Das Evangelium nach Markus (23)

Markus 15,1-21

Das Kreuz (1)

In den Szenen rund um das Kreuz wird die Bosheit des gefallenen Menschen in ihrer ganzen Gemeinheit enthüllt. Jede Klasse ist zugegen – Juden und Heiden, die Priester und das Volk, der Statthalter und seine Soldaten, Vorübergehende und Verbrecher. Wie gross auch ihre politischen und sozialen Unterschiede sein mögen – sie vereinigen sich alle in ihrem Hass und ihrer Ablehnung gegenüber Christus (V. 1-32).

In dem Augenblick, da der Mensch und all seine Bosheit in der Finsternis, die das ganze Land bedeckt, verschwindet, dürfen wir vom Erlöser den Schrei hören, der uns sagt, dass Er von Gott verlassen war, weil Er als das heilige Opferlamm zur Sünde gemacht wurde, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in Ihm (V. 33-38).

Nach den drei Stunden des Verlassenseins finden wir schliesslich ein dreifaches Zeugnis, das dem Herrn Jesus gegeben wird:

  • vom Hauptmann,
  • von einigen treuen Frauen und
  • von Joseph von Arimathia (V. 39-47).

Verse 1-15

Der Herr ist bereits vom jüdischen Rat ungerechterweise verurteilt worden. Aber es muss bewiesen werden, dass die ganze Welt schuldig ist. Deshalb lässt der Herr sich als der vollkommene Knecht des HERRN herab, vor dem Richterstuhl der römischen Macht zu erscheinen, nur um den gänzlichen Zusammenbruch der Regierung in den Händen der Nationen zu bestätigen.

Vor Pilatus wird der Herr wiederum herausgefordert, der Wahrheit Zeugnis zu geben, denn Pilatus fragt sogleich: «Bist du der König der Juden?» Der Herr antwortet: «Du sagst es.» Ob vor dem Hohenpriester oder vor Pilatus – der Herr gibt der Wahrheit Zeugnis, und um der Wahrheit willen wird Er von den Menschen verurteilt. Auf die Anklagen der Juden antwortet Er nichts. Er geht seinen Weg in Vollkommenheit und weiss, wann zu reden und wann zu schweigen. Wenn es um die Wahrheit geht, redet Er; wenn es sich aber um eine Frage der Verteidigung gegenüber persönlichen Anschuldigungen handelt, schweigt Er. Wir tun gut daran, aus seinem vollkommenen Beispiel zu lernen und den Fussstapfen dessen zu folgen, der, gescholten, nicht wiederschalt. Es gibt Gelegenheiten, wo Schweigen eine viel grössere Wirkung auf das Gewissen ausübt als irgendein geäussertes Wort. Trotzdem ist ein solches Schweigen unserer gefallenen Natur völlig fremd. Darum verwunderte sich Pilatus darüber.

Er weiss sehr wohl, dass die Anklagen der Juden nicht stichhaltig sind, um Christus irgendein Unrecht anzulasten. Er versucht daher, einerseits die Juden zu besänftigen, und anderseits der Schande zu entgehen, einen Unschuldigen zu verurteilen. Die Gewohnheit, auf das Passahfest «einen Gefangenen freizulassen, um den sie baten», kommt ihm daher gelegen. Zu jener Zeit gab es einen berüchtigten Gefangenen namens Barabbas, der wegen Aufruhr und Mord eingekerkert war. Bestärkt durch das Geschrei der Volksmenge, die ihr Recht entsprechend dieser Gewohnheit fordert, schlägt Pilatus vor, ihnen Jesus, den König der Juden, anstatt Barabbas, den Mörder, loszugeben.

Zu dieser Sitte Zuflucht zu nehmen, war nur ein Kompromiss und machte das Unrecht und die Bosheit des Richters noch grösser; denn wenn Christus, wie Pilatus wusste, unschuldig war, hätte er ein gerechtes Urteil fällen und Ihn, ungeachtet dieser Gewohnheit, freilassen müssen. Zudem war sich Pilatus wohl bewusst, dass diese bösen Menschen den Herrn aus Neid gebunden und vor den Richterstuhl gebracht hatten. Dieses Wissen erhöhte noch seine Ungerechtigkeit, einen Unschuldigen nicht unverzüglich freizulassen. Neid oder Eifersucht, sei es nun in einem Ungläubigen oder in einem Gläubigen, ist einer der Hauptbeweggründe für das Böse in dieser Welt. Neid führte zum ersten Mord, als Kain seinen Bruder erschlug; Neid führte auch zum schlimmsten Mord, als die Juden ihren Messias töteten. Wie recht hat der Prediger, wenn er sagt: «Grimm ist grausam und Zorn eine überströmende Flut; wer aber kann bestehen vor der Eifersucht!» (Spr 27,4). Mit neiderfüllten Herzen wiegeln diese religiösen Führer die Volksmenge auf, lieber Barabbas als Christus zu wählen. Von Eifersucht getrieben verwerfen sie Christus, den Einen, an dem «alles lieblich» ist, und wählen lieber einen Mörder und Aufrührer. Wie gut, wenn alle Gläubigen die Lektion dieser ernsten Szene zu Herzen nehmen und dem Wort des Jakobus Gehör schenken, wenn er uns vor «bitterem Neid und Streitsucht» in unseren Herzen warnt. Wenn dies nicht im Herzen gerichtet wird, führt es zu Zerrüttung und jeder schlechten Tat, und das sogar in christlichen Kreisen (Jak 3,14-16).

Pilatus mochte ein verhärteter Weltmensch sein. Aber er unternahm wenigstens einen schwachen Versuch gegen die Verurteilung des Einen, von dem alle wussten, dass Er unschuldig war. Darum fragt er, bevor er Barabbas losgibt: «Was wollt ihr denn, dass ich mit dem tue, den ihr König der Juden nennt?» Ohne Zögern rufen sie: «Kreuzige ihn!» Wir schätzen es gewiss nicht, in Gesellschaft eines Aufrührers und Mörders zu leben, aber die Feindschaft des Fleisches gegen Gott ist so gross, dass wir, wenn es darauf ankommt und wir zwischen einem Mörder und Christus zu wählen haben, dem Mörder den Vorzug geben.

Pilatus fragt wiederum: «Was hat er denn Böses getan?» Ihre einzige Antwort ist das unvernünftige Geschrei eines Pöbels: «Kreuzige ihn!» Weil er das Volk zufriedenstellen will, gibt Pilatus allen Schein von Gerechtigkeit auf und lässt Barabbas los. Und nachdem er den hat geisseln lassen, von dem er weiss, dass Er unschuldig ist, überliefert er Ihn, damit Er gekreuzigt werde.

Verse 16-20

In der Behandlung des Herrn durch die Hände der Soldaten sehen wir die Brutalität des Menschen, der sein Gefallen daran findet, einen Wehrlosen zu foltern und zu verspotten. Es gehörte nicht zur Pflicht eines Soldaten, einen Gefangenen zu misshandeln, aber die demütige Haltung und Vollkommenheit dieses heiligen Gefangenen brachte ihnen Gott nahe, und das konnte der gefallene Mensch nicht ertragen. Der Eine, der von einem gerechten Gott noch mit vielen Diademen gekrönt werden wird, lässt es sich gefallen, von den Händen boshafter Menschen mit einer Dornenkrone gekrönt zu werden. Er, der einst die Nationen mit einer eisernen Rute weiden wird, erlaubt dem elenden, erbärmlichen Menschen, Ihn mit einem Rohr zu schlagen. In ihrem Spott beugen sie die Knie vor dem, vor dem sie sich am Tag des Gerichts werden beugen müssen.

Vers 21

Ungeachtet der Freiheit und Rechte anderer, zwingen die gewalttätigen Soldaten einen Vorübergehenden, der von der Arbeit auf dem Feld kommt, das Kreuz zu tragen. Simon von Kyrene wurde die Ehre zuteil, das Kreuz für den zu tragen, der am Kreuz für die ganze Welt litt. Gott vergass diesen kleinen Dienst für den Herrn nicht; denn es wird uns gesagt, dass dieser Simon der Vater von Alexander und Rufus war. In Römer 16,13 wird Rufus erwähnt, und das lässt darauf schliessen, dass Alexander und Rufus wohlbekannte Brüder waren, als Markus sein Evangelium schrieb.