Verse 31-38
Während dreier Jahre hatte Paulus nicht aufgehört, einen jeden mit Tränen zu ermahnen. Die Ältesten sollten nun fortfahren, in derselben Weise und Gesinnung zu wachen, wie es Paulus in ihrer Mitte getan hatte. Sie hatten während seines dreijährigen Aufenthaltes in Ephesus die Möglichkeit, «seine Lehre, sein Betragen, seinen Vorsatz» (2. Tim 3,10) zu erkennen, drei Dinge, auf die er am Anfang seiner Abschiedsrede hinwies. Auch wies er darauf hin, dass er nichts zurückgehalten habe von dem, was nützlich ist (Vers 20), und dass er ihnen den ganzen Ratschluss Gottes verkündigt habe (Vers 27). Für Brüder, die der Heilige Geist dazu bestimmt hat, die Versammlung Gottes zu hüten, sind das alles Dinge, die heute wie damals in Betracht gezogen werden sollen. Inmitten des heutigen Verfalls besitzt sie in den Augen Gottes und für den Glauben immer noch dieselbe Grösse und denselben Wert.
Die Verse 32-38 bilden den vierten Teil der Rede des Paulus. Zunächst machte er auf die unerschöpflichen und unveränderlichen Hilfsquellen aufmerksam, die der Versammlung jederzeit zur Verfügung stehen. Er sagte den Ältesten nicht, sie sollten die Herde bei ihrem Hinschied wieder anderen Ältesten anvertrauen; weder er noch Petrus sprachen in irgendeiner Weise von einer apostolischen Nachfolge.
Der freie Dienst des Apostels war zu Ende; aber Gott, der sich die Versammlung durch das Blut seines eigenen Sohnes erkauft und Paulus seinen Ratschluss mitgeteilt hat, wird zum Wohl seiner Versammlung derselbe bleiben, das heisst so, wie das Wort Ihn selbst, seinen Willen und die Hilfsquellen seiner Gnade beschreibt. Dieses Wort vermag aufzuerbauen und ein Erbe zu geben unter allen Geheiligten. Es enthält alles, was zur persönlichen und kollektiven Auferbauung erforderlich ist; es führt die Geheiligten, d.h. die in dieser Welt im Hinblick auf das ewige Erbteil für Gott Abgesonderten zum verheissenen Erbe in der Herrlichkeit hin. Gott und sein Wort sind eins. Siehe auch Hebräer 4,12.13: «Das Wort Gottes ist … ein Beurteiler der Gedanken und Überlegungen des Herzens; und kein Geschöpf ist vor ihm unsichtbar, sondern alles ist bloss und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben.» Dieses Wort bleibt durch alle Jahrhunderte hindurch unveränderlich, wie auch der, von dem es herrührt. Was bleibt uns da noch zu wünschen übrig? Wir besitzen es heute in derselben Frische und in derselben Kostbarkeit wie in den schönsten Tagen der Kirche. Aber lasst es uns denen gegenüber, die seine volle Inspiration leugnen, mit grosser Überzeugung festhalten und dabei das, was die Versammlung in Philadelphia kennzeichnete, zu offenbaren suchen: Sie hat das Wort bewahrt und den Namen des Heiligen und Wahrhaftigen nicht verleugnet.
Im 33. Vers wird uns gesagt, was der Apostel nicht tat. Kein selbstsüchtiger Beweggrund hatte ihn zu seiner Tätigkeit unter den Ephesern getrieben, im Gegensatz zum Verhalten einer so grossen Zahl unter denen, die an einer sogenannten apostolischen Nachfolge festhalten.
In den Versen 34 und 35 erinnert er an seine Handlungsweise in diesem Zusammenhang: Er hatte den Herrn zum Vorbild genommen. Wenn er ihnen einerseits den Ratschluss Gottes verkündigt hatte und sie später im Epheserbrief daran erinnerte, so zeigte er ihnen anderseits in jenem Brief auch, welches ihr Verhalten unter den Lebensbedingungen sein soll, denen jeder Mensch auf der Erde unterworfen ist: Im Gehorsam gegenüber Gott soll jeder Mensch arbeiten, auch der Christ, aber nicht nur für die eigenen, sondern auch für die Bedürfnisse der Schwachen, und so wird er göttliche Liebe erweisen können. Paulus schrieb den Ephesern (Kap. 4,28): «Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr, sondern arbeite vielmehr und wirke mit seinen Händen das Gute, damit er dem Bedürftigen etwas zu geben habe». (Siehe auch 1. Thes 4,11.12.)
Um das Gesagte zu unterstreichen, führte Paulus ein Wort des Herrn an, das sich in den Evangelien nicht wörtlich wiederfindet: «Geben ist seliger als nehmen.» In Lukas 14,12-14 ist in einem Bild dargestellt, was dieses Wort zum Ausdruck bringt.
Diese denkwürdige Begegnung in Milet endete mit einem gemeinsamen, inbrünstigen Gebet. «Es entstand aber viel Weinen bei allen; und sie fielen Paulus um den Hals und küssten ihn sehr, am meisten betrübt über das Wort, das er gesagt hatte, sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen. Sie geleiteten ihn aber zu dem Schiff.»
Es ist möglich, dass Paulus nach seiner ersten Gefangenschaft in Rom eine Zeit der Freiheit genoss. Aus 2. Timotheus 4,13 geht hervor, dass er bei Karpus in Troas einen Mantel und in Milet Trophimus krank zurückliess (Vers 20); auch hatte er beschlossen, in Nikopolis zu überwintern (Tit 3,12). Aber sonst sagen die inspirierten Schriften über diesen Zeitabschnitt nichts. Das Werk des freien Apostels war mit seiner Gefangennahme abgeschlossen (Apg 21).
Dank seiner aus Rom und anderen Orten geschriebenen Briefe besitzt die Kirche die den damaligen Versammlungen durch den grossen Apostel mündlich erteilten Belehrungen und auch die Unterweisungen, die wir für die Zeiten des Endes, in denen wir jetzt angelangt sind, benötigen.
Kapitel 21
Man kann dieses Kapitel nicht lesen, ohne tiefe Traurigkeit zu empfinden. Der geliebte Apostel, den Gott erweckt hat, um den Nationen seinen Ratschluss zu verkünden, wirft sich aus Liebe zu seinem Volk nach dem Fleisch, oder doch wenigstens zu seinen Brüdern in Jerusalem, in die Hände der Juden, wodurch seiner freien Tätigkeit ein Ende gesetzt wird! Nachdem sie den Herrn zu Tode gebracht und das Zeugnis des Heiligen Geistes verworfen haben, werden sie jetzt auch Paulus in die Hände der Nationen ausliefern. Er folgte darin seinem Meister nach. Sie aber hatten nun alles verscherzt, und nur noch den Einzelnen blieb der Weg zur Bekehrung offen. Israel ist zum Teil Verhärtung widerfahren bis die Vollzahl der Nationen eingegangen sein wird; dann aber werden sie als Gegenstände des Erbarmens – aufgrund derselben Gnade, die den Nationen zuteilwurde – die ihnen gegebenen irdischen Verheissungen erlangen, eine Gnade, die ihren Hass immer wieder in so hohem Mass erregt hatte (Röm 11,25-36).
Was Paulus drängte, nach Jerusalem hinaufzugehen, verhüllte dem Apostel in jenem Augenblick die klare Sicht für die besondere Aufgabe, die ihm gegeben worden war. Es war gewiss eine gute Sache, den Beitrag der Versammlungen von Mazedonien und Achaja den notleidenden Brüdern in Jerusalem zu überbringen; der Christ soll sich aber nicht nur von dem beherrschen lassen, was an sich gut ist, sondern vom Willen Gottes. Als Paulus nach seiner Bekehrung nach Jerusalem kam, sagte ihm der Herr in einem Gesicht: «Eile und geh schnell aus Jerusalem hinaus, denn sie werden dein Zeugnis über mich nicht annehmen.» Und: «Ich werde dich weit weg zu den Nationen senden» (Apg 22,18-21). Die Zwölf konnten noch in Jerusalem bleiben, obwohl der Herr auch ihnen die Anweisung gegeben hatte, allen Nationen das Evangelium zu verkündigen, anfangend von Jerusalem. Aber das Zeugnis des Paulus von einem himmlischen Christus, in dem sowohl die Gläubigen aus den Juden als auch die aus den Nationen zu einem einzigen Leib vereinigt sind, war den Juden viel unerträglicher als das der Zwölf.
Paulus hätte dem, was der Herr ihm gesagt hatte, Rechnung tragen und vor dem Schmerz über den Abbruch seiner jüdischen Beziehungen mit dem Volk (Röm 9,3) nicht zurückschrecken sollen. Er teilte die Liebe des Herrn zu Israel, der über Jerusalem weinte (Lk 19,41) und durch den prophetischen Geist ausrief: «Umsonst habe ich mich abgemüht, vergeblich und für nichts meine Kraft verzehrt.» Der Herr besass aber den Trost: «Ich habe dich zum Licht der Nationen gesetzt, um mein Heil zu sein bis an das Ende der Erde» (Jes 49,4.6). Paulus hatte sich dieser Worte bedient, als er den Juden zu Antiochien in Pisidien anzeigte, dass er sich nun zu den Nationen wenden werde (Apg 13,47). Und nun? … Man sieht, dass sich die Vollkommenheit nur beim Herrn findet. Der glückliche Apostel ist Ihm sehr nahe nachgefolgt; aber er war ein Mensch. Durch seine Schwachheit kommen die Vollkommenheiten des göttlichen Vorbildes nur umso mehr zum Vorschein.
Trotz eines gewissen Masses von eigenem Willen, der Paulus vom eigentlichen Weg abgelenkt haben mochte, vollführte Gott durch ihn das ganze Werk, das Er sich vorgenommen hatte. Nur musste jetzt sein geliebter Diener auf der Strasse durch Jerusalem schmerzliche Erfahrungen machen, wo es doch noch einen anderen Weg gab, um nach Rom zu kommen. Der Herr verliess ihn nicht und blieb bei ihm bis zum Ende seines Laufes.
Verse 1-14
Paulus und seine Begleiter schifften sich ein, nachdem sie sich von den Umarmungen der brüderlichen Liebe der Ältesten von Ephesus losgerissen hatten. In Patara angekommen, stiegen sie in ein Schiff um, das nach Phönizien übersetzte, und gingen in Tyrus an Land, wo sie sich sieben Tage aufhielten. Die Jünger sagten Paulus durch den Geist, er möge nicht nach Jerusalem hinaufgehen. Das war eine klare Wegweisung des Heiligen Geistes. Es wird aber nicht erwähnt, welchen Eindruck sie auf den Apostel machte. Am Ende der sieben Tage wurden sie von allen Brüdern, samt ihren Frauen und Kindern, zur Stadt hinausbegleitet, wo sie auf den Knien miteinander beteten.
Es ist bemerkenswert, dass auch die Kinder dabei waren. Die Gläubigen sollen ihre Kinder in alles einführen, was das christliche Leben kennzeichnen soll. Sie gehören zum Haus des christlichen Vaters und sollen auch dessen Kennzeichen tragen. Das sieht man schon im Alten Testament: «Ich aber und mein Haus, wir wollen dem HERRN dienen!» sagte Josua. (Jos 24,15; siehe auch 2. Mose 13,8; 5. Mose 6,7; 11,19; 32,46). In 2. Chronika 20,13 lesen wir: «Und ganz Juda stand vor dem HERRN, samt ihren kleinen Kindern, ihren Frauen und ihren Söhnen.» Es ist zu befürchten, dass man dies in unseren Tagen oft ausser Acht lässt und die Kinder nicht veranlasst, sich in den Elementen des christlichen Lebens aufzuhalten. Sie gleichen dann jenen Kindern, von denen in Nehemia 13,24 gesagt wird, dass sie nicht jüdisch, die Sprache des Volkes Gottes, redeten, sondern die Sprache der Welt, mit der sich ihre Väter verbunden hatten.
Von Tyrus gelangten sie nach Ptolemais, wo sie sich einen Tag bei den Brüdern aufhielten. Des folgenden Tages kamen sie nach Cäsarea und gingen in das Haus des Philippus, des Evangelisten, der einer der sieben von der Versammlung in Jerusalem gewählten Diener war (Kap. 6). Er hatte als erster den Städten Samarias das Evangelium gebracht. Der Geist hatte ihn vom Kämmerer weg nach Asdod entrückt (Kap. 8,40) und Philippus verkündigte darauf in allen Städten das Evangelium, bis nach Cäsarea hin, wo er, wie es scheint, wohnte. Er hatte seine Aufgabe als Diener in Jerusalem treu erfüllt und «sich eine schöne Stufe und viel Freimütigkeit im Glauben, der in Christus Jesus ist, erworben» (1. Tim 3,13). Die Glieder seiner Familie wandelten auf demselben Weg wie er. Er hatte vier Töchter, Jungfrauen, die weissagten. Diese Tatsache ist durchaus nicht in Widerspruch zu den Unterweisungen des Apostels in 1. Timotheus 2,12 und 1. Korinther 14,34.35. Weissagen bedeutet nicht nur, Dinge sagen, die noch nicht offenbart sind. Von der Wiederkunft des Herrn zu reden oder einer Seele das Licht der Wahrheiten des Wortes nahezubringen, ist auch ein Weissagen; jede Schwester soll dazu imstande sein; soll es aber nicht in der Versammlung tun. Die Töchter des Philippus taten also einen gesegneten Dienst. Ihr Herz war von Christus erfüllt, und sie redeten auch zu ihren Mitmenschen davon. Der Segen Gottes ruhte auf dem Haus des Philippus, um seiner Treue willen.
Agabus, der Prophet, der schon im 11. Kapitel erwähnt wird, kam von Judäa herab und prophezeite, dass Paulus in Jerusalem gebunden und in die Hände der Nationen überliefert werden würde. Das war nicht nur eine Wegleitung des Geistes durch die Worte von Brüdern, wie im vierten Vers, sondern eine direkte Warnung des Heiligen Geistes, bekräftigt durch eine bildliche Handlung, vor dem, was Paulus begegnen würde. Diese Offenbarung war nicht den Töchtern des Philippus, sondern einem Bruder gegeben worden.
Als die Begleiter des Paulus und die Brüder von Cäsarea dies hörten, baten sie ihn, doch nicht nach Jerusalem hinaufzugehen. «Da antwortete Paulus: Was macht ihr, dass ihr weint und mir das Herz brecht? Denn ich bin bereit, nicht nur gebunden zu werden, sondern auch in Jerusalem für den Namen des Herrn Jesus zu sterben.» Wunderbare Selbstverleugnung und Hingebung! Aber es war nicht das, was der Herr in jenem Augenblick von ihm verlangte. Er sollte vielmehr seinen Lauf vollenden und den Dienst, den er vom Herrn Jesus empfangen hatte, um das Evangelium der Gnade Gottes zu bezeugen (Apg 20,24). Hatte er nicht vor, nach Rom und nach Spanien zu reisen? (Apg 19,21; Röm 1,14.15; 15,22-24). Jerusalem lag nicht auf dieser Reiseroute. Der Dienst, den er dort ausüben wollte, war der eines Diakons und nicht ein apostolisches Werk.
«Als er sich aber nicht überreden liess, wurden wir still und sprachen: Der Wille des Herrn geschehe!» Der Herr ist über allem; sein Wille wird zur Ausführung kommen. Paulus wird nach Rom gehen, aber in einer ganz anderen Weise, als er es vorgesehen hatte; er wird dem Herrn in Treue dienen; der Feind wird nicht den Sieg haben. Von Rom aus wird er schreiben: «Ich will aber, dass ihr wisst, Brüder, dass meine Umstände mehr zur Förderung des Evangeliums geraten sind» (Phil 1,12).