So musste der Christus leiden (9)

Matthäus 27,26-30; Markus 15,15-19; Johannes 19,1-6

«Siehe, der Mensch!»

Während man die Fesseln von den Händen des Mörders und Aufrührers löst, wird Der, den der oberste Richter des Landes soeben noch in feierlicher Handlung den «Gerechten» genannt hatte, den rohen Fäusten der Henkersknechte übergeben, damit sie in der üblichen grausamen Weise mit Ihm umgingen.

«Dann nahm nun Pilatus Jesus und liess ihn geisseln» (Joh 19,1). Die vom Heiligen Geist geführte Feder der Evangelisten sträubt sich, über den unmenschlichen und entwürdigenden Vorgang mehr als die nüchterne Tatsache mitzuteilen. «Pflüger haben auf meinem Rücken gepflügt, haben lang gezogen ihre Furchen» (Ps 129,3).1 Der Umstand, dass der Herr bei der Ankündigung seiner Leiden die Geisselung ausdrücklich erwähnt (Lk 18,33), ist ein Beweis mehr für uns (falls wir einen solchen noch brauchen), dass es sich hier um eine besondere Strafe, um Erniedrigung und zusätzliche Leiden gehandelt hat.

Doch damit nicht genug. Nachdem der Herr draussen auf dem Richtplatz von seinem Volk in erniedrigender Weise zur Schau gestellt worden war, erwarteten Ihn drinnen im Hof neue Schmach und neue Misshandlungen vonseiten der heidnischen Soldaten (Mk 15,16). «Die Soldaten des Statthalters nahmen Jesus mit in das Prätorium und versammelten um ihn die ganze Schar» (Mt 27,27). – Was ist doch der Mensch! Er befindet sich in einem steten Kampf einer gegen den anderen, und oft scheint es, als sei es sein Liebstes, dem anderen wehzutun, als sei er immer nur bedacht, sich Befriedigung und Belustigung auf Kosten des anderen zu verschaffen. «Ihre Werke sind Werke des Unheils», sagt die Schrift, «und Gewalttat ist in ihren Händen. Ihre Füsse laufen zum Bösen und eilen, unschuldiges Blut zu vergiessen; … ihre Pfade machen sie krumm: Wer irgend sie betritt, kennt keinen Frieden» (Jes 59,6 ff.).

Auch der Sohn Gottes erfuhr dies, als Er «die Pfade der Menschen betrat»; denn sie wussten keinen Unterschied zwischen Ihm und ihresgleichen zu machen, über die sie wohl gewohnt waren in solchen Augenblicken in dieser mutwilligen, unbarmherzigen Weise herzufallen. «Sie zogen ihn aus» (wie sie es schon vorher getan hatten) «und legten ihm einen scharlachroten Mantel um» (Mt 27,28.29), und zum königlichen Gewand kommen noch die Krone aus Dornen und das Rohr als Zepter. Dann beugen sie heuchlerisch ihre Knie und huldigen Ihm zum Spott mit den Worten: «Sei gegrüsst, König der Juden!» Auch «schlugen sie ihm ins Angesicht» (Joh 19,3). Die rohen Misshandlungen der Nacht werden wiederholt; den Hohenpriestern und ihren Dienern stehen die heidnischen Soldaten in Nichts nach, ohne sich, wie es scheint, dessen bewusst zu werden, wie niedrig und feige ihr Tun einem Solchen gegenüber war, der nicht nur wehrlos war, sondern auch freiwillig auf jeden Widerstand verzichtete.

Denn: Hob Er nicht abwehrend die Hand? Sprach Er kein machtvolles Wort? War es jetzt nicht an der Zeit, die «mehr als zwölf Legionen Engel» gegen die «ganze Schar» herbeizurufen? Er, der zu Beginn dieses Weges den Beweis geliefert hatte, dass ein kurzes Wort aus seinem Mund genügte, um die Übermacht seiner Feinde zu Boden zu werfen, verzichtete auf dies alles. «Er ertrug», wie jemand gesagt hat, «lieber alles ohne Erleichterung, als dass Er im Gehorsam gegen seinen Vater gefehlt hätte.» «Er erniedrigte sich selbst, indem er gehorsam wurde bis zum Tod» (Phil 2,8). Sein Ausharren hatte «ein vollkommenes Werk» (Jak 1,4); und wie der «Anfänger des Glaubens», so wurde Er auch der «Vollender», «der, die Schande nicht achtend, für die vor ihm liegende Freude das Kreuz erduldete» (Heb 12,2). Nichts Geringeres als das Fluchholz war das Ziel; aber schon auf dem Weg dorthin ging der Herr von einer Erniedrigung zur anderen, ob wir nun an die körperlichen oder an die seelischen Leiden denken mögen.

Wir wissen, für wen Er es tat, und fühlen tief unsere Unfähigkeit, uns in dies alles, so wie Er es empfand, hineinzuversetzen.

Selbst die Seele des heidnischen Machthabers war von der Unschuld seines Gefangenen überzeugt, aber er ist, wie wir sahen, ohne Kraft, um dieser Erkenntnis zu folgen. Er kann sich beim Anblick des in seinem körperlichen Schmerz doch ungebeugten und in seiner Erniedrigung doch hoheitsvollen Herrn eines tieferen Eindrucks nicht erwehren. Er hat bei allem zugesehen, er hat es geschehen lassen; jetzt aber wendet er sich ab und tritt wieder aus dem Haus heraus.

Zeigte sich ihm hier nicht ein neuer Ausweg, würde sich das Volk nun nicht zufrieden geben? – «Und Pilatus ging wieder hinaus und spricht zu ihnen: Siehe, ich führe ihn zu euch heraus, damit ihr wisst, dass ich keinerlei Schuld an ihm finde. Jesus nun ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurgewand tragend» (Joh 19,4.5).

«Ich führe ihn zu euch heraus …» – «Jesus nun ging hinaus …» – Merken wir, wie erhaben die Sprache des inspirierten Wortes ist? – Hätte jemand von uns dies alles freiwillig erduldet? Würde uns die Bitterkeit der eben überstandenen Züchtigung nicht vielmehr zu Boden gedrückt haben? Hätten wir uns nicht mit dem Rest unserer im Schwinden begriffenen Kraft gesträubt, in einer solchen, uns zum Hohn herbeigeführten Verfassung vor die Augen der Menge zu treten? Nicht so der Herr. Er «ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurgewand tragend». Und so stellt Ihn nun Pilatus dem Volk vor, indem er ausruft: «Siehe, der Mensch!» (Joh 19,5).

Wir sind zu einer der ergreifendsten Szenen der Leidensgeschichte unseres Herrn gekommen. «Siehe, der Mensch!» Es war ein Mensch, der dort stand, doch nicht einer wie du und ich.

Ströme von Opferblut hatten die Erde genetzt, seitdem die Sünde sie unter den Fluch gebracht hatte, aber die «Abbilder und Schatten» hatten diesen Fluch nicht beseitigt, hatten am Zustand des von Gott abgefallenen Menschen nicht das mindeste ändern und nicht eine einzige Sünde «wegnehmen» können. «Unmöglich» konnte das «Blut von Stieren und Böcken» (Heb 10,1-4) dies, und der Aufrichtige fühlte es: Die Opfer brachten ihm nur immer wieder das, was er getan und was er vor Gott war, in Erinnerung. Kein Weg führte ihn in das von der «Flamme des kreisenden Schwertes» (1. Mo 3,24) verwahrte und dann von der Erde verschwundene Paradies zurück, keine Brücke überbrückte die tiefe Kluft zwischen Gott und Mensch, keine Möglichkeit war da, die verloren gegangene Verbindung wieder anzuknüpfen. Mit anderen Worten: Der Zustand des Menschen war hoffnungslos, nur von aussen konnte Hilfe kommen.

In diesem Zusammenhang finden wir nun das Wort: «Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun» (Heb 10,7), das ist, um das Werk der vollkommenen, ewigen Erlösung zu vollbringen. So wurde Er «in allem den Brüdern gleich» und hat «an Blut und Fleisch teilgenommen» (Heb 2,10 ff.); so «machte er sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist» (Phil 2,7), ja, «in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde» (Röm 8,3)!

  • O Lebenswort! Wer dankt genug,
    dass du als Mensch gekommen
    und nach der Liebe tiefstem Zug
    das Knechtsbild angenommen!

Doch es gab noch eine zweite Erniedrigung, in die Er hinabstieg, nachdem Er auf diese Erde gekommen war: Ich meine, seine Erniedrigung bis in den Tod.

Denn welchen Empfang wurde Ihm unter denen bereitet, zu deren Rettung Er kam? Wir wissen es, denn wir sind seinem Weg im Einzelnen bis hierhin gefolgt, als wir Ihn vor uns sahen als Den, der sein Inneres mit den ergreifenden Worten vor Gott ausschüttete: «Du kennst meinen Hohn und meine Schmach und meine Schande; vor dir sind alle meine Bedränger. Der Hohn hat mein Herz gebrochen, und ich bin ganz elend» (Ps 69,20.21).

«Siehe, der Mensch!» – Von diesem Menschen hiess es im Blick auf die Völker der Erde: «Mit eisernem Zepter wirst du sie zerschmettern, wie ein Töpfergefäss sie zerschmeissen» (Ps 2,9). Doch was hielt Er hier in seiner Hand? Ein schwankendes Rohr – nicht einmal geeignet, um sich darauf zu stützen –, um Ihn auf das Haupt zu schlagen (Hes 29,6.7).

Wenn Er am Ende der Drangsal zum zweiten Mal auf diese Erde kommen wird, wird Er «sich bekleiden mit Hoheit» und «sich umgürten mit Stärke» (Ps 93,1), mit «Majestät und Pracht», und auf seinem Gewand trägt Er einen Namen geschrieben: «König der Könige und Herr der Herren» (Off 19,16). Aber was war jetzt sein Kleid? Der beschmutzte Mantel eines Soldaten stellte zum Hohn den Purpur dar, die wahre Herrlichkeit des Königs Israels blieb hinter unsäglichen Leiden verborgen.2 Wenn die Welt Ihn wieder sehen wird, dann werden auf seinem Haupt «viele Diademe» (Off 19,12) sein, ja, «eine Krone aus gediegenem Gold» (Ps 21,4). Hier aber bestand seine Krone, wie wir wissen, aus dem Material, das der sichtbare Beweis des über die Erde gekommenen Fluches ist (1. Mo 3,17.18), und wir werden an das Wort erinnert: «Er ist ein Fluch für uns geworden» (Gal 3,13). – Einst wird aus seinem Mund «ein scharfes, zweischneidiges Schwert» (Off 19,15) hervorgehen, hier aber blieb Er stumm; einst wird sein Angesicht sein, «wie die Sonne leuchtet in ihrer Kraft» (Off 1,16), hier aber musste sein Anblick bei jedem, in dem noch nicht alles Gefühl erstorben war, Scham und Entsetzen hervorrufen: «So entstellt war sein Aussehen, mehr als irgendeines Mannes, und seine Gestalt, mehr als der Menschenkinder» (Jes 52,14). Ja, siehe, der Mensch: «Ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, und wie einer, vor dem man das Angesicht verbirgt; er war verachtet … für nichts geachtet!» (Jes 53,3).

  • O Haupt voll Blut und Wunden,
    voll Schmerz und voller Hohn!
    O Haupt, zum Spott umbunden,
    mit einer Dornenkron!
  • Was hast du, Herr, verschuldet,
    was legt man dir zur Last,
    dass du das Kreuz erduldet,
    den Tod erlitten hast?

Welche Antwort erhält Pilatus? «Als ihn nun die Hohenpriester und die Diener sahen, schrien sie und sagten: Kreuzige, kreuzige ihn!» (Joh 19,6). Wieder sind es die Führer Israels und ihre Komplizen, die jede im Volk aufkommende Regung unterdrücken. Der Herr aber empfand dies alles mit vollkommener Empfindung. Hier erfüllte sich besonders das schon wiederholt angeführte Psalmwort: «Ich habe auf Mitleid gewartet, und da war keins, und auf Tröster, und ich habe keine gefunden.» (Ps 69,21).

  • 1An den Riemen der Geissel befanden sich Bleistücke oder sogar starke Widerhaken. Oft war die Folge der Geisselung Ohnmacht und Tod. – Man sagt uns, dass sie, in Verbindung mit der Kreuzigung, nur bei besonders schweren Verbrechen angewandt wurde.
  • 2In Matthäus 27,28 lesen wir, genau übersetzt, von einem scharlachroten (Soldaten-)Mantel. In Markus und Johannes heisst es «Purpur». Scharlach ist die Farbe des Blutes, Purpur das Zeichen königlicher Würde.