Der erste Brief an Timotheus (3)

1. Timotheus 1,12-16

Verse 12 und 13

Der Apostel sagte das nebenbei, als einer, dessen Herz von der Person Christi erfüllt war und der wusste, was es bedeutet, unter Gesetz gewesen zu sein und dann Gottes Gerechtigkeit gefunden zu haben. Praktisch gesehen ist es gut, wenn eine Seele den Stachel des Gesetzes mehr oder weniger zu spüren bekommt, vorausgesetzt, dass sie nachher aus diesem Zustand wieder herauskommt. Welcher Art die Anstrengungen des Fleisches, die wir machen, auch sein mögen, um den Forderungen des heiligen Gottes zu entsprechen, – sie haben eine heilsame Wirkung, sofern Gott uns nachher von ihnen löst: Der Gläubige wird von seiner Gnade umso mehr durchdrungen sein.

Die göttliche Befreiung ist eine unschätzbar grosse Erfahrung. Jemand mag das Leben aus Gott besitzen und doch nicht frei sein. Er seufzt, weil er gegen die Sünde kämpfen will und dabei im Fleisch verharrt. Welch glücklicher Tag, wenn er sich als elenden Menschen erkennt und auf den blickt, der alles vollbracht hat! Dann wird er danken. Dann hat er die grosse Erfahrung von Hiob gemacht.

Die Befreiung bildet einen wesentlichen Bestandteil der Ratschlüsse Gottes. Es ist der Sohn, der uns frei macht (Joh 8,36). Welch ein Erlebnis, wenn wir gelernt haben, dass in uns, das ist in unserem Fleisch, nichts Gutes wohnt! (Röm 7,18). Das Fleisch ist immer ein Hindernis auf dem Weg des Christen, auch wenn es sich von seiner besten Seite zeigt.

In unserer Zeit des Niedergangs hört man kaum von Menschen, die unter dem Gesetz seufzen. Macht man diese Erfahrung nicht mehr? Das wäre aber nicht wünschenswert. Man erzählt von Gläubigen früherer Zeiten, dass sie lange unter dem Gesetz standen, das heisst in der Stellung, die in Römer 7 beschrieben ist. Am Tag ihrer wirklichen Befreiung lernten sie dann die Gnade Gottes wahrhaftig schätzen, ohne sie in Ausschweifung verkehren zu wollen (Judas 4). Sie suchten nicht mehr ihre eigene Gerechtigkeit.

Auch der Apostel Paulus war zu diesem Ergebnis gelangt. Bei ihm ist keine Selbstgerechtigkeit zu sehen. Er preist die reine Gnade. Und obschon er nach dem Gesetz untadelig war (Phil 3,6), anerkennt er sich als ersten der Sünder und sagt: «Mir ist Barmherzigkeit zuteilgeworden.» Er wusste, dass er dieser Gnade nicht würdig war, unter der er nun stand. Die Überzeugung, das Gesetz gehalten zu haben, hätte Paulus dazu führen können, sich immer noch als ehrbaren Menschen zu betrachten. Doch die Gnade berührte sein Herz, öffnete seine Augen und liess ihn bekennen, was er in Wahrheit war. Sein Gewissen war gründlich davon durchdrungen, und er brauchte immer dieselben Ausdrücke, wenn er von sich selbst sprach (1. Kor 15,8.9; Eph 3,8).

Wir müssen dahin kommen, uns so zu sehen, wie Gott uns sieht, sonst machen wir in unserer Seele keine Fortschritte. Doch Gott ist treu, und Er vermag auch uns zu dem Bekenntnis zu führen, das Paulus äusserte. Je früher dies geschieht, desto besser. Ein Neubekehrter mag denken, er sei fähig, aus eigener Kraft etwas zu vollbringen. Er hält viel von sich. Doch sobald er auf dem Weg fortschreitet, sinkt er in seiner eigenen Achtung und ist schliesslich froh, sich weit hinter den Apostel Paulus stellen zu dürfen.

Nicht das Gesetz, sondern die Gnade ist es, die uns lehrt, das Böse zu verabscheuen. Ein Christ scheut sich davor, sich gegen die Gnade zu vergehen, gegen die Gnade zu sündigen.

Vers 14

Der Apostel fügt hinzu: «Die Gnade … ist überströmend geworden mit Glauben und Liebe, die in Christus Jesus sind.» Das ist Gottes Werk. Gott wollte diesen Sünder für sich haben und ihn einsetzen, das Evangelium zu verkünden (Apg 9,15). Paulus dankt Gott nicht nur dafür, dass Er ihn bekehrt, sondern dass Er ihn auch zum Träger der frohen Botschaft auserwählt hat. Bei Paulus ging die Erkenntnis seiner selbst Hand in Hand mit dem ihm anvertrauten Dienst. Er war ein auserwähltes Gefäss, das aber zuerst von sich selbst entleert werden musste, damit Gott es füllen konnte. Praktisch ausgedrückt: Er war ein Christ, der in ständigem Selbstgericht voranging, damit Gottes Kraft in ihm wirksam sein konnte.

In Vers 14 sehen wir, dass die Quelle in Christus zu finden ist. Wir müssen mit ihm verbunden sein. Aus seiner Fülle haben wir empfangen Gnade um Gnade. Dieser Grundsatz – Glaube als Wirkung, Liebe als Ursache – existierte unter dem Gesetz nicht. Solches war unbekannt. Das Gebot sagte: «liebe!» Aber das Mittel dazu gab es uns nicht. Die Gnade hingegen verleiht das Mittel zum Lieben, sie bringt die Liebe herein. Dem Apostel, der dem Gesetz entrissen worden war, waren diese Tatsachen von hohem Wert. Den rettenden Glauben, die Gnade, die Liebe Gottes, die Liebe zu Gott, ja, Gott selbst zu kennen, hatte für Paulus eine ganz besondere Bedeutung.

Verse 15 und 16

Die Verse 15-17 beschliessen den eingeschobenen Abschnitt, der mit Vers 5 begonnen hat. In diesem Abschnitt wurde der Platz bezeichnet, den das Gesetz einnimmt, und dargelegt, für wen es bestimmt ist. Im Gegensatz zum Gesetz stellt Gott nun das Evangelium, die frohe Botschaft vor. Anstatt zu fordern, gibt Er. Er hat den Wunsch, seinen Geschöpfen Herrlichkeit und Glück zu geben. Der Boden des Evangeliums ist sicher und erhaben. Gott hat alles Nötige getan, um uns an sich zu ziehen. Er hat das Heilmittel gefunden, das unsere eigene Natur, unser Unglaube und unsere Unwissenheit nötig hatten. Er lässt seine Gnade gegenüber Schuldigen überströmen.

Dieses Mittel, das Gott benützte, ist die Gabe Jesu, der in die Welt kam, Sünder zu erretten, in voller Übereinstimmung mit seinem Vater. «Das Wort ist gewiss», das heisst ein Fels, auf dem wir festgegründet stehen dürfen. Aber es ist auch ein Wort «aller Annahme wert». Diese frohe Botschaft richtet sich ausnahmslos an alle Sünder. Das Werk Christi am Kreuz entspricht den Bedürfnissen jedes Menschen. Der Apostel ist in dieser Beziehung ein bemerkenswertes Beispiel. Durch das Gesetz belehrte Gott den Menschen. Im Haushalt der Gnade aber kam Er in der Person seines Sohnes, um uns zu erretten.

Die gleiche Wahrheit wird im Kapitel 2 bekräftigt: Der Mittler ist gekommen; Kapitel 3 spricht davon, wie Gott durch Christus im Fleisch offenbart worden ist. Diese wiederholte Bestätigung ist von ausserordentlicher Schönheit. Der wichtige Wesenszug des Evangeliums, wie es uns in diesem Brief vorgestellt wird, ist dieser: Das Wort ist gewiss, dass Gott in der Person Christi Jesu gekommen ist. Das Gesetz forderte vom Sünder das Leben; es rettete ihn nicht, es tötete ihn. Aber Christus Jesus, der Sohn Gottes, ist auf diese Erde gekommen. Er starb für die Sünder und schenkt ihnen das Leben durch seinen Tod. Welch ein Gegensatz zwischen der Stellung des Menschen im Fleisch und der Stellung, in die das Kreuz den Gläubigen bringt (Röm 11,32)! Christus hat die Reinigung von den Sünden bewirkt (Heb 1,3).

Der Apostel Paulus war durch die Gnade gerettet worden. Er war sich bewusst, was das bedeutete. Sind wir das auch? Wir mögen nachsagen, was wir gehört haben, und wissen vielleicht noch gar nicht, aus welchem Abgrund wir gezogen worden sind. Oft brauchen wir das ganze Leben, um es ein wenig zu erfassen. Paulus war ein Pharisäer ohne Tadel. Es waren keineswegs grobe Fehler, die ihn zur Überzeugung brachten, dass er der erste der Sünder sei. Das bewirkte die Gnade. Nichts demütigt uns so tief wie das Evangelium der Gnade, weil Gott selbst die Gnade ist. Ist dies erreicht, stehen wir vor Gott voller Dankbarkeit.

Der Apostel führt zwei Gründe an, weshalb er zum Gegenstand der Barmherzigkeit Gottes wurde: Er hatte in Unwissenheit gehandelt, und er sollte zum Vorbild der Gnade Gottes gegenüber den Sündern werden. Der Gedanke, dass Gott ihm Barmherzigkeit zuteilwerden liess, verliess diesen teuren Diener nie. Möge dieser Gedanke doch auch uns nie verlassen, denn er erhält uns in der Demut. Der Apostel hatte keine gute Meinung von sich selbst, er vergass nie, wer er gewesen war. Man mag nicht hoch von sich denken, aber doch vergessen, wer man war. Das ist aber nicht viel besser, als eine hohe Einschätzung seiner selbst. Paulus blieb sich seines früheren Zustandes bewusst. Gott hatte zu ihm gesagt: «Ich werde deiner Sünden nie mehr gedenken.» Paulus jedoch sagte: «Ich will nicht vergessen, wer ich gewesen bin.» Letzteres muss sich in uns mit der Gewissheit verbinden, dass Gott nicht mehr daran denkt. Das Evangelium wäre ohne diese Übung zu bequem und entspräche nicht der Wahrheit Gottes. Lasst uns jedoch beachten, mit welcher Ruhe Paulus spricht. Sie wohnte in seinem Herzen. Nur ein befreiter Christ kann bezeugen, aus welchem Zustand die Gnade Gottes ihn gezogen hat. Nur in dem Mass, wie wir uns unseres früheren Zustandes bewusst sind, schätzen wir die Gnade und Barmherzigkeit Gottes.

Im 16. Vers ist ein bemerkenswerter Ausdruck hervorzuheben: «… damit an mir, dem ersten, Jesus Christus die ganze Langmut erzeige.» In der Tat, welche Langmut hat ihn von dem Augenblick an begleitet, wo er die Kleider der Zeugen hütete, die Stephanus steinigten, bis zum Weg nach Damaskus! Die gleiche Langmut übt Gott auch gegen uns aus.

Bemerkenswert ist auch die Ehrlichkeit, mit der Paulus über das schrieb, was ihn betraf, selbst wenn Generationen von Christen es lesen sollten. Der Heilige Geist trieb ihn dazu, er konnte nicht anders. Ehrlichkeit tritt immer da zutage, wo die Gnade in einer Seele wirkt. Sie ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Gottes Geist in diesem Herzen arbeitet.

Der Apostel ist das Beispiel einer klaren Bekehrung. Die Bekehrung ist eine Umkehr, die auf mannigfache Art geschehen kann. Sie kann sich über mehrere Jahre hinziehen. Wer in dieser Welt geboren wird, ist nicht auf dem Weg des ewigen Lebens. Er ist auf der Strasse zum ewigen Tod. Erst durch die Bekehrung wird seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Welcher Art seine Übungen sein mögen, Umkehr ist notwendig. Es geht weder um Beeinflussung noch um Belehrung noch darum, dass jemand viel weiss, sondern vielmehr darum, dass jemand sagen kann: «Christus Jesus ist gekommen, Sünder zu erretten, zu denen ich gehöre.»

Der Apostel ist zum Vorbild für die geworden, die nach ihm glauben würden. Das heisst nun etwa nicht, dass die Bekehrung nach dem gleichen Schema und unter denselben Umständen zu erfolgen hat, sondern dass das Ergebnis das gleiche sein wird. Ein christlicher Anstrich ist keine Bekehrung. Paulus schätzte das Kreuz zu hoch, um nicht das lautere Evangelium zu verkünden. So haben wir kein Recht, etwas anderes zu predigen. Wir haben kein Recht, die Menschen glauben zu machen, sie könnten durch ein anderes Mittel als durch das Kreuz gerettet werden. Wir müssen Christus verkündigen. Es ist leicht, dem Gedächtnis eines Menschen ein Mindestmass von Wahrheiten des Evangeliums und der Lehre des Wortes einzuprägen. Dabei wird er aber ebenso fern von Gott bleiben wie zuvor, wenn ihn dies nicht zur Bekehrung führt. Er könnte dadurch sogar noch weiter von Ihm abgezogen werden, wenn er dieses Wissen als Mantel benützt, um seinen wahren Zustand vor Gott zuzudecken.

Wir sollten also dafür beten, dass die Seelen, die das Evangelium hören, sagen können: «Christus Jesus ist in die Welt gekommen, Sünder zu erretten», zu denen ich gehöre. Es ist nicht immer leicht zu sehen, ob eine Seele dies sagen kann, aber wenn wir in der Seele die Wesenszüge göttlichen Lebens feststellen, verbunden mit einem Bekenntnis und mit Liebe zu Christus, dann bedeutet dies, dass das Herz brennt. Dann ist im Innern des natürlichen Menschen etwas zerbrochen worden, die schönen Früchte der Gnade sind sichtbar; sie zeugen von einer wirklichen Umkehr. Welch ein unvergleichliches Ergebnis!

Es gibt sicherlich Menschen, die vieles über Jesus wissen, die wissen, dass Er starb, Sünder zu erretten, und die doch nicht errettet sind. Dazu genügt die blosse Kenntnis der allgemeinen Wahrheiten nicht. Die Seele muss sie ergreifen und sie auf sich selbst anwenden. Das heisst glauben! Dazu braucht es ein Licht, das den Glanz der Sonne übertrifft, wie jenes, das Paulus auf dem Weg nach Damaskus umstrahlte und das ihn niederwarf. Es braucht die ganze Macht Gottes in Gnade, um uns zu überzeugen, dass wir verlorene Sünder sind und dass Christus für solche Sünder gestorben ist.

Wenn wir es mit Personen zu tun haben, die sich in einer falschen Sicherheit wiegen, ist es unsere Pflicht, ihnen zu helfen. Die Liebe Gottes drängt uns, den Schleier ihrer Selbsttäuschung zu zerreissen, so mühsam dies sein mag. Das Mittel dazu müssen wir uns natürlich von Gott zeigen lassen. Damit wir bei einem Menschen feststellen können, ob er ein Christ sei, sollte sich bei ihm ein Bekenntnis zu Christus und das Bewusstsein vorfinden, ein Sünder gewesen zu sein. Zur Zeit Israels waren die Kinder aufgrund ihrer Geburt Israeliten. Heute, bei den Kindern gläubiger Eltern, ist es nicht so. Wir dürfen nie vergessen und nicht davor zurückschrecken, dass ein mühsames Werk, ohne das es keine Bekehrung gibt, in der Seele geschehen muss. Wenn dieses Werk nicht in der frühen Kindheit geschieht, wird Gott es in seiner Treue in der Mitte oder am Ende des Lebens wirken. Ja, oft braucht es dazu die ganze Spanne eines Menschenlebens. Es ist unumgänglich, dass das Herz früher oder später so oder so belehrt wird, denn mit unseren eigenen Gedanken können wir nicht in die ewige Freude Gottes eintreten. Je mehr wir unsere eigenen Gedanken auf der Erde festhalten, desto weniger vermögen wir die himmlischen Segnungen zu geniessen und ins Heiligtum einzutreten.