Das christliche Leben

«Ihn hört» (Mk 9,7).
«
Maria, die sich zu den Füssen Jesu niedersetzte und seinem Wort zuhörte» (Lk 10,39).
«
Hinschauend auf Jesus» … (Heb 12,2).

*

«Ich habe sie in die Welt gesandt» (Joh 17,18).
«
Ihr werdet meine Zeugen sein» (Apg 1,8).
«
Lass aber auch die Unseren lernen, für die notwendigen Bedürfnisse gute Werke zu betreiben» (Tit 3,14).

Das Wort lehrt uns – so auch in obigen Versen – dass das christliche Leben zwei Seiten hat: es ist wechselweise beschaulich und aktiv.

Zuerst ist es beschaulich: Wir können nicht geben, bevor wir empfangen haben, können nicht handeln, bevor wir das Wort aufgenommen und gebetet haben. Das ist es, was der Herr im Bild der Rebe so bewunderungswürdig illustriert (Joh 15,4). Die Rebe ist dazu bestimmt, Frucht zu tragen; aber sie kann es nur, wenn sie am Weinstock bleibt; nur so wird sie den nötigen Saft empfangen. So ist auch der Gläubige berufen, Frucht zu bringen, aber er vermag es nur, wenn er im göttlichen Weinstock bleibt; sonst ist er nur eine unnütze Rebe, unfähig, aus sich selbst etwas hervorzubringen.

Solange wir nicht gewohnt sind, in der Gegenwart Jesu zu leben, sind wir nur zu oft mit uns selbst beschäftigt und mit der Welt, die uns umgibt.

Setzen wir uns aber, wie Maria, zu seinen Füssen nieder, um Ihm zuzuhören, so verschwinden die falschen Vorstellungen von uns selbst und von unserem eigenen Wert. Dieser unaussprechlich heiligen und reinen Person gegenübergestellt, wird das Innerste unserer Herzen offenbar: was vorher uns selbst vielleicht verborgen war, können wir jetzt darin lesen und so sehen, wie wir von Natur sind, können über unsere Gedanken und Handlungen ein aufrichtiges und ernstes Selbstgericht ausüben, ohne welches das christliche Leben dieses Namens unwürdig ist. Dann werden wir zum Stillsein fähig, um unsere Blicke auf den Herrn zu richten und Ihn allein reden zu lassen. Und wie viele Dinge werden wir doch zu den Füssen eines solchen Meisters lernen!

Zunächst lehrt Er uns, Ihn selbst, seine menschlichen und göttlichen Vollkommenheiten besser kennen zu lernen; einer solchen Betrachtung und einer solchen Erkenntnis, die uns den anbetungswürdigen Gegenstand unseres Glaubens immer kostbarer machen, sind ja keine Grenzen gesetzt. Er wird uns lehren, alles nach seinem, nicht nach unserem Licht zu richten, und wir werden dabei erstaunen und wohl auch betrübt sein, feststellen zu müssen, wie oft wir – ohne uns darüber Rechenschaft zu geben – nach weltlichen Grundsätzen gehandelt haben. Diese tägliche praktizierte und erneuerte Gemeinschaft mit dem Herrn wird uns sozusagen von uns selbst «entleeren» und uns mit Ihm und seinem Geist erfüllen.

Erst dann und nur dann vermögen wir zu handeln, so wie Er es will, und in einem gewissen Mass den zweiten Teil der eingangs erwähnten Verse zu verwirklichen, nämlich: Zeugen dessen sein, der uns in die Welt gesandt hat, um gute Werke zu betreiben.

Als Zeuge Jesu Christi hat der Gläubige vor allem die Aufgabe, von Ihm zu reden. Wichtige und kostbare Aufgabe! Aber das ist nicht die einzige. Es gibt sogar Umstände, wo es besser ist zu schweigen, dann besonders, wenn unser Leben nicht mit der Lehre des Evangeliums übereinstimmt. Wäre es zum Beispiel von Nutzen, wenn wir zu einem Bedürftigen vom Herrn Jesus redeten, dabei aber den Geldbeutel verschlossen hielten? Täuschen wir uns nicht: die Welt kennt uns viel besser, als wir meinen. Immer, wenn sie in unserem Verhalten Dinge sieht, die mit unserem Bekenntnis nicht übereinstimmen, verurteilt sie uns scharf – und mit Recht.

Unser Zeugnis muss sich sowohl in unserem Leben als auch in unseren Worten zeigen. Es ist verhältnismässig leicht, sich eine christliche Sprache anzugewöhnen; viel schwieriger aber ist es, ein christliches Leben zu leben, und das ist es doch, worauf es vor allem ankommt. Dieses Leben ist uns – wie gesagt – nur möglich, wenn wir lernen, auf das göttliche Vorbild zu hören und es jeden Tag zu betrachten, um Ihm zu gleichen. Und was hat Ihn hier auf der Erde am Sichtbarsten gekennzeichnet, wenn nicht die Liebe? Die «Liebe ist die Summe des Gesetzes»; sie ist auch das Wesentliche an der christlichen Botschaft. Und ist es wirklich das, was wir in unserem tagtäglichen Leben zu verwirklichen suchen? Diese Frage ist von grosser Bedeutung. Hören wir, was der geliebte Apostel schreibt: «Kinder, lasst uns nicht lieben mit Worten noch mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit» (1. Joh 3,18). Lesen wir doch immer wieder das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes! Wir werden dann erkennen, dass das Christentum nicht in erster Linie Lehre, sondern Leben ist, ein Leben, das sich in der Liebe verzehrt.

In Verbindung mit der göttlichen Liebe lernen wir demütig sein, nicht nur Gott, sondern auch den Menschen gegenüber; wir lernen uns selbst, statt andere zu richten. Wenn wir in denen, mit welchen wir reden, den Eindruck erwecken, dass wir uns besser fühlen als sie, werden sie verletzt, und alles Reden ist dann umsonst. Die religiöse Überheblichkeit ist die traurigste Form des Hochmuts. Fliehen wir sie! In Verbindung mit der göttlichen Liebe werden wir lernen, ausnahmslos alle Christen zu lieben, unter der Voraussetzung natürlich, dass wir dabei Gottes Gebote halten (1. Joh 5,2): «Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt» (Joh 13,35).

Wir werden auch lernen, die Kinder dieser Welt, mit denen wir in Berührung kommen, zu lieben, (jedoch nicht ihre Wege). Und diese Liebe, wie auch die Liebe gegenüber den Gläubigen, werden wir ihnen nicht nur mit Worten, sondern auch in Tat und Wahrheit bezeugen, indem wir uns für andere hingeben, ihnen unser Wohlbehagen und unsere Selbstsucht opfern, sie ertragen und gegebenenfalls das Unrecht, das sie uns zufügen mögen, sanftmütig und ohne uns zu rächen annehmen. Auf diese Weise werden wir uns als treue Zeugen dessen bewähren, der die Verkörperung der Demut und der Liebe war.