So musste der Christus leiden (1)

Von Bethanien nach Gethsemane

Diese Artikelserie ist unter dem Titel «Jesus Christus auf dem Weg nach Golgatha» im Beröa-Verlag, Zürich, als Buch erschienen.

Von Bethanien nach Gethsemane

Unter allem, was die Heilige Schrift unserem Herzen nahe bringt, kann es nichts Erhabeneres geben, als das Leiden und Sterben des Mensch gewordenen Sohnes Gottes. Dem können wir nichts an die Seite stellen. Wir fühlen, es ist heiliges Land und ziehen unsere Schuhe von unseren Füssen; aber auf keinem anderen Gebiet mangelt uns oft so sehr das Verständnis, wie gerade auf diesem.

Können wir uns da wundern, dass es denen, die Ihm damals nachfolgten, ähnlich erging? «Und sie verstanden nichts von diesen Dingen, und dieses Wort war vor ihnen verborgen, und sie begriffen das Gesagte nicht» (Lk 18,34; Mk 9,32). So heisst es bei einer der Gelegenheiten, als der Herr seinen Jüngern ankündigte, dass «alles vollendet werden» würde, «was durch die Propheten über den Sohn des Menschen geschrieben steht» (Lk 18,31).

Und doch, wie genau hatte Er es ihnen vorausgesagt! «Der Sohn des Menschen wird den Hohenpriestern und den Schriftgelehrten überliefert werden; und sie werden ihn zum Tod verurteilen und werden ihn den Nationen überliefern; und sie werden ihn verspotten und ihn anspeien und ihn geisseln und töten» (Mk 10,33.34). Wie deutlich, wie eingehend war dies! Dreimal hatte Er so den Zwölfen «seinen Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte» (Lk 9,31), verkündigt.

Mit Matthäus 25, Markus 13 und Lukas 21 schliesst der öffentliche Dienst des Herrn, und in den darauf folgenden Kapiteln wendet sich der Heilige Geist der Geschichte seines Leidens zu, dem letzten, inhaltsschwersten Abschnitt seines Erdenlebens.

Im Johannes-Evangelium haben wir noch ein Zwischenglied: die Auferstehung von Lazarus und die damit zusammenhängenden Begebenheiten. Der öffentliche Dienst des Herrn hat dort schon in Kapitel zehn seinen Abschluss gefunden. Während in geheimen Beratungen der Hohenpriester und Ältesten der endgültige Beschluss gefasst wird, Ihn «zu greifen und zu töten», verkündet Er, nachdem Er «alle diese Reden vollendet hatte», seinen Jüngern zum letzten Mal, was nun unmittelbar bevorstand: «Ihr wisst, dass nach zwei Tagen das Passah ist, und der Sohn des Menschen wird überliefert, um gekreuzigt zu werden» (Mt 26,1-5.14-16; Mk 14,1.2.10.11; Lk 22,1-6; Joh 11,46-57).

Verstanden sie Ihn nun? Erfassten sie ganz, was jetzt über sie oder vielmehr, was über ihren geliebten Herrn hereinbrechen würde? Wir müssen nach allem, was wir hören oder sehen, diese Frage verneinen. Es war einer Frau vorbehalten, dem Herrn gegenüber die rechten Gefühle in angemessener Weise zum Ausdruck zu bringen. Um uns dies zu zeigen, führt uns der Heilige Geist einige Tage zurück, zu jenem Gastmahl im Haus Simons, des Aussätzigen, bei dem die drei Geschwister in Bethanien noch einmal um ihren Herrn versammelt sind (Mt 26,6-13; Mk 14,3-9; Joh 12,1-8). Hier sehen wir Maria, die wir jedes Mal, wenn sie erwähnt wird, zu den Füssen Jesu finden (Lk 10,39; Joh 11,32), zum dritten und letzten Mal in dieser Stellung, die eine völlige Hingabe des Herzens ausdrückt: Sie salbt den Herrn mit der «echten, sehr kostbaren Narde» (Joh 12,3) und trocknet seine Füsse, im Staub liegend, mit dem Schmuck der Frau, mit ihren Haaren. «Das Haus aber wurde von dem Geruch des Salböls erfüllt.» Was für eine einzig dastehende, verständnisvolle Handlung! Sie war der Ausdruck wahren Mitempfindens und liebenden Verstehens, mochten andere auch von «Vergeudung» reden(Mt 26,8).

Maria hatte damals «das gute Teil erwählt», indem sie «seinem Wort zuhörte»; und so war sie jetzt am ehesten imstande, sich – vorausahnend – in die Lage ihres Herrn zu versetzen. Sie fühlte deutlicher als alle anderen, wie sich die finsteren Wolken des Hasses und der Feindschaft immer bedrohlicher über seinem Haupt zusammenzogen, und darum war es ihr Wunsch, Ihm ihr Mitgefühl und ihre Zuneigung zu beweisen. Doch was konnte sie, diese schwache und vielleicht arme Frau, tun? Sie nimmt das Beste, was sie besitzt, zerbricht das kostbare Gefäss und giesst den noch kostbareren Inhalt über das Haupt und die Füsse des Herrn (Mk 14,3).1 Damit ehrt sie Ihn so, wie es dem König Israels, dem Knecht Gottes und dem «Eingeborenen vom Vater» (Joh 1,14), zukam, der im Begriff stand, «durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott zu opfern» (Heb 9,14). «Indem sie dieses Salböl über meinen Leib gegossen hat, hat sie es zu meinem Begräbnis getan.»2

Diese Deutung gibt der Herr selbst, indem Er sich zwischen Maria und die unverständigen Jünger stellt. Diese Handlung entsprang ihrem Herzen. Der Herr bezeugt feierlich, dass sie nicht in Vergessenheit geraten werde. Welchen Wert hatte dieses Tun doch für sein Herz! Wie Jonathan, der auf der rastlosen Verfolgung des Erzfeindes im Vorübergehen vom Honig kostete, «und seine Augen hell wurden» (1. Sam 14,27), so fand hier der Herr eine Erquickung, wie sie Ihm in den Tagen seines Leidens nicht noch einmal durch einen Menschen zuteilwerden sollte.

Der Tag des Festes, «der erste der ungesäuerten Brote», kommt, und wir sehen den Herrn zur Feier des Passahmahls mit den zwölf Aposteln vereint: «Mit Sehnsucht habe ich mich gesehnt, dieses Passah mit euch zu essen, ehe ich leide» (Mt 26,17-20; Mk 14,12-17; Lk 22,7-18). Bevor der «Sohn des Menschen» und Erbe aller Dinge endgültig verworfen wurde, bevor die Wogen der Feindschaft über dem Haupt des Reinen und Schuldlosen vollends zusammenschlugen, war es der Wunsch seines Herzens, noch einmal auf dem Boden der vorbildlichen göttlichen Verordnung mit dem schwachen Überrest aus seinem Volk zusammen zu sein – bevor Er als das wahre Passahlamm sein Leben und sein Blut hingeben würde.

Aber selbst auf diese sehr liebliche Abschiedsszene fallen düstere Schatten. Nicht nur, dass der von den Hohenpriestern gedungene Verräter offenbar wird und, erfüllt mit seinem furchtbaren Vorhaben, in die dunkle Nacht hinaus geht – wir hören auch vom Streit der Jünger, «wer von ihnen für den Grössten zu halten sei», und dass Simon Petrus seinen Herrn, weit entfernt, mit Ihm «ins Gefängnis und in den Tod zu gehen», dreimal verleugnen würde (Mt 26,21-35; Mk 14,18-31; Lk 22,21-38; Joh 13,18-38).

Doch der Herr, der dies alles noch weit mehr empfand als wir es zu empfinden vermögen, schreckt nicht zurück: «da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende» (Joh 13,1-17). Vor dem Mahl zeigte Er ihnen in der sinnbildlichen Handlung der Fusswaschung, dass Er bereit sein würde, den Seinen mit der reinigenden Kraft seines Wortes zu Hilfe zu kommen. Nach dem Mahl übergibt Er ihnen ein kostbares Vermächtnis. Er wusste, wie vergesslich wir sind, und wie die ergreifendsten Szenen, die die Welt je gesehen hat, die seines Leidens und Sterbens, oft nur so geringe Eindrücke in den Herzen der Seinen hervorrufen. Darum gab Er ihnen sein Mahl: Brot und Wein, Leib und Blut getrennt, der Leib für uns hingegeben und das Blut für uns vergossen, stellen den für uns gestorbenen Christus dar, der den Vater vollkommen verherrlichte und den heiligen Gott für ewig zufrieden stellte. «Dies tut zu meinem Gedächtnis!» (Lk 22,19). – Sollte dieser Wunsch des Herrn, den Er den Seinen später vom Himmel her wiederholen liess (1. Kor 11,23-25), nicht wärmeren Widerhall in unseren Herzen hervorrufen?

Ein Loblied erklingt (Mt 26,30), dann schreiten sie in die Nacht hinaus: «Er … begab sich der Gewohnheit nach an den Ölberg» (Lk 22,39). Aber die Worte, die Er diesmal zu ihnen redet, sind Abschiedsworte: «Euer Herz werde nicht bestürzt, sei auch nicht furchtsam» (Joh 14,1.27). Er hätte Grund gehabt, mit sich selbst beschäftigt zu sein, aber Er tröstet, Er ermuntert und belehrt seine Jünger. Drinnen im Haus mag der «grosse Obersaal» der Anlass für Ihn gewesen sein, von den «vielen Wohnungen im Haus seines Vaters» und dem Weg dorthin zu sprechen (Joh 14,2). Jetzt sind es die Weinberge am Abhang des Kidrontals, die Ihn bewegen, über das zarte und innige Verhältnis der Reben zu Ihm, dem wahren Weinstock, zu reden (Joh 15,1-8). Doch immer tiefer steigen sie hinab; hinter ihnen liegt die heilige Stadt. Die Zinnen des Tempels, die sonst im Sonnenlicht so hell schimmern und glänzen, verschwinden im Dunkel der Nacht: Da redet Er zu ihnen davon, dass das Alte für sie vorüber sei und nun der Sachwalter kommen werde, der Heilige Geist, um sie «in die ganze Wahrheit» und in ein neues, einzigartiges Verhältnis zum Vater einzuführen (Joh 16,7-14).

Dann erhebt Er die Augen zum Himmel zu einem ergreifenden Gebet. Er gibt die, die der Vater Ihm aus der Welt gegeben hatte, Ihm nun «zurück», damit Er, der Vater, sie in einer bösen Welt bis hin zum Ziel bewahre (Joh 17); und Er schliesst – in einer Sprache, zu der nur Er, der Sohn, dem Vater gegenüber ein Recht hatte – mit dem kostbaren, erhabenen Wort: «Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, auch bei mir seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit schauen …» (Joh 17,24).

Als Jesus dies gesagt hatte, ging Er mit seinen Jüngern hinaus über den Bach Kidron, wo ein Garten war, in den Er hineinging, Er und seine Jünger (Mt 26,36-46; Mk 14,32-42; Lk 22,39-46). Stiegen vielleicht Erinnerungen in Ihm auf, wie tausend Jahre zuvor ein anderer durch dieses tiefe Tal die «Anhöhe der Olivenbäume» (2. Sam 15,30) hinaufschritt, von seinem Volk verworfen wie Er, und weinend über das, was er zurückliess? Doch der König David ging den Weg infolge eigener schwerer Schuld; der Sohn Davids aber, unser Herr, weil hier für Ihn der Weg beginnen sollte, den Er wegen fremder Schuld und Sünde gehen musste. Denn hier, im Dunkel der Nacht, «in der er überliefert wurde», an dem «Ort mit Namen Gethsemane» wurde es Satan, der «für eine Zeit von ihm gewichen» (Lk 4,13) war, erlaubt, Ihm zum zweiten Mal zu nahen. Hier fiel der Schatten des Kreuzes auf seinen Weg, hier reichte Ihm der Vater den Kelch, den zu trinken Er auf diese Erde gekommen war – den bitteren Kelch des Zorns Gottes im gerechten Gericht über die Sünde. Dort am Kreuz, in den drei Stunden der Finsternis, sollte Er «unsere Sünden an seinem Leib tragen» (1. Pet 2,24), sollte Er, «der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht» werden (2. Kor 5,21). Konnte es anders sein, als dass seine heilige Seele zurückschreckte, wenn Satan Ihm «den Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte», in seiner ganzen Furchtbarkeit vor Augen stellte?

Es ist der Mensch Jesus Christus, der hier vor uns steht, mit all den göttlich vollkommenen Empfindungen der Abhängigkeit und des Gehorsams. Je näher Er dem Weg kam, den Er nun zur Vollendung der Ratschlüsse Gottes einschlagen musste, desto mehr empfand Er, was Ihm bevorstand, desto mehr mussten grosse «Bestürzung und Beängstigung» (Mk 14,33) sein Herz erfüllen. Er sagte zu den Jüngern: «Meine Seele ist sehr betrübt bis zum Tod; bleibt hier und wacht mit mir» (Mt 26,38); Er sehnte sich nach ihrem «Mitleid» und ihrem «Trost» (Ps 69,21), Er hatte einen Anspruch darauf und wusste doch, dass sie Ihm vorenthalten würden. Die Quellen seiner Kraft lagen allein droben, bei seinem Vater.

Nur langsam, wie zögernd, tritt Er in die Tiefe des Gartens ein; erst nimmt Er seine drei vertrautesten Jünger mit, um sich dann auch von ihnen zu trennen. «Er zog sich ungefähr einen Steinwurf weit von ihnen zurück» (Lk 22,41), und dort, in völliger Absonderung, «kniete er nieder», «fiel auf die Erde» (Mk 14,35), ja, «auf sein Angesicht» (Mt 26,39). Dort brachte Er «sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dar» (Heb 5,7). Und wie auf seinem ganzen Weg – mit Ausnahme der drei Stunden der Finsternis am Kreuz – der Himmel über Ihm geöffnet war und «die Engel Gottes auf- und niederstiegen auf den Sohn des Menschen» (Joh 1,51), so auch hier: «Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel, der ihn stärkte» (Lk 22,43). Dort lag Er «in ringendem Kampf» in immer «heftiger» werdendem Gebet; «es wurde aber sein Schweiss wie grosse Blutstropfen, die auf die Erde herabfielen» (Lk 22,44).

Noch ergreifender sind die wenigen Worte des Gebets, die uns vom Heiligen Geist überliefert wurden. – Gab es keinen anderen Weg? «Er betete, dass, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorübergehe» (Mk 14,35). War Ihm, dem Vater, nicht alles möglich? «Abba, Vater» – es ist das einzige Mal, dass wir diese vertrauteste Anrede aus dem Mund des Herrn vernehmen – «Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir weg!» (Mk 14,36). «Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!» (Mt 26,39). Aber niemand wusste so gut wie Er, dass eben dies dem Vater nicht möglich war, wollte Er einen Weg zur Errettung des Sünders bahnen und seine ewigen Ratschlüsse zur Ausführung bringen. Darum fügte Er das Wort tiefster Abhängigkeit und Unterwürfigkeit hinzu: «Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!» – «Mein Vater, wenn dieser Kelch nicht vorübergehen kann, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille» (Mt 26,42). Auch hier, im einzigen Fall, als sein Wille dem des Vaters gegenüberstand, unterwarf Er sich und «ist um seiner Frömmigkeit willen erhört worden» (Heb 5,7). Er ging als Sieger aus dem bitteren Kampf hervor. Während seine Jünger «vor Traurigkeit eingeschlafen waren» (Lk 22,45), stand Er vom Gebet auf und beschritt in vollkommener Ruhe den Weg, um den Kelch, den Er aus der Hand des Vaters genommen hatte, nun auch bis zum bitteren Ende zu leeren.

  • 1Bei Matthäus, der uns den Messias und bei Markus, der uns den Propheten vor Augen stellt, haben wir die Salbung des Hauptes, bei Johannes, der den Herrn als den Sohn Gottes vorstellt, die Salbung der Füsse. Wir verstehen gut, dass uns Lukas die Geschichte dieser Ehrung nicht berichtet, denn dort haben wir den Menschen Jesus Christus, der in Niedrigkeit auf der Erde wandelte.
  • 2Bei Markus heisst es: «Sie hat im Voraus meinen Leib zum Begräbnis gesalbt»; wörtlich: «Sie hat das Salben meines Leibes zum Begräbnis vorweggenommen» (Mk 14,8). Wir wissen, dass die übrigen Frauen damit zu spät gekommen sind (Lk 24,1-3).