dem Bericht im Johannes-Evangelium wissen wir, dass Judas der Anführer derer war, die sich entrüstet über Maria äusserten. Was für Christus Gewinn war, bedeutete für Judas Verlust. Die Menschen haben Verständnis für wohltätiges Handeln zugunsten anderer Menschen, aber sie sehen wenig oder keinen Wert in einer Ehrenbezeugung, die allein Christus gilt. Stehen wir Christen nicht in Gefahr, in einer ähnlichen Einstellung recht aktiv zu sein, um Sündern das Evangelium zu verkündigen und für die Heiligen zu sorgen, aber wenig Sinn für die Anbetung zu zeigen, die Christus allein gebührt? Lasst uns nicht vergessen, dass jene, die über die Hingabe Marias murrten, in Tat und Wahrheit ein schiefes Licht auf Christus warfen. Wenn Marias Handlung nur Verschwendung war, dann ist Christus der Anbetung der Seinen nicht würdig.
Wenn jedoch Marias Tat bei den Menschen Entrüstung hervorruft, so zieht sie anderseits die Anerkennung Christi auf sich. Der Herr freut sich zu sagen: «Sie hat ein gutes Werk an mir getan.» In Lukas 10 lesen wir, dass Maria «das gute Teil» erwählt hatte. Hier erfahren wir, dass sie «ein gutes Werk» tut. Das gute Teil ist, zu seinen Füssen zu sitzen und auf sein Wort zu hören; das gute Werk ist eine Tat, die Christus zum Beweggrund hat. Es mag viel Aktivität im Dienst vorhanden sein, aber wenn Christus nicht der Beweggrund dazu ist, wird er wenig Wert für die Ewigkeit haben. Zudem lobt der Herr das Werk Marias nicht nur wegen des lauteren Beweggrundes, der dahinter stand, sondern auch, weil sie getan hatte, «was sie vermochte». Im Dienst für Christus geht es nicht an, eine Gelegenheit zu einer verhältnismässig bescheidenen und verborgenen Tat zu übersehen, um stattdessen nach etwas Grossem in der Öffentlichkeit zu streben, mit dem falschen Beweggrund, sich selbst in den Vordergrund zu stellen. Ermuntert uns diese schöne Szene nicht, das zu tun, was wir können, wie klein der Dienst auch sein mag, aber mit dem lauteren Beweggrund, Christus zu erheben?
Wie gesegnet! Der Herr gibt uns die wahre geistliche Bedeutung ihrer Tat. Sie hatte im Voraus seinen Leib zum Begräbnis gesalbt. Tatsächlich werden andere, wenn es zu spät ist, mit ihren wohlriechenden Gewürzsalben kommen, um ihre wahre, aber zu wenig verständige Wertschätzung von Christus zum Ausdruck zu bringen. Maria drückt, bevor der Herr begraben wird, ihre Liebe mit grösserem geistlichem Verständnis aus. Er misst dem, was Maria getan hat, so grossen Wert bei, dass Er sagt: «Wo irgend das Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch davon geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis.» Ihre Liebestat wird für alle Zeiten als ein schönes Beispiel des eigentlichen, wahren Ergebnisses des Evangeliums dastehen. Das Evangelium bringt uns nicht nur zur Erkenntnis des Heils und der Sündenvergebung, sondern gewinnt das Herz für Christus, so dass Er das höchste Lebensziel wird. Wir wissen, dass das Mahl des Herrn, das durch die Jahrhunderte hindurch gefeiert wurde, eine beständige Erinnerung an den vollkommenen Erretter und seine unendlich Liebe für die Seinen ist. Aber das eine Mahl, das hier in Bethanien stattfand, ist zu einem beständigen Denkmal einer hingebungsvollen gläubigen Frau und ihrer Liebe zu Christus geworden.
Verse 10,11
Dem «guten Werk» von Maria folgt unmittelbar das böse Werk des Judas. Ohne Gewissen gegenüber Gott geht Judas, getrieben von der Feindschaft des Teufels von aussen und der Habsucht des Fleisches von innen, zu den Hohenpriestern, um den Herrn in ihre Hände zu überliefern. Diese, ebenfalls ohne Gewissen oder Gottesfurcht, versprechen ihm Geld. Um das Bestechungsgeld zu erhalten, verfolgt Judas sein böses Werk und sucht den Herrn in einem geeigneten Augenblick den Hohenpriestern zu verraten.
Verse 12-16
Ohne auf die Anschläge böser Menschen zu achten, geht der Herr seinen Weg vollkommener Liebe zu den Seinen weiter und setzt das Mahl ein, durch das wir alle das Vorrecht haben, Maria in der Anbetung des Herrn nachzueifern. Die Umstände, die dazu dienen, alles für das Mahl vorzubereiten, sind an sich ganz einfach, lassen aber die Herrlichkeit der Person des Herrn hervorstrahlen. Zwei seiner Jünger werden vorausgesandt, um das Fest vorzubereiten. Der Herr geht zwar dem Tod entgegen, aber Er ist trotzdem der König mit königlichen Rechten, der das Gastzimmer verlangen kann und dessen unumschränktem Willen sich alle unterwerfen müssen. Er ist zudem eine göttliche Person, der alles bekannt ist. Der Mann mit dem «Krug Wasser», der «Hausherr», das «grosse Obergemach», alles sieht Er vor seinen Augen. Die Jünger, die hingehen, um seine Anweisungen auszuführen, finden alles so, wie Er es ihnen gesagt hat.
Verse 17-21
Als es Abend wird, kommt Er mit seinen Jüngern, und sie lassen sich nieder, um das Passah zu essen – zur Erinnerung an die Erlösung der Israeliten aus Ägypten. Der Herr stand im Begriff, eine viel grössere Erlösung für sein Volk zu vollbringen. Für diese ewige Erlösung ist sein Tod nötig, der auf den Verrat einer der Zwölf hin folgt. In seiner vollkommenen Liebe empfindet der Herr es tief, dass einer von denen, die in seiner heiligen Gegenwart gelebt und seine Worte der Gnade gehört hatten und Zeugen seiner unendlichen Liebe und Geduld waren, so handeln kann. Es war ein Ausdruck der Qual seines Herzens, als Er sagte: «Einer von euch wird mich überliefern, der, der mit mir isst.» Je grösser und vollkommener die Liebe, desto grösser der Schmerz angesichts eines solchen Verrats an ihr. Nie ist die Liebe in ihrer ganzen Vollkommenheit so zum Ausdruck gekommen wie in Christus, und, ausser den andern Jüngern, hatte nie jemand äusserlich so nahe bei Christus gelebt wie Judas. Doch alles ist umsonst; denn selbst wenn er irgendwelche Wertschätzung der Liebe gehabt hätte, so liebte er das Geld doch noch mehr. Die Herzlosigkeit des Verrats und dessen schreckliche Bosheit kommt darin zum Ausdruck, dass der, der im Begriff stand, den Herrn zu verraten, mit Ihm den Bissen in die Schüssel eintauchen konnte. Der Herr würde jedoch andere haben, um seinen Schmerz mit Ihm zu teilen. Er verbirgt ihn nicht aus Stolz, sondern wünscht, als ein Mensch seinen Schmerz in menschliche Herzen zu legen; Liebe rechnet mit Liebe. Die Leiden des Verlassenseins am Kreuz können wir nicht mit Ihm teilen, aber hier sind es Leiden, verursacht durch Menschen, an denen wir als Menschen in unserem beschränkten Mass Anteil nehmen können.
Der Verrat des Judas war lange zuvor vorausgesagt worden. Alles geschah, «wie es geschrieben steht». Doch wehe dem Verräter, denn die Erfüllung der Ratschlüsse Gottes hebt die Ungerechtigkeit derer, die sie erfüllen, nicht auf; wie könnte Gott sonst die Welt richten?