Verse 24-29
Festus, der in der Finsternis war, verstand die Sprache des Paulus nicht und hielt ihn für einen Wahnsinnigen. Er billigte ihm wohl ein grosses Wissen zu, meinte aber, dieses bringe ihn ausser sich. «Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit» (1. Kor 2,14). Paulus sprach besonnene und wahre Worte. Wenn der Gläubige durch den Geist Worte aussprechen kann, die dem Unerlösten unbegreiflich sind, so tut er es nicht, ohne selbst ein Verständnis davon zu haben, im Gegensatz zu den Menschen, die unter dem Einfluss von Dämonen redeten. «Die Geister der Propheten sind den Propheten untertan» (1. Kor 14,32). Sie waren sich immer dessen bewusst, was sie sagten und fähig, es zu überprüfen.
Paulus sprach vor Agrippa umso kühner, als er wusste, dass dem König alle diese Dinge bekannt waren; denn, sagt er, «nicht in einem Winkel ist dies geschehen». Damit meinte er das, wovon er in seiner Rede berichtete. Paulus wusste, dass der König an die Propheten glaubte. Agrippa, von dieser Aussage des Paulus vor einer solchen Zuhörerschaft überrascht, wollte deren Wirkung durch die Worte abschwächen: «In kurzem überredest du mich, ein Christ zu werden.» Paulus aber, im Bewusstsein der Erhabenheit seiner christlichen Stellung, antwortete ihm: «Ich möchte wohl zu Gott beten, dass über kurz oder lang nicht allein du, sondern auch alle, die mich heute hören, solche würden, wie auch ich bin, ausgenommen diese Fesseln.» Die Liebe Christi drängte ihn; er wünschte, alle möchten das gleiche Glück geniessen wie er, jedoch ohne die Ketten, die er nur darum trug, weil er «dem himmlischen Gesicht» gehorsam gewesen war. Die Menschen mochten begehrt haben, am Platz des Königs Agrippa zu stehen; aber Paulus wünschte im Gegenteil, Agrippa möchte so werden wie er. Er genoss ein Glück, das ihn über alles Sichtbare erhob, seien es Herrlichkeiten oder Leiden.
Verse 30-32
Alle waren von der Unschuld des Paulus überzeugt. Sie zogen sich zurück und sagten zueinander: «Dieser Mensch tut nichts, was des Todes oder der Fesseln wert wäre. Agrippa aber sprach zu Festus: Dieser Mensch hätte freigelassen werden können, wenn er sich nicht auf den Kaiser berufen hätte.» Als der Herr am Kreuz war, liess Gott durch den Übeltäter ausrufen: «Dieser aber hat nichts Ungeziemendes getan.» Dem Apostel, der seinem Meister so nahe nachgefolgt war und der auch seinerseits als Jünger Christi in den Augen der Juden zu den Übertretern gehörte, wurde Ähnliches bezeugt. Auch später wurde es vor dem ganzen Prätorium und vor allen offenbar, dass die Fesseln des Paulus nicht die eines Übeltäters, sondern «Fesseln in Christus» waren (Phil 1,12.13).
Paulus musste nach Rom gehen, nicht nur, weil er sich auf den Kaiser berufen hatte, sondern vor allem, weil er den Namen des Herrn vor ihn tragen sollte (Apg 9,15).
Kapitel 27
Verse 1-44
Paulus und einige andere Gefangene wurden einem Hauptmann, mit Namen Julius, übergeben, um nach Rom gebracht zu werden. Sie stiegen in ein adramyttisches Schiff, das der Küste Asiens entlang fahren sollte. Paulus hatte Aristarchus zum Begleiter, dem wir schon, zusammen mit Gajus, in Ephesus begegnet sind (Apg 19,29), und der auch bei denen war, die Paulus von Griechenland nach Asien begleiteten (Apg 20,4). Paulus nennt ihn seinen Mitgefangenen (Kol 4,10) und seinen Mitarbeiter (Phlm 24). Auch Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, und zweifellos noch andere Brüder waren bei der Reisegesellschaft.
Der Herr wachte über Paulus, seinen treuen Botschafter; Er sorgte dafür, dass er einem Hauptmann übergeben wurde, der ihn menschlich behandelte. In Sidon angekommen, erlaubte er ihm, «zu den Freunden zu gehen, um ihrer Fürsorge teilhaftig zu werden.» Von dort kamen sie nach Myra in Lyzien, wo sie in ein alexandrinisches Schiff stiegen, das nach Italien segelte.
Hier begannen nun die Schwierigkeiten dieser Reise, auf der sich Paulus wiederum als Mann Gottes zeigte, der immer in Übereinstimmung stand mit den Gedanken Gottes und sich seiner Stellung bewusst war, wie vorher vor dem König Agrippa.
Die Fahrt war von Anfang an mühsam; der Wind war nicht günstig. Der Insel Kreta entlang fuhren sie nach Schönhafen, in der Nähe der Stadt Lasäa. Viel Zeit war schon verflossen und die Fahrt war gefährlich geworden, weil die Zeit des Fastens schon vorüber war.1 Paulus warnte sie davor, die Fahrt fortzusetzen, da sie mit Ungemach und grossem Schaden, nicht nur für die Ladung und das Schiff, sondern auch für ihr Leben geschehen würde. Es wäre weise gewesen, auf ihn zu hören und nicht weiter zu fahren; aber der Hauptmann hatte mehr Vertrauen zum Steuermann und zum Schiffsherrn als zu Paulus. «Da aber der Hafen zum Überwintern ungeeignet war», wurde beschlossen abzufahren, um, wenn möglich, nach Phönix zu gelangen, einem Hafen am Ende der Insel Kreta, und dort zu überwintern. Ein Südwind schien ihren Vorsatz zu begünstigen; aber von der Insel herab, in deren Schutz sie zu segeln gedachten, erhob sich ein Sturmwind und riss das Schiff mit sich fort; man gab es preis und liess es dahintreiben. Sie ergriffen auch alle Massnahmen, um das Schiff zu erleichtern, damit es nicht auf die Sandbänke der Syrte verschlagen würde. Viele Tage lang sahen sie weder Sonne noch Sterne, alle Hoffnung auf Rettung war entschwunden.
Während dieser Zeit nahm Paulus Zuflucht zu seinem Gott. Nachdem er seinen Gefährten zu verstehen gab, man hätte ihm freilich gehorchen und nicht von Kreta abfahren sollen, um Ungemach und Schaden zu vermeiden – man sieht, dass Paulus gegenüber materiellen Verlusten nicht gleichgültig war – ermahnte er sie, guten Mutes zu sein, denn sie alle würden am Leben bleiben. «Denn», sagte er zu ihnen, «ein Engel des Gottes, dem ich gehöre und dem ich diene, trat in dieser Nacht zu mir und sprach: Fürchte dich nicht, Paulus! Du musst vor dem Kaiser erscheinen; und siehe, Gott hat dir alle geschenkt, die mit dir fahren. Deshalb seid guten Mutes, ihr Männer! Denn ich vertraue Gott, dass es so sein wird, wie zu mir geredet worden ist. Wir müssen aber auf eine gewisse Insel verschlagen werden.» Paulus, der in den Augen der Menschen ein Gefangener war wie ein anderer, war Gottes Eigentum und diente Ihm. Gott, der Schöpfer aller entfesselten Elemente, die sich seinen Vorsätzen entgegenzustellen schienen, hatte alles in seiner Hand. Er sandte seinen Diener nach Rom, und wer konnte Ihn daran hindern? Die Worte des Paulus, die er mit göttlicher Vollmacht aussprach, die diesen Menschen völlig fremd war, brachte diese unter seine Abhängigkeit; von nun an war er es, dem sie gehorchten.
Als die vierzehnte Nacht angebrochen war, ermittelten die Matrosen mit dem Senkblei die Tiefe des Wassers und merkten, dass sie sich irgendeinem Land näherten und suchten aus dem Schiff zu fliehen. Paulus aber sprach zu dem Hauptmann und den Soldaten: «Wenn diese nicht im Schiff bleiben, könnt ihr nicht gerettet werden.» Dann hieben die Soldaten die Taue des Bootes ab, das die Matrosen ins Meer hinabgelassen hatten, um darin zu fliehen.
Paulus sagte zu ihnen: «Ihr könnt nicht gerettet werden.» Dass er selbst gerettet werden würde, wusste er, darin war er nicht von den Matrosen abhängig. Aber wenn wir auch in allem von Gott abhängig sind, dürfen wir doch nicht die natürlichen Mittel vernachlässigen, die Gott in unsere Reichweite stellt. Es geht nicht an, zu sagen: «Bewahre mich, Gott!» und sich dann willentlich dem Unglück auszusetzen. Das wäre Gott versucht. So sind wir zum Beispiel auch im Blick auf unseren Lebensunterhalt von Gott abhängig, müssen aber, weil Gott es so angeordnet hat, arbeiten, um zu leben. Nimmt Er jemandem die Fähigkeiten weg, es zu tun, so wird Er für das Nötige sorgen, unter Anwendung von Mitteln, die Er für gut findet.
Paulus ermahnte die Besatzung und die Passagiere des Schiffes, Nahrung zu sich zu nehmen: «denn dies gehört zu eurer Erhaltung; denn keinem von euch wird ein Haar vom Haupt verloren gehen.» Ihr Leben war gesichert; aber wenn Gott ihnen Nahrung gegeben hatte, um es zu erhalten, so war jeder verantwortlich, Nutzen daraus zu ziehen. Will Gott, dass ein Mose oder ein Elia vierzig Tage lang fasten, so ist Er imstande, sie dabei aufrecht zu halten; es war nicht der Eigenwille dieser Männer, so lange ohne Essen zu bleiben.
Nachdem Paulus seine Begleiter ermahnt hatte, Nahrung zu sich zu nehmen, und er selbst Brot genommen hatte, «dankte er Gott vor allen, und als er es gebrochen hatte, begann er zu essen. Alle aber, guten Mutes geworden, nahmen auch selbst Nahrung zu sich». Paulus zeigte, dass er sein Bekenntnis, Gott anzugehören, und Ihm zu dienen, ernst nahm. Von Ihm bekam er seine Nahrung und Ihm dankte er auch vor allen. Er gibt uns da ein schönes Beispiel von Gottesfurcht. Durch das Dankgebet vor einer Mahlzeit bezeugt der Christ vor allen, dass er seine Nahrung von Gott bekommen hat; das sollte keiner zu tun unterlassen. Kann man es nicht laut tun, so tue man es still. Paulus war inmitten dieser 276 Menschen des Schiffes wie ein Anführer, dessen Autorität sich wie von selbst den anderen aufdrängte.
«Als sie sich aber mit Nahrung gesättigt hatten, erleichterten sie das Schiff, indem sie den Weizen in das Meer warfen.» Da das Schiff aus Ägypten kam, hatte die Ladung wahrscheinlich aus Weizen bestanden. Ohne Geräte und Fracht war es nun leichter; man überliess seine Anker dem Meer, trieb das Schiff auf die Küste zu und liess es stranden. Hier benützte Gott wiederum den Hauptmann, um das Leben von Paulus zu retten; denn die Soldaten wollten die Gefangenen töten, um so deren Flucht zu verhindern. Der Hauptmann «befahl, dass diejenigen, die schwimmen könnten, sich zuerst hinabwerfen und an das Land gehen sollten; und die Übrigen teils auf Brettern, teils auf Stücken vom Schiff». Wie Paulus es vorausgesagt hatte, «geschah es, dass alle an das Land gerettet wurden». Der Herr hatte sie ihm geschenkt, wir hoffen, nicht nur für das irdische Leben, sondern auch für die Ewigkeit.
Die Beschreibung dieser Reise, die uns der Geist Gottes mit so viel Einzelheiten gibt – im Gegensatz dazu füllt die Beschreibung der Schöpfung nur ein kurzes Kapitel – lehrt uns, dass Gott über allem steht, um die Umstände so zu leiten, dass seine Ratschlüsse erfüllt werden. Das finden wir übrigens vom Anfang bis zum Ende der Bibel bestätigt. Gott führte seinen Diener nach Rom, obgleich menschliche Weisheit und Vorsicht inmitten entfesselter Elemente zuschanden geworden waren. Der Sturm diente dazu, dieses zu beweisen. Die Menschen vertrauen nicht auf Gott. Sie ziehen es vor, einen passenden Hafen zum Überwintern zu suchen, und der Südwind scheint ihr Vorhaben zu begünstigen. Die Umstände mögen den Menschen, die nicht auf Gott hören, scheinbar recht geben; sie können sich aber von einem Augenblick zum anderen ändern.
Von der Insel aus, deren Schutz sie suchten, kam der Sturmwind über sie. Alle Massnahmen, die sie gegen den Willen dessen trafen, der da «spricht und bestellt einen Sturmwind, der hoch erhebt seine Wellen» (Ps 107,25), erwiesen sich als nichtig. Als alle Hoffnung entschwunden war (Vers 20), trat durch den Apostel die Hilfe Gottes auf den Plan. Will man nicht auf Gott hören, muss man die Folgen tragen; aber Gott hat immer das letzte Wort, zum Nutzen der Seinen und zu seiner eigenen Verherrlichung.
Diese Reise ist auch eine Illustration vom Leben des Christen durch die Schwierigkeiten dieser Welt hindurch. Zu Beginn scheint es eine unbeschwerte Überfahrt zu werden. Aber der Gegenwind macht sich bald in Form verschiedener Versuchungen und Prüfungen bemerkbar. Die Massnahmen, die gegen die Schwierigkeiten getroffen werden, führen nicht zum Ziel; man muss hindurchgehen und Dinge opfern, die man für unentbehrlich hielt; häufen sich die Schwierigkeiten, so sind wir gezwungen, alles über Bord zu werfen, und wir verlassen schliesslich das Schiff, die Behausung des eigenen Leibes, um das jenseitige Ufer zu erreichen. Wie glücklich sind wir zu wissen, dass, wenn auch unser äusserer Mensch verfällt, der innere Tag für Tag erneuert wird und dass, wenn unser irdisches Haus, die Hütte, zerstört wird, wir in den Himmeln einen Bau von Gott haben.
Die gleiche Anwendung lässt sich auch auf die Kirche machen, im Blick auf ihre Verantwortung. Unter günstigen Winden in die See gestochen, hat sie dem vom Feind entfachten Sturmwind nicht zu widerstehen vermocht. Da sie, statt auf den Herrn zu vertrauen, menschliche Mittel gebrauchte, um ihm zu begegnen, erlitt sie Schiffbruch. Aber der Herr kennt, die sein sind; sie werden durch Gottes Gnade heil und wohlbehalten ankommen, müssen aber das Schiff der Christenheit in den Fluten des Gerichts über die Welt, mit der sie sich einsgemacht hat, untergehen lassen.
- 1Die Zeit des Fastens entsprach dem Versöhnungsfest, das im siebten Monat stattfand, also im Herbst, zu welcher Jahreszeit es damals üblich war, die Seefahrt bis zum Frühling zu unterbrechen.