Pontius Pilatus
«Sie führen nun Jesus von Kajaphas in das Prätorium; es war aber frühmorgens» (Joh 18,28a). Den Hohenpriester und das Synedrium, den Statthalter, den Fürsten Herodes, alle finden wir früh auf dem Plan, ein Beweis für uns, welche Triebkraft der Hass gegen Gott ist und welch ungeheure Erregung sich in jenen Tagen Jerusalems bemächtigt hatte. Schnell eilt alles dem furchtbaren Ende zu. Der Schauplatz wechselt: Wir folgen dem Herrn aus dem Synedrium zum Palast des römischen Statthalters, dem «Prätorium».
«Und sie gingen nicht hinein in das Prätorium, um sich nicht zu verunreinigen, sondern das Passah essen zu können» (Joh 18,28b). Wieder sehen wir sie auf das «Äussere des Bechers» bedacht, aber «ihr Inneres war voller Raub und Bosheit» (Lk 11,39). Was sagt Gott dazu? «Ich hasse, ich verschmähe eure Feste» (Amos 5,21). «Eure Neumonde und eure Festzeiten hasst meine Seele; sie sind mir zur Last geworden, ich bin des Tragens müde» (Jes 1,14).
Da lässt sich der Statthalter klug zu ihnen herab: «Pilatus ging nun zu ihnen hinaus und sprach: Welche Anklage bringt ihr gegen diesen Menschen vor? Sie antworteten und sprachen zu ihm: Wenn dieser nicht ein Übeltäter wäre, hätten wir ihn dir nicht überliefert» (Joh 18,29.30). Welch eine Antwort!
Aber warum richteten sie Ihn denn nicht nach ihrem Gesetz? Der Hass überwiegt den nationalen Stolz: «Es ist uns nicht erlaubt, jemand zu töten» (Joh 18,31). Denn nicht die Steinigung, nach ihrem Gesetz (3. Mo 24,16), sondern das Fluchholz, das Kreuz, war «der Ausgang, den er in Jerusalem erfüllen sollte» (Lk 9,31), «damit das Wort Jesu erfüllt würde, das er sprach, andeutend, welchen Tod er sterben sollte» (Joh 18,32; 12,32.33).1 Alles dient der Erfüllung der Schrift (Joh 3,14; 8,28), selbst das menschlich kluge, aber unwürdige Spiel; denn während der Statthalter Ausflüchte sucht, sind sie zu allem bereit, wenn es gilt, ihr verwerfliches Ziel zu erreichen.
So sind denn auch ihre Anklagen hier anderer Art als vor dem Synedrium; bei Lukas finden wir darüber Genaueres berichtet: «Diesen haben wir befunden als einen, der unsere Nation verführt» – wie hätte dem Herrn je an einem solchen Ziel gelegen! – «und wehrt, dem Kaiser Steuer zu geben» (Lk 23,2). – Wir wissen aus dem Mund des Herrn, dass genau das Gegenteil der Fall war (Lk 20,22-25). «Er wiegelt das Volk auf», sagen sie nachher, «indem er durch ganz Judäa hin lehrt, angefangen von Galiläa bis hierher» (Lk 23,5). Falsch waren die Zeugnisse vorher, falsch die Anklagen hier. Und wie alles, so ist auch dies wohl überlegt: Religiöse Anklagen hatten sie bereit, wenn es sich um den religiösen Gerichtshof handelte, politische Anklagen, wenn es um den politischen ging.
Doch wir sehen auch hier, dass nicht ihre falschen Zeugnisse und Anklagen, sondern das Zeugnis der Wahrheit aus dem Mund des Herrn allein seine Verurteilung herbeiführt. Denn sie fügen noch ein Drittes hinzu, das Einzige, woran Pilatus gleich darauf anknüpft: «Er sagt, dass er selbst Christus, ein König, sei. Pilatus aber fragte ihn und sprach: Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm und sprach: Du sagst es» (Lk 23,2.3). Dass einer aus diesem unterjochten Volk sich zum König aufwarf, das durfte der Statthalter als berufener Vertreter der römischen Weltmacht nicht dulden. Aber hatte der Herr sich vor den Hohenpriestern als Sohn Gottes bekannt, so scheute Er auch jetzt nicht davor zurück, sich dem obersten römischen Gerichtsherrn als König Israels zu stellen.
Es wäre für den Herrn ein Leichtes gewesen, alle solchen Befürchtungen durch den Hinweis auf seinen hinter Ihm liegenden Weg zu zerstreuen. Hatte Er nicht zu diesem Volk gesagt: «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist» (Lk 20,25)? Hat Er sich nicht, als sie Ihn zum König machen wollten, «auf den Berg zurückgezogen, er allein»? (Joh 6,15). Nein, zwischen Rom und dem Herrn Jesus bestand kein strittiger Gegensatz, wohl aber zwischen Ihm und Israel; und diesem Volk gegenüber konnte es für Ihn kein Nachgeben, keinen Verzicht auf seine gottgemässen Ansprüche geben. So blieb Er dabei, indem Er der Wahrheit Zeugnis gab: Dies war das «gute Bekenntnis», das Er in der Stunde, als alles auf des Messers Schneide stand, «vor Pontius Pilatus bezeugt hat» (1. Tim 6,13).
«Und die Hohenpriester klagten ihn vieler Dinge an» (Mk 15,3). Zu dem, was Wahrheit ist, bekennt sich der Herr; aber den vielen törichten und falschen Anklagen gegenüber kommt wiederum kein Wort der Verteidigung aus seinem Mund. «Was bringen diese gegen dich vor?» (Mt 26,62). hatte der Hohepriester gefragt. «Hörst du nicht, wie vieles sie gegen dich vorbringen?» (Mt 27,13.14). fragt Pilatus. «Und er antwortete ihm auch nicht auf ein einziges Wort, so dass der Statthalter sich sehr verwunderte.»
Gefühle kamen im Herzen dieses Mannes auf, die ihm, dem ungerechten und grausamen Regenten, seit langer Zeit nicht gekommen sein mögen. Manchen jüdischen Aufruhr hatte Pilatus schon erlebt und mit roher Hand niedergeschlagen. So hatte er, wie wir lesen, das Blut einiger Galiläer «mit ihren Schlachtopfern vermischt» (Lk 13,1) und sich nicht gescheut, «die verborgene Stätte des Herrn zu entweihen», indem «Gewalttätige in sie eindrangen» (Hes 7,22). Was aber sollte dies bedeuten, als sich die Juden selbst zum Ankläger gegen einen Menschen aufspielten, gegen Den, wie Pilatus hier öffentlich vor «den Hohenpriestern und den Volksmengen» (Lk 23,4) bezeugt, in Wirklichkeit gar nichts vorlag? Wer war dieser Schweigsame, dieser geringe und doch so hoheitsvolle Mann, wie seinesgleichen noch nie vor seinem Richterstuhl gestanden hatten? Er hatte sich einen König genannt. «Bist du der König der Juden?» Staunen und Verlegenheit zugleich erfüllten die Seele des sonst so stolzen Römers.
Im Evangelium Johannes wird uns das bemerkenswerte Zwiegespräch zwischen dem Sohn Gottes und diesem Mann ausführlicher berichtet. Denn da die Juden das Prätorium nicht betraten, geht Pilatus – merkwürdig genug – zwischen den Anklägern und dem Angeklagten hin und her, und steht so im Hof des Prätoriums dem König der Juden, dem Herrn der Herrlichkeit, persönlich gegenüber (Joh 18,33). Welch ein denkwürdiger, entscheidungsvoller Augenblick für ihn! Hier öffnen sich darum die Lippen des allezeit liebenden Herrn, um, wenn möglich, auch diesen Heiden in das Licht seiner Wahrheit zu stellen. Hier antwortet der Herr zunächst dem Pilatus auf seine Frage: «Sagst du dies von dir selbst aus, oder haben dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich etwa ein Jude? Deine Nation und die Hohenpriester haben dich mir überliefert» (Joh 18,34.35).
Doch warum stand Er noch hier? Was hatte Er getan? Pilatus sucht Licht in das Dunkel zu bringen und stellt selbst diese Frage. «Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt; wenn mein Reich von dieser Welt wäre, hätten meine Diener gekämpft, damit ich den Juden nicht überliefert würde; jetzt aber ist mein Reich nicht von hier» (Joh 18,36). – «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» – das war alles, was Er «getan hatte», das war der tiefste Grund des Hasses gegen Ihn! Denn heute wie damals möchte der Mensch wohl Gott zu sich herabziehen, aber nicht sich zu Gott hinaufziehen lassen, wünscht er wohl Segnungen von Gott, ist aber nicht bereit, sich als dafür unwürdig zu erkennen und sich auf den Platz des verlorenen Sünders zu stellen. Er verlangt von Gott, dass Er seine Verheissungen erfüllt, will selbst aber Gottes Urteil über den Menschen nicht annehmen, geschweige denn mit der Sünde brechen. Da es jedoch mit den durch und durch sündigen Menschen keine Gemeinschaft mit Gott gibt, hatte das verheissene Reich eine Gestalt annehmen müssen, die «nicht von dieser Welt» war; anders hätte «die Welt das Ihre lieb gehabt» (Joh 15,19) und den König dieses Reiches nicht verworfen.
Doch wie der Herr mit diesem Wort wieder und wieder das Urteil über jene fällt, die Ihn aus Hass gegen die Wahrheit und Liebe zur Welt verworfen haben, so öffnet Er zugleich diesem vor Ihm stehenden Heiden den Weg zur Erkenntnis der in Ihm erschienenen Gnade. «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» – das war das Geheimnis seiner Person; und der Umstand, dass seine Diener nicht für Ihn gekämpft, dass Er ihnen sogar das Kämpfen verwehrt hatte, – mit anderen Worten, dass Er willig und ergeben hier vor dem Statthalter stand, das war der eindrucksvollste Beweis seiner ausserordentlichen, überirdischen Sendung. Hätte Pilatus Bedürfnisse gehabt, die nur ein wenig über diese Welt und ihre Ansprüche hinausgingen, hier wäre eine Gelegenheit gewesen – Gott gab sie ihm –, diese Bedürfnisse an der Quelle selbst zu stillen.
Für einen Augenblick scheint es so, als habe Pilatus das erkannt; denn er weist dies nicht leichthin ab. Noch verwunderter als seine erste Frage klingt seine zweite: «Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, dass ich ein König bin» (Joh 18,37). Und sogleich fährt der Herr in seiner wunderbaren Gnade fort, dem aufhorchenden Mann dort vor Ihm noch deutlicher das Geheimnis seiner Person zu enthüllen. Er spricht zu ihm von seiner Geburt, von seinem Kommen in diese Welt und vom Zweck dieses Kommens: «Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, damit ich der Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.»
Feierliches und erhabenes Wort! Hier schauen wir Den, durch den «die Gnade und die Wahrheit geworden ist» (Joh 1,17), die vollkommene Offenbarung des Vaters! Diese Gnade ist für jeden da; die wegen ihrer Sünde vereinsamte samaritische Frau ist ihr ebenso recht wie der rechtschaffene Oberste der Juden; der einfache Fischer ebenso wie der höchste römische Beamte. Sie ist für jeden da, aber – beachten wir es wohl – sie ist es niemals auf Kosten der Wahrheit. Und «jeder, der aus der Wahrheit ist, hört seine Stimme».
Einige wenige hatten sie gehört, wie Nathanael, jener «Israelit, in dem kein Trug» (Joh 1,47) war. Aber weil die Masse dieses Volkes nicht aus der Wahrheit war, sondern «aus dem Vater der Lüge», dem Teufel, «fand sein Wort nicht Raum in ihnen» und «verstanden sie seine Sprache nicht» (Joh 8,37-47).
Verstand Pilatus sie? Erwies er sich als einer, der «aus der Wahrheit» war, griff er mit beiden Händen zu? Nein, er wandte sich mit der ausweichenden Frage ab, die seitdem seinen Namen trägt, mit der «Pilatus-Frage»: «Was ist Wahrheit?» (Joh 18,38). Sie machte seinen Herzenszustand offenbar, und seinem Herzenszustand entsprach auch sein Verhalten. «Als er dies gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus» – die einzigartige, für ihn nie wiederkehrende Gelegenheit blieb ungenutzt, er hatte Augen und Herz der Gnade, die in der Person des Reinen und Schuldlosen vor ihm stand, verschlossen.
Haben wir als Gläubige im Blick auf unseren weiteren Weg nicht auch schon zweifelnd die «Pilatus-Frage» gestellt: Was ist Wahrheit? Aber auch für uns gilt das Wort: «Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme» (Joh 18,37). «Meine Schafe hören meine Stimme … und sie folgen mir»; sie «kennen die Stimme des Hirten», während sie «die Stimme der Fremden nicht kennen» (Joh 10,3-5.27). «Wenn ihr in meinem Wort bleibt», sagt der Herr zu solchen, die Ihm geglaubt hatten, «seid ihr wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen» (Joh 8,31.32). Darum ist auch der «Geist der Wahrheit» gekommen, um uns, – durch das von Ihm vollendete Wort – «in die ganze Wahrheit zu leiten» (Joh 16,13). Nur so werden wir in einer Zeit der grenzenlosen Verwirrung auf christlichem Gebiet imstande sein, mit glücklichem Herzen und zu seiner Verherrlichung unseren Weg zu gehen.
- 1Die Kreuzigung war die bei den Römern übliche entehrendste Art der Hinrichtung.