«Siehe, das Lamm Gottes!»
«Siehe, der Mensch» – so hatte Pilatus den Herrn seinem Volk vorgestellt, als selbst das Herz dieses Heiden durch den Anblick des unschuldig leidenden «Mannes der Schmerzen» getroffen wurde. Und weit mehr noch wurden unsere Herzen bewegt, als wir – in den bisherigen Abschnitten – seinen Weg bis hinauf an das Kreuz verfolgten und Ihn in seinen Leiden von Menschenhand betrachteten.
«Aber von der sechsten Stunde an …» – So und ähnlich leiten die beiden ersten Evangelien, deutlich erkennbar, einen neuen Abschnitt ein (Mt 27,45-47; Mk 15,33-35; Lk 23,44.45a), in dem das Leiden des Herrn von Menschenhand völlig hinter das zurücktrat, was Er von Gottes Seite aus litt, was Er leiden musste, wenn eine «Sühnung für unsere Sünden» zustande kommen sollte, «nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt» (1. Joh 2,2). Hier, im Blick auf diese letzten Stunden, ruft der Glaube mit Johannes dem Täufer ein anderes «Siehe» aus:
«Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!» (Joh 1,29.36).
«Und es war schon um die sechste Stunde; und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und die Sonne verfinsterte sich» (Lk 23,44.45a).1 Warum verhüllte der Himmel sein Angesicht? Warum verlor – am hellen Mittag – die Sonne ihren Schein? Es war ein äusseres Zeichen dafür, dass jetzt alles, was den Herrn umgab, womit Er es bisher zu tun hatte, zurücktrat; das, worum es sich in diesen letzten Stunden handelte, war eine Sache zwischen Ihm und Gott allein.
Wie hätte auch die Schöpfung die Tiefen der Leiden mitansehen können, in die der Schöpfer hinabstieg? Geziemte ihr ein anderes Gewand angesichts der «Finsternisse» (Ps 88,7), die die Seele von dem umhüllten, der die Schöpfung ins Dasein gerufen hatte (Heb 7,2)? – Auch an uns ist es, in heiliger Zurückhaltung und Scheu zur Seite zu treten, und wir werden in Ewigkeit das Geheimnis dessen, was hier in der Seele des Herrn vorging, nicht zu ergründen vermögen.
Dem entspricht es auch, dass uns der Heilige Geist über die drei Stunden selbst nur wenig berichtet. Wie hätte Er uns auch die Mühsal seiner heiligen Seele schildern können, als sie das «Schuldopfer stellte»? Wie hätte Er uns mitteilen können, was es hiess, als «er seine Seele ausgeschüttet hat in den Tod», als «Angst und Gericht» Ihn befiel, als Er «aus dem Land der Lebendigen abgeschnitten» (Jes 53,8.10.12), «unter den Toten hingestreckt» (Ps 88,6)und «in den Staub des Todes gelegt» (Ps 22,16) wurde?
- Rings von Todesnacht umgeben,
hast Du unsre Schuld gesühnt;
still und stumm, von Gott verlassen,
trugest Du, was wir verdient.
Es ist so, wie der Dichter sagt. Auch hier «tat er seinen Mund nicht auf» (Jes 53,7). Kein Wort und keine Klage des so Leidenden hören wir, stumm blieben seine Lippen, bis sie sich endlich, zum Zeugnis von dem, was Er litt, «um die neunte Stunde» zu jenem lauten «Aufschrei» öffneten.
«Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf mit lauter Stimme …» (Mt 27,46). – Nicht einen einzigen Schrei hörten wir von Ihm bis dahin, weder am Kreuz noch auch vorher auf seinem Leidensweg. Ruhig und still ging Er diesen Weg bis hinauf an das Fluchholz, sprach Worte der Liebe und Gnade zu dem Jünger, den Er liebte, zu seiner Mutter und zum einen Räuber. Hier aber ein lauter Schrei – ein Beweis, dass es noch einen weit tieferen Abgrund des Leidens gab, in den sein Fuss erst in diesen letzten Stunden hinabgestiegen ist. «Merkt ihr es nicht, alle, die ihr des Weges zieht? Schaut und seht, ob ein Schmerz ist wie mein Schmerz …» (Klgl 1,12). – Dieses Wort mag in seinem tiefsten Sinn auf Ihn anzuwenden sein, hier, «am Tag der Zornglut» Gottes.
Auch Wesen und Inhalt dieses (nach unserer Vermutung) vierten Wortes am Kreuz unterscheiden sich völlig von den übrigen Worten. «Eli, Eli …!»2 «Mein Gott, mein Gott …» – Wann je vorher vernahmen wir aus seinem Mund eine solche Anrede des Vaters?
«Ich preise dich, Vater» (Mt 11,25), rief Er aus, als die Verwerfung durch sein Volk zum Anlass einer neuen Entfaltung der göttlichen Gnade wurde. «Vater», «heiliger Vater», «gerechter Vater» (Joh 17,1.11.25), nennt Er Ihn in seinem Gebet. «Mein Vater» (Mt 26,39.42), «Abba, Vater» (Mk 14,36), kam es selbst noch in Gethsemane von seinen Lippen, als Er den Kelch der Leiden aus der Hand des Vaters nahm. Welch eine innige, auch nicht durch den leisesten Hauch getrübte Gemeinschaft! Und: «Vater, vergib ihnen …» (Lk 23,34), betete Er auch noch am Kreuz – ein vollgültiger Beweis für uns, dass Er nicht, wie viele meinen, schon vor den drei Stunden der Finsternis der Sündenträger gewesen ist. Wer so denkt, hat noch nicht erkannt, was die Sünde in Gottes Augen ist, und verkleinert, gewiss ohne es zu wollen, das sühnende Leiden des Heilands.
Denn welch eine Veränderung trat ein, musste eintreten, als es sich um diese Leiden handelte! «Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf … und sagte: … Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» – Dass Er «von den Menschen verlassen» (Jes 53,3) war, dass Er in steter, ich möchte sagen zunehmender Vereinsamung seinen Weg über diese Erde ging, bis schliesslich «alle an ihm Anstoss nahmen» (Mt 26,31) und Ihn allein liessen, verwundert uns nicht. Es lag in seiner Treue und Hingabe an Gott, inmitten eines unreinen und gottfeindlichen Geschlechts begründet. Hier aber war es Gott, der Ihn verliess, Ihn, «der keine Sünde tat» (1. Pet 2,22), ja, «der Sünde nicht kannte!» (2. Kor 5,21).
Nur von fern ahnen wir aber, was es für Gott gewesen sein muss, sein Angesicht vor Dem zu verhüllen, der das wahrhaftige Brandopfer war, der gekommen war, um seinen Willen zu tun, und der ihn vollkommen getan hat (Heb 10,9; Ps 40,9). Hiess es in der zurückliegenden Zeit nicht auch, im Blick auf den Vater und den Sohn,3 wie wir es in der Geschichte von der Opferung Isaaks lesen: «Sie gingen beide miteinander?» Dort freilich, als Abraham seinen Sohn nahm, «seinen einzigen, den er lieb hatte», um ihn auf dem Berg Morija zu opfern, liess Gott es ihm nicht zu: «Abraham, Abraham! … Strecke deine Hand nicht aus nach dem Knaben, und tu ihm gar nichts» (1. Mo 22,6.8-12). Hier aber griff Gott nicht ein und kein Engel erschien, um Einhalt zu gebieten, oder um den Herrn wie in dem «ringenden Kampf» (Lk 22,43) in der Nacht zu stärken. Hier wandte Gott sich ab, hier musste Er es tun, ja, wir lesen: – ewig unergründliches Geheimnis! – «Dem Herrn gefiel es, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen!» (Jes 53,10).
Das aber war es gerade, was für den Herrn «die Mühsal seiner Seele» so unendlich gross machte, was «sein Auge vor Elend verschmachten» liess – dass es «sein Gott» war, der Ihn verlassen hatte. «Du hast mich in die tiefste Grube gelegt, in Finsternisse, in Tiefen. Auf mir liegt schwer dein Grimm, und mit allen deinen Wellen hast du mich niedergedrückt.» Seine «Schrecknisse» waren es, die Ihn «verwirrten», seine «Zorngluten» waren über Ihn hingegangen (Ps 88,7-17)! – «Viele Stiere» und «gewaltige Stiere von Basan» hatten Ihn umringt; auch die körperlichen Schmerzen und die entwürdigende Behandlung jener «Rotte von Übeltätern» (Ps 22,13.17).
Alles wurde von Ihm, wie wir betrachtet haben, im innersten Herzen gefühlt; und doch, was war das gegen die unsägliche Qual dieser Stunden! «Du aber, Herr, sei nicht fern! Meine Stärke, eile mir zu Hilfe!» (Ps 22,20).
Die Väter «schrien» zu Gott, sie «vertrauten auf ihn» und wurden «nicht beschämt» (Ps 22,5.6); aber auf sein Rufen erfolgte keine Antwort. David schaute von der Höhe seines Lebens herab und konnte feststellen: «Nie sah ich den Gerechten verlassen» (Ps 37,25). Der Herr aber rief: «Sei nicht fern von mir, denn Drangsal ist nahe, denn kein Helfer ist da!» (Ps 22,12). Gott blieb «fern von seiner Rettung, den Worten seines Gestöhns» (Ps 22,2). Wie ergreifend! Ja, es ist ein über alles Erfassen wunderbares Ereignis, den einzig gerechten Menschen, der je in der Welt war, am Ende seines Lebens erklären zu hören, dass Er «von Gott verlassen sei».
Fragen wir da nicht auch: Warum? Verstehen wir nicht gut, dass Er so fragte? «Warum hast du mich verlassen?» «Warum, Herr, stehst du fern, verbirgst dich in Zeiten der Drangsal?» (Ps 10,1). «Sagen will ich zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen?» (Ps 42,10). «Denn du bist der Gott meiner Stärke. Warum hast du mich verworfen?» (Ps 43,2). «Warum, Herr, verwirfst du meine Seele, verbirgst du dein Angesicht vor mir?» (Ps 88,15).
Aber war Ihm denn die furchtbare Ursache dieses Verlassenseins nicht bekannt? Wir wissen, dass wir seine Frage nicht so zu verstehen haben; denn schon vorher «wusste er alles, was über ihn kommen würde» (Joh 18,4). Und auch wir kennen diese Ursache, weil sein Wort uns darüber belehrt, und auch sein irdisches Volk, das selbst hier noch – wie furchtbar – seiner zu spotten wagt (Mt 27,47.49), wird es einst durch den Mund des gläubigen Überrests bekennen: «Doch, er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen … Um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen. Die Strafe zu unserem Frieden lag auf ihm, und durch seine Striemen ist uns Heilung geworden» (Jes 53,4 ff.).
Wie viele haben zu allen Zeiten in diesen göttlichen Worten schon Frieden und Heil gefunden! Denn wie anders hätten sie Gottes gerechten Forderungen entsprechen können? «Das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war» – hier tat es Gott, indem Er, und zwar in seinem eigenen Sohn – «die Sünde im Fleisch verurteilte» (Röm 8,3). Gott sei gepriesen! «Christus hat uns losgekauft von dem Fluch des Gesetzes, indem er ein Fluch für uns geworden ist» (Gal 3,13). – Das war es, was in diesen letzten Stunden geschah, als Gott, der «Heiland-Gott», mit Ihm, unserem Bürgen und Stellvertreter, ins Gericht ging.
Litt der Herr vorher von Menschenhand, so litt Er jetzt unter der Hand eines heiligen und gerechten Gottes. Litt Er vorher um seiner Gerechtigkeit willen, so jetzt um unserer Schuld und Sünde willen. Denn hier, in den drei Stunden der Finsternis, wurde Er das vollkommene Sünd- und Schuldopfer, «hochheilig» (3. Mo 6,18; 7,1) für Gott – ein Opfer für die Sünde, dessen Blut in das Innere des Heiligtums hineingetragen wurde und dort auf immerdar vor Gott ist (3. Mo 16,15; Heb 13,11.12). Hier hat Gott unsere Sünden auf Ihn gelegt, auf Ihn, der «keine Sünde tat, noch wurde Trug in seinem Mund gefunden» (1. Pet 2,22.24; Heb 9,28). Hier hat Er «den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm» (2. Kor 5,21). Welch eine Liebe, die es über sich brachte, selbst ohne Sünde, an unserer statt als Sünder behandelt zu werden, in der Gegenwart Gottes als Gott, ohne irgendeinen Schleier, der die Sünde verhüllt hätte, ohne irgendwelche Gnade, um sie zu ertragen oder damit zudecken zu können! Diese Liebe war «gewaltsam wie der Tod, hart wie der Scheol ihr Eifer; ihre Gluten sind Feuergluten, eine Flamme Jahs. Grosse Wasser vermögen nicht die Liebe auszulöschen, und Ströme überfluten sie nicht. Wenn ein Mann allen Reichtum seines Hauses für die Liebe geben wollte, man würde ihn nur verachten» (Hld 8,6.7). – «Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blut, und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater: Ihm sei die Herrlichkeit und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen» (Off 1,5.6).
In den Abgrund, in den die Sünde den Menschen gestürzt hat, in das Gericht, das uns in Ewigkeit hätte treffen müssen, stieg Er hinab, um den «Lohn der Sünde», den Tod, für uns zu empfangen. Hier sehen wir, was die Sünde in Gottes Augen ist; Er aber, der Herr, selbst vollkommen rein, fühlte auch dieses (wie vorher den Spott und die Schmach) mit vollkommenen Empfindungen: «Tiefe ruft der Tiefe beim Brausen deiner Wassergüsse; alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen» (Ps 42,8; Jona 2,4). Wir verstehen, dass, wie Er zu Beginn seines Leidensweges davor zurückgeschreckt war, diesen Kelch zu nehmen, seine Seele jetzt, als Er ihn bis zur Neige geleert hatte, «satt war von Leiden» (Ps 88,4).
Welch ein Erlösungswerk! Welch eine vollkommene Verherrlichung Gottes! Ja: «Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt!»
- 1Dies war – wohlverstanden – die Folge, nicht die Ursache der Finsternis, die einen durchaus übernatürlichen Charakter trug. Eine Sonnenfinsternis ist nur am Neumond möglich; das Passah (am 14. Nisan) fiel aber in die Zeit des Vollmondes, da die jüdischen Monate mit dem Neumond begannen.
- 2Die Verwendung des Hebräischen, die auch beim Herrn, soweit wir wissen, nicht üblich war, könnte den Gedanken unterstützen, dass Er in körperlichem und seelischem Schmerz zu den Worten des Psalmisten Zuflucht genommen habe. Doch wie könnte dies sein! Wie hätte David solche Worte über sich selbst ausrufen können? Die Wahrheit ist vielmehr die, dass wir in diesem wie in anderen Psalmen eine prophetische Offenbarung dessen haben, was tausend Jahre später am Kreuz vorging.
- 3Wir haben hier immer nur an den im Fleisch Gekommenen zu denken; als Sohn Gottes von Ewigkeit her war der Herr nie von Gott, oder wie wir dann sagen müssten, von seinem Vater verlassen (Joh 1,18; 10,30).