So musste der Christus leiden (10)

Johannes 19,6-16

«Siehe, euer König!»

Für den Römer Pilatus ist die Lage völlig rätselhaft geworden. Sonst waren – wohl in allen Fällen – die Juden die Fürsprecher für jeden ihrer Volksgenossen gewesen, den er zu richten bereit war. Jetzt lagen die Dinge umgekehrt. Er tritt für die Unschuld des Gefangenen ein, sie aber verlangen mit ihrem immer wiederholten: «Kreuzige, kreuzige ihn», dass der fremde Machthaber einen der Ihren richte! Zorniger Spott für dieses törichte, verblendete Volk spricht aus den Worten des Pilatus: «Nehmt ihr ihn hin und kreuzigt ihn, denn ich finde keine Schuld an ihm» – ihnen, denen doch «nicht erlaubt war, jemand zu töten» (Joh 18,31). Da lassen die Juden die heuchlerische Maske ihrer politischen Anklage fallen: «Wir haben ein Gesetz, und nach dem Gesetz muss er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat.»

Gottes Sohn? – Zum ersten Mal fällt dem Heiden gegenüber dieses Wort. «Als nun Pilatus dieses Wort hörte, fürchtete er sich noch mehr; und er ging wieder hinein in das Prätorium und spricht zu Jesus: «Wo her bist du?» Der Traum seiner Frau tritt von neuem vor seine Seele. Die hoheitsvolle Gestalt des vor ihm stehenden Dulders gewinnt neue Macht über ihn, wie wir es ähnlich später beim Hauptmann unter dem Kreuz sehen (Mt 27,54). – Sollte einer der Götter «den Menschen gleich geworden und zu ihnen herabgekommen» sein (Apg 14,11)? – Grausames war auf seine Veranlassung und unter seiner Duldung geschehen, feige fürchtet er sich jetzt, noch weiter zu gehen.

Im Innern des Römers ist ein ständiger Kampf zwischen abergläubischer Furcht und Gewissensangst, zwischen Menschenfurcht und Furcht vor der Wahrheit. Hätte Liebe zur Wahrheit in seinem Herzen gewohnt, hätte sich ihm eine letzte Gelegenheit geboten, vor dem Sohn Gottes auf sein Angesicht zu fallen und Ihn um einen Ausweg aus allen seinen Verlegenheiten zu bitten! Aber er war «ein wankelmütiger Mann, unstet in allen seinen Wegen»; «der Zweifelnde gleicht einer Meereswoge, die vom Wind bewegt und hin und her getrieben wird. Denn jener Mensch denke nicht, dass er etwas von dem Herrn empfangen wird» (Jak 1,6-8). Der Herr schweigt und «gibt ihm keine Antwort».

Ist es nun, dass dieses Schweigen seinen Stolz verletzt, oder ist es, dass er durch nachdrückliches Zureden einen letzten Erfolg, eine Lösung des Rätsels von Ihm erhofft – «Pilatus spricht zu ihm: Redest du nicht mit mir? Weisst du nicht, dass ich Gewalt habe, dich freizulassen und Gewalt habe, dich zu kreuzigen?» – Was für ein grosser Irrtum! Weder die furchtbarste Drohung noch die grösste Überredungskunst konnte Den, der auf seinem ganzen Weg nie die geringste Menschen- oder Todesfurcht gezeigt hatte, erschrecken oder vom vorgezeichneten Weg zurückhalten. Es war der «Urheber des Lebens» (Apg 3,15), der hier vor ihm stand; es war Der, der gesagt hatte: «Ich lasse mein Leben von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen» (Joh 10,18). Erhaben und mild zugleich klingt die Antwort des Herrn: «Du hättest keinerlei Gewalt gegen mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre; darum hat der, der mich dir überliefert hat, grössere Sünde.»

Armer Pilatus! Hatte Gott selbst ihm auch das «Schwert gegen seinen Hirten» (Sach 13,7) – das Messer gegen seinen Sohn (1. Mo 22,10) – in die Hand gedrückt, seine Verantwortlichkeit blieb; aber gewiss, «der Richter der ganzen Erde» würde «Recht üben» (1. Mo 18,25). Gnade schimmert durch das Gericht; und dennoch: Der Hohepriester, der Ihn dem Pilatus überliefert hatte, wie dieser selbst – jeder empfängt sein wohl abgemessenes, gerechtes Urteil. Das alles macht den Statthalter vollends verwirrt; er will sich dem Willen dieses Volkes nicht beugen! Die Worte: «Daraufhin suchte er ihn freizulassen», deuten uns wohl ein letztes Aufraffen in dieser Richtung an.

Das wird dem Volk zu viel; sie kennen ihre römischen Unterdrücker zu gut, als dass sie das Spiel verloren gäben! Sie kehren zu ihrer ursprünglichen Anklage zurück und spielen die letzte, entscheidende Karte aus, die sie noch in den Händen halten: «Die Juden aber schrien und sagten: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich selbst zum König macht, spricht gegen den Kaiser.» Damit ziehen sie das Netz zu, indem sie den Statthalter in schlauer Berechnung, leidenschaftlich ihr Ziel verfolgend, mehr und mehr gefangen hatten: Die Gunst des Kaisers aufs Spiel zu setzen, dazu war dieser Mann nicht gewillt.1 Und damit ist der Abschluss der unwürdigen und ungerechten Verhandlung gekommen.

«Als nun Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus hinaus und setzte sich auf den Richterstuhl an einen Ort, genannt Steinpflaster, auf Hebräisch aber Gabbatha.» Feierlich nimmt er den Platz des höchsten Richters ein, um das Urteil zu fällen; feierlich verzeichnet auch der Heilige Geist Ort, Tag und Stunde.2

Wie der Mensch gern seine Schwäche hinter gehässigen Worten zu verbergen sucht, behandelt auch Pilatus das Volk, dem er sich in Wirklichkeit gebeugt hatte, mit verächtlicher Geringschätzung: «Siehe, euer König!» «Euren König soll ich kreuzigen?» Die Juden wieder, blind für diesen Hohn, blind auch für das, was sie selbst sagen und tun, antworten: «Wir haben keinen König, als nur den Kaiser.» Die Soldaten ziehen dem Herrn den Purpur aus und die eigenen Kleider wieder an. «Dann nun überlieferte er ihn an sie, damit er gekreuzigt würde.»

Wir werfen einen kurzen Blick zurück. Pilatus, das Volk, der Herr – das sind die handelnden oder duldenden Personen im satanischen Spiel dieser Stunden. Pilatus, der römische Statthalter und Heide, war sich des Ernstes des Augenblicks einigermassen bewusst; er hätte mit seinem Gefangenen niemals so viel Umstände gemacht, wenn er nicht von dessen göttlicher Person in den Bann gezogen worden wäre. Doch er liebte Ehre und Menschengunst, und so kam es in seinem Herzen solange es an der Zeit war zu keiner Entscheidung. Auf ihn passt das Wort des Herrn: «Was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber seine Seele einbüßt?» (Mt 16,26). Die Gunst des Kaisers, der er den Herrn und seine eigene Seele geopfert hat, hatte allenfalls für diese Erde Wert, aber auch sie ging ihm wenige Jahre darauf verloren.3

Grösser als die Schuld dieses unglücklichen Mannes ist, wie wir gesehen haben, jene des jüdischen Volkes. «Siehe, euer König!» hatte Pilatus gesagt, und wir wissen, es war so. Ihre Antwort aber lautet in blindem Hass: «Wir haben keinen König als nur den Kaiser.» Nie sonst wären sie bereit gewesen, dies anzuerkennen – in ihrem Hass gegen Gott und seinen Gesalbten waren sie damit schnell bei der Hand. Sie «wollten nicht, dass dieser über sie herrsche» (Lk 19,14).

Schon in der Wüste hatte der Herr über dieses Volk geklagt: «Wie lange wollen sie mir nicht glauben bei all den Zeichen, die ich in ihrer Mitte getan habe?» (4. Mo 14,11). – «Vielfältig und auf vielerlei Weise» (Heb 1,1) hatte Gott dann in den Propheten zu diesem Volk geredet, «täglich früh sich aufmachend und sendend» (Jer 7,25), aber «sie wollten nicht hören» (Jes 28,12). Sie «wollten nicht auf seinen Wegen wandeln», Ihm «nicht dienen» (Jer 2,20), «nicht auf den Schall der Posaune merken». «Am Ende dieser Tage» aber, welch eine gewaltige Sprache im Sohn! Doch sie «wollten nicht zu ihm kommen» (Joh 5,40). Der Vater bereitete seinen Söhnen ein Mahl, aber der «älteste Sohn», ein Bild von Israel, «wollte nicht hineingehen» (Lk 15,28). Sie «hielten fest am Trug, sie weigerten sich umzukehren» (Jer 8,5). «Das war dein Weg von deiner Jugend an» (Jer 22,21); das war die «immerwährende Abkehr» dieses widerspenstigen Volkes! Wie ergreifend sind in diesem Zusammenhang die Worte des Herrn: «Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt die, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!» (Mt 23,37). – Er hatte gewollt und sie nicht! Und wenn sie in ihrer Widerspenstigkeit «ihre Angesichter härter gemacht haben als Fels» (Jer 5,3), so machte Er in seiner Liebe «sein Angesicht wie einen Kieselstein» (Jes 50,7), um zunächst Einzelne aus diesem Volk und später, in der Zukunft, «ganz Israel» zu retten (Röm 11,26).

Hoch ragt darum zwischen beiden, zwischen Pilatus und dem Volk, wie auf einsamer Höhe die Person des Herrn empor, des einzig Schuldlosen in dieser Gerichtsverhandlung. Keinen Augenblick hat Er sich den Menschen gebeugt – umso mehr aber Gott, und vom Weg des völlig Gott Ergebenen stieg allezeit der «duftende Wohlgeruch» (Eph 5,2) zu Gott auf, mochte dieser Weg auch in den Tod, ja, in den Tod am Kreuz führen.

  • 1Die Geschichte schildert den Kaiser Tiberius als einen masslos grausamen Herrscher, der häufig die, die seine Gunst verscherzt hatten, in tierischem Blutrausch vor seinen Augen umbringen liess.
  • 2Man nimmt an, dass Johannes wie wir die römische Zeitrechnung ab Mitternacht verwendet. Demnach entspricht das «es war um die sechste Stunde» ungefähr unserem sechs Uhr Morgens. Die übrigen Evangelisten verwenden die jüdische Zeitrechnung, die die zwölf Tagesstunden von morgens sechs Uhr an zählt. Demnach entspricht z.B. die dritte Stunde in Markus 15,25 neun Uhr vormittags.
  • 3Wie die Geschichte berichtet, ist Pilatus im Jahr 36 n.Chr. beim Kaiser in Ungnade gefallen; sein Leben soll durch Selbstmord oder Hinrichtung geendet haben.