Der erste Brief an Timotheus (15)

1. Timotheus 6,11

Vers 11

Der Ausruf: «Du aber … fliehe diese Dinge!» unterstreicht die Gefahr der in den vorangegangenen Versen erwähnten Dinge. Selbst für ein Kind Gottes wie Timotheus waren sie gefährlich. Denn eine Sache, vor der man fliehen muss, verfolgt uns. Anderseits sagt der Apostel im gleichen Atemzug: «Strebe aber nach Gerechtigkeit.» Dinge, nach denen wir streben, wollen uns entwischen. Wir finden die beiden Seiten dieser empfohlenen Haltung auch in 2. Timotheus 2,22. Hinsichtlich der Dinge, die die Welt leiten, kann das Herz des Christen nicht neutral bleiben. Er muss ihnen den Rücken kehren und von ihnen abgewandt bleiben. Man sieht im Beispiel des Judas, welchen Einfluss das Geld auf sein Herz hatte, und dies selbst in der Gegenwart des Herrn, mit dem er lebte. Im Fall Bileams wird uns in der Liebe zum «Lohn der Ungerechtigkeit» (2. Pet 2,15) eine Quelle religiöser Verdorbenheit aufgezeigt; das Geld trägt bei, die Dinge, die Gott eingerichtet hat, zu verderben. Das ist etwas Schreckliches.

Die Bezeichnung «Mensch Gottes», die auf Timotheus angewandt wird, findet sich nur zweimal im Neuen Testament, und zwar gerade in den Briefen an Timotheus. Am Alten Testament hingegen findet sich der Ausdruck «Mann Gottes» mehrere Male. Er ist ein Mensch, der Gott vertritt, im Gegensatz zu den Menschen der Welt, «die auf der Erde wohnen», wie in der Offenbarung gesagt wird. Dieser Titel wird hier einem jungen Mann gegeben. Der Herr allein hat auf der Erde Gott völlig, vollkommen und absolut dargestellt. Wer Jesus sah, sah Gott in seinem ganzen sittlichen Wesen; Er hat die sittliche Herrlichkeit Gottes sichtbar gemacht.

Auch die Gläubigen sind dazu berufen, das ist ihre Aufgabe in der Welt; aber wie schwach verwirklichen wir sie! Statt nach den Dingen der Erde zu begehren, sollte der Gläubige danach trachten, ein Mensch Gottes zu sein. Das christliche Leben besteht selbst für einen Menschen Gottes nicht darin, grosse Dinge zu tun, sondern darin, gewisse Dinge zu fliehen und anderen nachzustreben; es zeigt sich im Grund darin, täglich das zu tun, was Gott gutheisst; darin gibt sich die Kraft und das Leben Gottes in dem Leben des Gläubigen kund. Wohl werden auf diese Weise auch grosse Dinge vollbracht, aber sie werden, wie die alltäglichen Dinge, das Ergebnis des Lebens und der Kraft Gottes sein.

Die Apostel, Paulus, Timotheus und andere, waren Christen, Menschen Gottes, bevor sie Apostel, Evangelisten und Diener waren. Sie waren gesegnet und hatten eine bemerkenswerte Kraft, einen einzigartigen Dienst, weil sie sorgfältig mit Gott wandelten. Fleischliche Aufwallungen gab es bei ihnen nicht; ihr Leben verlief in Gottes Gegenwart in Nüchternheit, in Selbstbeherrschung, im Selbstgericht wie auch im Misstrauen gegenüber den Dingen der Welt und im Bewusstsein der Gefahren, die sie beständig für uns hat. Um vor bösen Dingen zu fliehen und eine gute Sache zu verfolgen, muss man die Lenden beständig umgürtet halten und vor Gott wandeln. Geistliche oder sittliche Nachlässigkeit wäre ein Hindernis, das Leben aus Gott praktisch zu offenbaren. Wer den Herrn geniessen will, darf keine Vorbehalte machen, sondern muss sich stets «zur Gottseligkeit üben» (1. Tim 4,7). Wir müssen dabei verwirklichen, dass wir den Herrn fortwährend nötig haben und stets wachen sollen (Phil 3,12).

Im Gegensatz zu den Dingen, die wir fliehen müssen, finden wir anschliessend sechs Dinge, nach denen wir zu streben haben:

  1. Gerechtigkeit
  2. Gottseligkeit
  3. Glauben
  4. Liebe
  5. Ausharren
  6. Sanftmut des Geistes

1. Praktische Gerechtigkeit

Das erste ist also Gerechtigkeit. Dieser Begriff der Gerechtigkeit läuft durch das ganze Wort Gottes. Es handelt sich nicht um die Gerechtigkeit Gottes in Christus, die allen Gläubigen in Christus geschenkt ist, also nicht um die Gerechtigkeit, die uns das Recht zum Eintritt in das Heiligtum gibt. Es geht hier um praktische Gerechtigkeit, um einen Wandel, der vor Gott «recht» ist und folglich auch vor den Menschen. Die Gnade unterweist uns, in dem jetzigen Zeitlauf gerecht zu leben (Tit 2,12).

Praktisch gerecht sein heisst, die Anforderungen erfüllen, die Gott an uns stellt.

In diesem Sinn gibt es daher ausser Jesus Christus, dem Heiligen und Gerechten, keinen einzigen völlig Gerechten. Der Herr allein hat in der Stellung eines Menschen auf der Erde allen Rechten Gottes entsprochen; Er hat unbedingt praktische Gerechtigkeit an den Tag gelegt. Durch sein Werk und seine Auferstehung hat Er uns die Gerechtigkeit verliehen und uns auf den Boden der neuen Natur in Beziehung zu Gott gebracht. In dieser uns geschenkten neuen Natur sollen wir jetzt in Gerechtigkeit wandeln, das heisst, den Anforderungen Gottes in dieser von Gott zwischen Ihm und uns geschaffenen neuen Beziehung entsprechen. Das ist praktische Gerechtigkeit. Wir sollen Gott in unserem Leben praktisch verherrlichen, in den Beziehungen, in denen wir zu Ihm stehen. In Neuheit des Lebens wandelnd, lassen wir uns vom guten Hirten führen, der uns um seines Namens willen in Pfaden der Gerechtigkeit leitet (Ps 23,3), das heisst in Pfaden, auf denen Gott geehrt wird und von denen die Sünde ausgeschlossen ist. Es ist klar, dass in dieser Sorge, Gott in den Beziehungen zu Ihm, in die Er uns versetzt hat, zu fürchten und zu ehren, auch die Pflichten gegenüber allen Menschen und besonders gegenüber allen Heiligen eingeschlossen sind.

Dies ist Tag für Tag eine beständige Übung für uns, die wir mit Furcht und Zittern praktizieren sollen. Wir sind in einer Welt von so grosser Finsternis, dass wir uns fortwährend vor Gott aufhalten müssen, um ein wenig das Bewusstsein zu haben, was in seinen Augen recht ist. Aber diese Übung ist die Grundlage eines glückseligen, gottgemässen Lebens. Nach dem Beispiel des Herrn sollten wir alle Dinge auf der Waage es Heiligtums wägen und in allem mehr und mehr die Gedanken Gottes suchen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ständigen Wachsamkeit. Wir sind in der Praxis nie vollkommen gerecht, aber es ist normal, dass wir in der praktischen Gerechtigkeit wachsen.

Es ist aller Beachtung wert, dass der Apostel mit dieser Tugend beginnt, die eine innere Kontrolle voraussetzt. Statt Timotheus in erster Linie auf äussere Kundgebungen hinzulenken, führt er ihn zu dieser inneren Kontrolle seiner selbst und vor die Notwendigkeit, sich selbst in einem guten Zustand zu erhalten. Man muss den Brustharnisch der Gerechtigkeit angezogen haben (Eph 6,14). Das ist ein unerlässliches Waffenstück im Kampf, den der Apostel in diesem Brief Timotheus gegenüber erwähnt; die Umgebung ist gefährlich, der Feind mächtig; ohne Gerechtigkeit ist man zum vornherein schon überwunden. Wie mancher Fall lässt sich aus der Vernachlässigung dieses Teiles der Waffenrüstung erklären! Wenn wir praktisch nicht gerecht sind und dies nicht verurteilen, so weiss es Gott, aber auch der Feind weiss es. Wie schon gesagt, besteht die praktische Gerechtigkeit darin, in dieser Welt in einer Weise zu wandeln, die in Gottes Augen gerecht ist und, als Folge davon, auch in den Augen der Menschen. Ein solch sorgfältiger Wandel trägt ohne Zweifel schon in der jetzigen Zeit Früchte, die Gott verherrlichen. Der Gläubige ist in seinem Herzen glücklich, weil er in Gemeinschaft mit Gott und dem Herrn ist. Aber wir wissen, dass auch für die Ewigkeit Früchte daraus hervorkommen und die Gerechtigkeiten der Heiligen stellen für sie einen Schmuck der Herrlichkeit dar, wenn sie mit Christus offenbar werden (Off 19,8).

Der Gläubige hat das Vorrecht, schon jetzt auf alle Dinge, Tatsachen und Handlungen Gottes Urteil anzuwenden, also dasselbe Urteil, das im Endgericht auf alle Dinge angewandt wird. Er kennt das sittliche Licht Gottes, und dies gibt ihm ein Bewusstsein der gottgemässen Gerechtigkeit und gleichzeitig auch nützliche Wegleitung, um in diesen Dingen der Gerechtigkeit entsprechend zu handeln. Diese beiden Dinge müssen im Leben des Christen im Einklang stehen.

Das göttliche Licht lässt uns die Dinge beurteilen, wie Gott es tut; das ist Gerechtigkeit und dies führt uns zur Absonderung vom Bösen, zu praktischer Heiligkeit («fliehe diese Dinge»).

Lot verurteilte zwar das Böse, es quälte seine gerechte Seele, das Wort nennt ihn den «gerechten Lot», aber er sonderte sich vom Bösen nicht ab; seine Haltung war nicht konsequent und er nahm daher ein trauriges Ende.

Gott ist heilig, das heisst, vollständig abgesondert von allem Bösen, das Böse kann Ihn nicht berühren; und Er ist gerecht, Er beurteilt das Böse durchaus so, wie es ist. Ohne diese Gerechtigkeit und diese Heiligkeit ist jede äussere Darstellung dessen, was im elften Vers folgt, unmöglich. Ein Wandel in der praktischen Gerechtigkeit gibt uns ein gutes Gewissen, und ohne ein gutes Gewissen kann man sich nicht «zur Gottseligkeit üben», nicht aus Glauben leben, nicht lieben noch ausharren und Sanftmut des Geistes zeigen.

Oft begrenzt man den Sinn des Wortes «gerecht» auf die Ausführung von Handlungen. Aber die praktische Gerechtigkeit wendet sich auch auf die Worte an, die wir aussprechen. Man mag nichts tun, was dem Bruder Unrecht zufügt, aber wenn man Schlechtes über ihn aussagt und ihn so verunglimpft, so ist man ihm gegenüber ungerecht. Ein Mensch, selbst ein Unbekehrter, kann in seinen Beziehungen zu anderen Menschen gerecht sein, aber wenn er Gott verunehrt, begeht er eine Ungerechtigkeit, er beachtet seine Stellung als Geschöpf zu Gott nicht. Ungerechtigkeit kann man in Taten und in Worten ausüben. Wenn wir nicht wachen, wie leicht können wir uns dann gegen unsere Geschwister Ungerechtigkeiten zuschulden kommen lassen und folglich auch gegen Gott! Die Gegenwart Gottes erhellt alles; Er ist ein gerechter Richter. Er hat ein gerechtes Urteil, während wir oft parteiisch und somit ungerecht sind. Üble Nachrede ist eine Ungerechtigkeit; der, über den geredet wird, weiss nichts davon; aber Gott hört es, und es ist vor Ihm, der unser aller Vater ist, eine Ungerechtigkeit, wenn seine Kinder gegen einander reden.

Die Menschen von heute sind sehr ungerecht, weil sie die Bindungen abbrechen wollen, die Gott von Anfang an geknüpft hat. Wer sich in der Ausübung praktischer Gerechtigkeit übt, wird sich den Anforderungen seiner Beziehungen zu Gott nicht entziehen. Im Gegenteil, er fühlt, dass er Gott ehrt, wenn er in der Gerechtigkeit wandelt, und dass er es tun soll, um Gott zu ehren. Er ehrt Gott, weil ihm die Gerechtigkeit ein Anliegen ist und Gott nimmt Kenntnis davon.

2. Gottseligkeit

Das zweite, dem der Christ nachstreben soll, ist die Gottseligkeit, das heisst die Beziehungen der Seele mit Gott, die Gemeinschaft mit Ihm, so, wie Jesus ein Beispiel gegeben hat. Die Seele muss fortwährend in Beziehung mit Gott sein, nur so wird sie die Gedanken Gottes haben. Die Gerechtigkeit ist die äussere Seite des Lebens des Christen, die Gottseligkeit die innere. Man kann nicht gerecht sein, ohne auch gottselig zu sein. Die Gottseligkeit ist das Leben mit Gott, mit Christus, ein Leben der Gemeinschaft, das nicht durch äussere Tätigkeit gehindert werden darf, die nicht damit in Einklang steht. Das ist eine häufige Gefahr. Die Gottseligkeit hält das Herz in guter Ordnung, Gott und seinem Wort untergeordnet, und bringt die Freude der Gemeinschaft hinein, die Freude der Gegenwart Gottes. Wenn unser Eigenwille tätig ist, können wir nicht in der Gottseligkeit leben und ihre Früchte können sich nicht zeigen. Die Gottseligkeit erhebt uns über die Umstände. Sie besteht darin, in allem, allezeit, überall und vor allem Gott zu suchen. Das ist es, was auch der Herr Jesus tat, als Er auf der Erde war (Ps 16,8). Die Gottseligkeit lässt uns durch den Glauben den Unsichtbaren erkennen (Heb 11,27), der in allem den Vorrang haben muss. Wenn wir die Geschwister Gott voranstellen, ist unsere Gottseligkeit schwach. Ohne Gott hat die Tätigkeit, der Dienst, das Leben keinen grossen Wert; ohne Ihn zählt das alles nicht. Es geht nicht darum, Grosses zu tun zur Ehre Gottes, sondern das zu tun, was Er will. Ein Mensch Gottes, wie Timotheus, ist aufgefordert, Gott in einer solchen Weise zu geniessen, dass die Kraft und die Gnade, die er in diesem überaus reichen Leben der Gemeinschaft fand, auf andere überfliessen konnte; er fand seine Kraft in Gott und konnte daher auch den anderen helfen. Eine gemeinsame Gottseligkeit gibt es nicht. Jeder muss für sich selbst Gott kennen. Es gibt gemeinsame Freuden, aber die Seele jedes einzelnen muss es mit Gott zu tun haben. Der Herr hat hier auf der Erde bei niemandem Kraft gefunden, aber Er konnte allen helfen. Wenn die Gottseligkeit in der Gemeinschaft mit Gott Freude hervorbringt, so bringt sie auch Leiden mit sich (2. Tim 3,12), sie ruft in der Welt Feindschaft hervor. Je gottseliger wir sind, desto mehr werden wir die Dinge empfinden, die uns Leiden verursachen, desto verhasster wird uns das Böse sein, desto mehr werden wir aber auch getröstet werden und in uns die wahre Kraft haben, in diesem allem zu überwinden. Wenn wir individuell um dieses Leben der Gottseligkeit bitten und danach streben; wie wird dies in der Versammlung spürbar werden!

Wie nährt sich und wie entwickelt sich die Gottseligkeit? Durch das Gebet und durch das Lesen des Wortes. Lasst uns bitten, mehr mit Gott beschäftigt zu sein als mit irgendetwas anderem! Wenn Gott in dieser praktischen Weise in unserem Herzen sein kann, dann werden wir auch in der rechten Weise an unsere Geschwister denken: wir werden es in Gott, in Christus tun und geleitet werden, nach den Gedanken des Herrn für sie zu beten.

Die Gegenwart und das Zeugnis eines gottseligen Menschen Gottes an irgendeinem Ort bringt oft viel Segen hervor. In 1. Petrus 3,1-4 haben wir das Beispiel eines gottseligen Lebens ohne Worte. Nicht rastlose Tätigkeit, nicht grosse Unternehmungen sind es, die vor Gott zählen und auf die Er seinen Segen gibt, sondern die Gottseligkeit. Daher werden wir ermahnt, nach der Gottseligkeit zu streben, denn die Gottseligkeit ist eine Sache, die so leicht davoneilt (Hos 6,4). Ein Christ lebt das Leben Christi, wenn er in Gottseligkeit wandelt und alle seine Tätigkeit daraus hervorkommt. Die Gottseligkeit bringt uns durch Jesus Christus mit Gott in Beziehung, und wenn wir die Gegenwart Gottes geniessen, sind die anderen in diesem Vers erwähnten Tugenden leicht zu verwirklichen, denn die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nützlich (1. Tim 4,8).