So musste der Christus leiden (17)

Johannes 19,30

«Es ist vollbracht!»

In dem Werk, das der Herr am Kreuz vollbrachte, gibt es noch eine andere Seite, die alle, die sich damit beschäftigt haben, mit tiefster Bewunderung erfüllt hat. Wir meinen das, was der Dichter mit den Worten ausdrückt:

  • Von finstern Mächten ganz umgeben,
    bliebst Du doch völlig Gott geweiht;
    gabst willig hin dein teures Leben
    zu Gottes Ehr und Herrlichkeit.

«An Schlacht- und Speisopfern hattest du keine Lust; Ohren hast du mir bereitet: Brand- und Sündopfer hast du nicht gefordert. Da sprach ich: Siehe, ich komme … Dein Wohlgefallen zu tun, mein Gott, ist meine Lust; und dein Gesetz ist im Innern meines Herzens» (Ps 40,7-9). So sprach der Herr durch den Mund des Psalmisten. In dieser Gesinnung hatte der zweite Mensch, der Mensch vom Himmel, den Schauplatz betreten, auf dem sich der erste Mensch, der von der Erde, von Staub, als unfähig erwiesen hatte, auch nur ein einziges Gebot Gottes zu erfüllen. In dieser Gesinnung hat Er, «obwohl er Sohn war, an dem, was er litt, den Gehorsam gelernt» (Heb 5,8) und, «als sich die Tage seiner Aufnahme erfüllten» und Er nach Jerusalem hinaufzog, «sein Angesicht festgestellt» (Lk 9,51), um dort «durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott zu opfern!» (Heb 9,14). – Wie Er in seinem Leben das wahrhaftige Speisopfer war, wie Er dann in den drei Stunden der Finsternis das vollkommene Sünd- und Schuldopfer wurde, so gab Er sich anderseits in seinem Tod an unserer statt auch «als Darbringung und Schlachtopfer hin, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch» (Eph 5,2).

Auf Golgatha gab Er sich ganz, dort liess Er alles mit sich geschehen, was nötig war, dort machte Er «sein Angesicht wie einen Kieselstein», im tiefen Bewusstsein, dass Er «nicht würde beschämt werden» (Jes 50,7). Welch ein «Feueropfer lieblichen Geruchs» (3. Mo 1,9) für Gott, welch ein einzigartiges, vollkommenes Brandopfer!

Es ist das Johannes-Evangelium, das uns den Herrn hauptsächlich als das Brandopfer darstellt. Wir verstehen gut, dass, soweit diese Seite des Werks auf Golgatha in Betracht kam, das Auge des Vaters in ungetrübtem, durch nichts unterbrochenem Wohlgefallen auf seinem eingeborenen Sohn ruhte. Hier finden wir die drei Stunden der Finsternis und des Verlassenseins von Gott nicht; hier heisst es: «Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir» (Joh 16,32). – «Und der mich gesandt hat, ist mit mir; er hat mich nicht allein gelassen, weil ich allezeit das ihm Wohlgefällige tue» (Joh 8,29).

«Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war, spricht er – damit die Schrift erfüllt würde –: Mich dürstet!» (Joh 19,28-30). – Ohne jedes Verständnis begegnen die «Dabeistehenden» den Leiden des am Kreuz Hängenden auch jetzt noch mit höhnendem Spott, und seinem Durst mit jenem Trank, den man den so qualvoll gerichteten Übeltätern zu geben pflegte (Mt 27,48-53; Mk 15,36-38; Lk 23,45.46). Denn ich zweifle nicht, dass wir seinen Ruf «mich dürstet!» zunächst in buchstäblichem Sinn aufzufassen haben. Aber – wie wunderbar! – er kam erst dann von seinen Lippen, als Er «wusste, dass alles schon vollbracht war»!

Doch, wenn Er in den körperlichen Qualen Durst empfand, um wie viel mehr mag seine heilige Seele gedürstet haben! Vom Hass und der Feindschaft des Menschen verfolgt, erduldete Er das Kreuz – wie mochte Er jetzt, als dieser Hohn sich noch einmal über Ihn ergoss und als das Werk vollbracht war, voller Sehnsucht nach der «vor ihm liegenden Freude» (Heb 12,2) ausschauen! Seine Seele «hatte das Schuldopfer gestellt» – wie verlangte Ihn nun, die Frucht dieser Mühsal zu «sehen und sich zu sättigen» (Jes 53,10.11)! – Welch eine Liebe, die sich sterbend nach dir und mir gesehnt hat!

Doch es gilt, wie wir es beim Anschauen der Leiden des Herrn immer wieder getan haben, auch hier wieder wegzuschauen von dem, was für uns dabei hervorkam. Das, was Er dort litt, war vor allem eine Sache zwischen Ihm und Gott, und wie mag Ihm nun, als die Tiefen seiner Leiden erreicht waren, danach «gedürstet» haben, «aus dieser Welt zu dem Vater hinzugehen» (Joh 13,1)! – «Ich habe dich verherrlicht auf der Erde … und nun verherrliche du, Vater, mich bei dir selbst mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war» (Joh 17,4.5). So hatte der Herr, im Geist hinter dem Kreuz stehend, zuvor ausgerufen. Und, sich zu den Seinen wendend, erwartete Er, dass sie seine Gefühle verstehen möchten: «Wenn ihr mich liebtet, würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe» (Joh 14,28). Wer von uns könnte sich nicht ein wenig in dieses Dürsten unseres Herrn versetzen! «Gott, du bist mein Gott! … Es dürstet nach dir meine Seele, nach dir schmachtet mein Fleisch in einem dürren und lechzenden Land ohne Wasser – so wie ich dich angeschaut habe im Heiligtum –, um deine Macht und deine Herrlichkeit zu sehen» (Ps 63,2.3). – «Wie ein Hirsch lechzt nach Wasserbächen, so lechzt meine Seele nach dir, o Gott! Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott: Wann werde ich kommen und erscheinen vor Gottes Angesicht?» (Ps 42,2.3). – Diesen Durst freilich konnte der «um einen Ysop gelegte», bzw. um einen Rohrstab gelegte «mit Essig gefüllte Schwamm» (Joh 19,29; Mt 27,48) – weil dies so erniedrigend für Ihn war – eher vermehren als stillen.

Doch wir würden irren, wenn wir meinten, dass wir die letzten Tiefen dieses fünften Wortes am Kreuz, des kürzesten von allen, hiermit erschöpft hätten. Wieder ist es nur das Johannes-Evangelium, das uns dieses Wort berichtet. Hier sehen wir, wie gesagt, den Herrn erhaben über Leiden und Tod. Hier ist es, wie wir zu Anfang dieses Abschnittes sahen, die Herrlichkeit des «Eingeborenen vom Vater», die, wie die Sonne aus den Wolken, aus dem Dunkel der Feindschaft und des Verderbens des abgefallenen Menschen hervorbricht; die Herrlichkeit Dessen, der gesagt hatte: «Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennt … Meine Speise ist, dass ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe» (Joh 4,32.34). Darum ruft der Herr, als Er weiss, dass alles schon vollbracht ist, das Wort aus, von dem wir reden, «damit die Schrift erfüllt würde»! Am Ende des Ihm übertragenen Werkes wirft Er sozusagen einen prüfenden Blick zurück und findet, dass, in Bezug auf das Kreuz, das prophetische Wort nur in einem kleinen Stück noch der Erfüllung harrte, das Wort, von dem «nicht ein Jota», nicht «ein Strichlein» (Mt 5,18) wegfallen sollte! «Sie gaben in meine Speise Galle» (Mt 27,34) – das war bald nach der Kreuzigung erfüllt; aber es hatte noch dies gefehlt: «Und in meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken» (Ps 69,22).

«Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist» (Joh 19,30). Nun war alles erfüllt, das Werk war vollbracht, das «ihm der Vater gegeben hatte, dass er es tun sollte» (Joh 17,4.5) – und was konnte Ihn nun noch auf dieser Erde halten? Doch bevor Er «den Geist übergibt», verkündet Er in einer Botschaft, wie sie wirkungsvoller nicht gedacht werden kann, allen, die es hören wollen, dass sein Werk «vollbracht» sei, oder, wie wir genauer übersetzen können: «vollendet».

«Es ist vollbracht!» – Der Wille Gottes, sein Liebesratschluss von Ewigkeit her, war erfüllt, das grosse Werk der Verherrlichung Gottes und der Erlösung des Sünders war zu seinem gesegneten Abschluss gekommen! Es ist das erste Mal, seitdem Gott vom Werk der Schöpfung gesagt hatte, dass «alles sehr gut» war, dass wir von einem «vollendeten», vollkommenen Werk hören. Denn von der Stunde an, als Gott, der Herr, den Menschen in den Garten Eden gesetzt hatte, wirkte der Mensch, und sein Wirken führte notwendigerweise in den Abgrund.

Doch, kam das Gesetz nicht von Gott, war es nicht «heilig und gerecht und gut» (Röm 7,12)? Ganz gewiss! Aber auch unter dem Gesetz war der Mensch tätig, musste der Mensch tätig sein, denn es sollte ihn auf die Probe stellen. So hat es «nichts zur Vollendung gebracht» (Heb 7,19), ja selbst seine «Gaben und Schlachtopfer» konnten die Gewissen derer, die sie darbrachten, «nicht vollkommen machen» (Heb 9,9). Auf diesem Boden steht auch heute noch der religiöse Mensch in der Welt; all sein Streben geht darauf aus, selber tätig zu sein und sich selbst zu erlösen. Nutzloses Bemühen des Fleisches, weil es nichts zur Vollkommenheit bringt – frevelhaft dazu, weil es meint, dass der Mensch den gerechten und heiligen Gott mit Unvollkommenem, ja, in seinen Sünden nahen kann!

Wirklich ein trostloser Dienst, dieser Dienst unter dem Gesetz, bei dem «jeder Priester täglich dastand, den Dienst verrichtend und oft dieselben Schlachtopfer darbringend, die niemals Sünden wegnehmen können» (Heb 10,11-14)! Welch ein Gegensatz, wenn der Heilige Geist nun fortfährt: «Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht hat, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes … Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden.»

Hast du dich, lieber Leser, inmitten so vieler Unvollkommenheiten nicht schon manches Mal nach Vollkommenheit gesehnt? Vergeblich suchen wir es in uns, suchen wir es in der Welt – Vollkommenheit ist nur hier, auf dem Kreuz von Golgatha, zu finden. Hier ist ein Werk, das vollkommen ist und vollkommen macht, ein Werk, das «ein für alle Mal geschah» (Heb 10,10), das darum nie wiederholt zu werden braucht, dem weder etwas hinzugefügt werden muss noch kann; ein Werk, über dem das persönliche Zeugnis des Herrn steht, dass es «vollendet», «vollbracht» sei!

Triumphierend hallte dieser Ruf durch die lautlose Stille über dem Schauplatz des grössten Kampfes hin, den Himmel und Erde je gesehen haben. Und wir wissen, dass nun auch Gott, der bis dahin schweigend zugesehen hat, von der Vollkommenheit dieses Werkes Zeugnis gab: in dem zerrissenen Vorhang, dem geöffneten Zugang zu Ihm hin – in den geöffneten Gräbern (Mt 27,51-53) und in dem Zeugnis des Blutes und Wassers aus der geöffneten Seite des Heilands (Joh 19,31 ff.).

  • «Es ist vollbracht!» Was Gottes Liebe wollte,
    was für den Sünder, den betrübten, sollte
    zur Rettung und zum ewgen Heile sein,
    das ist vollbracht, das ist vollbracht.

«Und Jesus rief mit lauter Stimme und sprach: Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist! Als er aber dies gesagt hatte, verschied er» (Lk 23,46). Auf das Zeugnis: «Es ist vollbracht», das letzte Zeugnis von Ihm im Gewand der Niedrigkeit, folgt unmittelbar – denn anders werden wir es uns kaum vorzustellen haben – sein letztes Wort: der «laute Schrei», mit dem Er «den Geist aufgab» und «verschied» (Mk 15,37; Mt 27,50), – wie wir dort lesen, wo wir den Menschen Christus Jesus vor uns haben. Es ist nicht mehr ein Schrei tiefster Seelennot im Getrenntsein von Gott und nicht mehr der Ausdruck des Sehnens nach Befreiung von dieser Qual wie zuvor – in vollkommenem Vertrauen und tiefem Frieden tut Er den letzten Schritt, der Ihn nicht, wie den Sünder, für ewig von Gott trennen, sondern (zunächst dem Geist nach) zu seinem Gott und Vater zurückführen sollte. Hätte Gott Den, der Ihn vollkommen verherrlicht, der «für alles den Tod geschmeckt» (Heb 2,9) hatte, zurückweisen können? Er konnte es ebenso wenig, wie Er «zugeben» konnte, dass «sein Frommer die Verwesung sehe» (Ps 16,10).

Nicht an den Folgen der Kreuzigung, d.h. nicht an einer natürlichen Todesursache, ist der Herr gestorben. Nein, Er verschied mit einem «lauten Schrei», und mit einem solchen ist kein Gekreuzigter vor Ihm und nach Ihm verschieden. Pilatus «wunderte sich, dass er schon tot sei» (Mk 15,44) – und wir haben auch für diesen eigenartigen, einzigartigen Tod einen glaubwürdigen Zeugen: Es ist der Hauptmann unter dem Kreuz, «der ihm gegenüber dabeistand», dessen Auge und Ohr keine Einzelheit des denkwürdigen Geschehens da vor ihm entgehen konnte. Als dieser Heide, der dort seinen Dienst tat, «sah, dass er so schrie und verschied, sprach er: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!» (Mk 15,39).

Welch ein Ereignis doch, auf das unser Blick am Schluss unserer Betrachtung fällt! Welch eine letzte, überwältigende Offenbarung des grossen Geheimnisses: «Gott, offenbart im Fleisch» (1. Tim 3,16)! Neben tiefster Erniedrigung sehen wir hier die ganze erhabene Hoheit dessen, der dort am Kreuz hing; Er «liess sein Leben für die Schafe», aber «niemand nahm es von ihm»: «Ich lasse es von mir selbst.» – «Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen» (Joh 10,15.18). – Erhobenen Hauptes hatte Er das Werk vollbracht, und dann erst «neigte» Er es und «übergab1 den Geist» (Joh 19,30), «indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja zum Tod am Kreuz» (Phil 2,8). – Der Hauptmann unter dem Kreuz ist nicht der Einzige geblieben, den ein solcher Tod mit hoher Bewunderung erfüllt hat!

So wurde der Herr «weggenommen aus der Angst und aus dem Gericht» (Jes 53,8), so verliess Er, «der Erstling der Entschlafenen» (1. Kor 15,20), diese Erde wieder, um in einer anderen Welt in ein Leben einzutreten, das mit der grossen Frage der Sünde nichts mehr zu tun hat (Röm 6,10). Er hatte «den Ausgang erfüllt», den Er «zu Jerusalem erfüllen sollte».

  • 1d.h. in einer der Kraft seines persönlichen Willens entsprungenen Handlung. Das griechische Wort für «über­ge­ben» ist nicht das gleiche wie in Lukas 23,46, wohl aber wie in Epheser 5,2; es wird nirgends sonst für das Sterben eines Menschen gebraucht, so dass seine Anwendung hier einzig dasteht.