Eine liebliche Szene unter den Terebinthen Mamres
Fast fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, seit Abraham aus Haran auszog, und immer noch hält er im Land der Verheissung seinen Fremdlingscharakter aufrecht. Kurz nachdem Lot sich von ihm getrennt hatte, war er hierher gezogen (1. Mo 13,18). Noch immer wohnt er in Zelten, und die Bäume, in deren Schatten sie stehen, gehören nicht ihm, sondern einem seiner Bundesgenossen (1. Mo 14,24). Während Lot im Tor Sodoms wohnt und durch das, was er in dieser sündigen Stadt sieht und hört, Tag für Tag seine gerechte Seele quält, lebt Abraham hier völlig getrennt von der Welt; «denn er erwartet die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist».
Glücklicher Mann, der in einfältigem Glauben und Gehorsam mit Ausharren nach den Grundsätzen lebt, die ihn Gott gelehrt hat!
Eines Tages – Abraham sitzt am Eingang des Zeltes; denn es ist die heisseste Stunde, in der jeder Schatten sucht – sieht er plötzlich in der Nähe drei Männer «vor ihm» stehen, die sich ihm zuwenden.
Er erkennt sie nicht, und sie stellen sich ihm nicht vor. Für ihn sind es drei Reisende, die vom Wandern in der Sonnenglut erschöpft, durstig und hungrig sein müssen. In Sodom werden die Fremden schutzlos sein, hier aber finden sie nicht nur orientalische Gastfreundschaft, sondern Aufnahme und Herberge bei einem Mann, den es treibt, andern Güte zu erweisen, da er selbst ein Gegenstand der Güte Gottes ist. Er wird dadurch einer von denen, die ohne ihr Wissen Engel beherbergt haben (Heb 13,2).
Er verlässt seinen Schattenplatz, läuft den drei Männern entgegen und bietet ihnen von Herzen seine Gastfreundschaft an. Zuerst redet er mit dem einen, den die andern zwei offenbar als ihren Führer betrachten; dann aber spricht er auch mit allen dreien. Sie antworten: «Tu so, wie du geredet hast.»
Mit welchem Eifer macht er sich nun an seine Aufgabe: «Da eilte Abraham ins Zelt zu Sara und sprach: Nimm schnell drei Mass Feinmehl, knete und mache Kuchen! Und Abraham lief zu den Rindern und nahm ein Kalb, zart und gut, und gab es dem Knaben; und der beeilte sich, es zuzubereiten. Und er holte dicke und süsse Milch und das Kalb, das er zubereitet hatte, und setzte es ihnen vor.» Schliesslich stand er, während sie assen, vor ihnen unter dem Baum, um sie zu bedienen.
Wie wird der HERR, dessen Anwesenheit Abraham allem Anschein nach noch nicht erkannt hat, mit Wohlgefallen die Entfaltung des durch Ihn selbst gewirkten Guten im Leben des Patriarchen betrachtet haben!
Was in dieser Szene aber ganz besonders zu unseren Herzen redet, ist die Tatsache, dass Gott der HERR Abraham, seinem Knecht, so viel Zeit widmet. Wenn Er für diesen Besuch auch in der Gestalt eines Mannes erschienen ist, so hat Er doch keine menschlichen Bedürfnisse. Gleichwohl setzt Er sich an Abrahams Tisch, wartet auf die Bewirtung und isst von der aufgetragenen Speise. Das nimmt Stunden in Anspruch. Er kommt nicht sogleich «zur Sache», weil die Ausübung der Gemeinschaft mit Abraham die Sache ist, nach der sein Herz verlangt. Haben wir hier nicht den vor uns, der in Psalm 16,3 ausspricht: «Du hast zu den Heiligen gesagt, die auf der Erde sind, und zu den Herrlichen: An ihnen ist all mein Gefallen», und der in Sprüche 8,31 bekennt: «Meine Wonne war bei den Menschenkindern»?
Wir dürfen wohl sagen, dass diese einzigartige Szene bei den Terebinthen Mamres ein Bild ist vom späteren Wandel von Jesus Christus auf der Erde, nachdem Er als Mensch geboren war, wobei sich das Wort erfüllte: «Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) voller Gnade und Wahrheit» (Joh 1,14).
Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?
Als die Männer gegessen hatten, gab sich der Eine durch seine Worte als der HERR kund, der schon so oft zu Abraham geredet hatte. Er bestätigte noch einmal seine Verheissung, dass Sara übers Jahr einen Sohn haben würde (vgl. Kap. 17,21). Wie wir schon sahen, zeigte sie sich hier nicht auf der gleichen Höhe des Glaubens wie Abraham, und der HERR musste ihr für ihr Lachen des Unglaubens einen Verweis geben.
Wie verhält sich Abraham jetzt? Er offenbart eine auffallende Ruhe und Freimütigkeit. Der Gedanke: «Ich stehe vor dem HERRN», bringt ihn keineswegs aus der Fassung. Er muss es sich schon vorher angewöhnt haben, Tag für Tag in der Gegenwart Gottes zu leben. Gewiss, auch er fehlte, wenn er dem Fleisch Raum gab; doch zeugt sein Leben davon, dass ihn das Bewusstsein der Nähe Gottes kennzeichnete, für den er sich aus der Welt abgesondert hatte. Das verlieh ihm eine heilige Würde und Demut des Herzens und öffnete es gleichzeitig für die anderen, sowohl für die «Gerechten» als auch für die «Fremden», die des Weges zogen.
Nun brachen die «Männer» auf, um sich nach Sodom zu wenden. «Und Abraham ging mit ihnen.» Wir begreifen, dass er sich ungern von ihnen trennte, hatte er im Bewusstsein der Herrlichkeit seiner Besucher, das sich im Verlauf ihrer Anwesenheit bei ihm einstellte, doch so kostbare Stunden der Gemeinschaft mit ihnen verbracht, besonders mit dem Herrn, der ihm in so reicher Gnade begegnet war.
Umgekehrt hatte – wie wir sahen – auch der HERR Wohlgefallen daran, mit Abraham vertrauten Umgang zu pflegen, weil er in Gottesfurcht voranging (Ps 25,14). Er nennt ihn sogar «meinen Freund» (2. Chr 20,7; Jes 41,8; Jak 2,23), weil er Ihm von Herzen gehorchte, entsprechend dem späteren Wort des Herrn an seine Jünger: «Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete» (Joh 15,14). Das Merkmal der Freundschaft aber besteht darin, dass man vor dem Freund nichts verbirgt (Joh 15,15), und so sagt hier der HERR: «Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?»
Er führt aber noch einen anderen Grund dafür an, dass Er den Patriarchen zum Mitwisser seines Handelns gegenüber Sodom macht: «Wird doch Abraham gewiss zu einer grossen und mächtigen Nation werden, und sollen doch in ihm gesegnet werden alle Nationen der Erde!» Finden wir diesen Grundsatz nicht im ganzen Wort Gottes? Weil die Nachkommenschaft Abrahams einmal den Mittelpunkt aller Segnungen Gottes auf der Erde bilden soll, teilt ihm Gott durch seine Propheten nicht nur seine Ratschlüsse über sein irdisches Volk mit, sondern auch jene über die Nationen.
Weshalb denn darf die Nachkommenschaft Abrahams einen solchen Platz auf der Erde einnehmen? Gott führt hier den Grund an: «Denn ich habe ihn (Abraham) erkannt, dass er seinen Kindern und seinem Haus nach ihm befehle, damit sie den Weg des HERRN bewahren, Gerechtigkeit und Recht auszuüben, damit der HERR auf Abraham kommen lasse, was er über ihn geredet hat.» Zwar hat sich das Volk in Treulosigkeit vom «Weg des HERRN» abgewandt, doch haben wir aufgrund einiger Stellen daran erinnert, dass Gott seines Bundes mit Abraham gedenken und seine Ratschlüsse über dessen Nachkommenschaft auf dem Boden der Gnade dennoch erfüllen wird.
Wie schön ist das Zeugnis, das Gott in Vorkenntnis dem zukünftigen Vater Isaaks ausstellen kann! Es ist auch für uns geschrieben, und wir sollen uns prüfen und fragen: Könnte der Herr dies auch von mir und meinem Haus sagen? Der Glaube und die Treue eines Gläubigen zeigen sich nicht nur in seinem persönlichen Verhalten, sondern in gewissem Mass auch in dem seiner Kinder, obgleich es nichts als Gnade ist, wenn sie dem Herrn in Treue nachfolgen. Mochte ein Bruder noch so begabt und persönlich untadelig sein, so taugte er, wenn sein Haus in Unordnung war, doch nicht zum Ältesten; «wenn aber jemand dem eigenen Haus nicht vorzustehen weiss, wie wird er für die Versammlung Gottes Sorge tragen?», fragt der Apostel (1. Tim 3,5). Ernste Worte, über die wir in dieser letzten Zeit wohl nachsinnen sollten!
Abraham legt Fürbitte ein
Ein weiterer Grund, weshalb der HERR Abraham vom bevorstehenden Gericht über Sodom Kenntnis gab, war der: Er wollte ihm die Gelegenheit einräumen, Fürbitte zu tun.
«Und der HERR sprach: Weil das Geschrei von Sodom und Gomorra gross und weil ihre Sünde sehr schwer ist, so will ich hinabgehen und sehen, ob sie nach ihrem Geschrei, das vor mich gekommen ist, völlig getan haben; und wenn nicht, so will ich es wissen.» W. Kelly sagt darüber: «Der Herr spricht hier ganz nach Menschenweise und gebraucht Redewendungen, die jeder Mensch verstehen kann. Unser Verstand vermag es nicht zu fassen, wie Gott alle Dinge sofort weiss, ohne nachfragen oder nachforschen zu müssen. Aber hier lässt er sich herab, so zu reden, dass sich Abraham in seiner Gegenwart völlig frei fühlen kann.»
«Und die Männer wandten sich von dort weg und gingen nach Sodom; Abraham aber blieb noch vor dem HERRN stehen. Und Abraham trat hinzu.»
Wie zeugt dies doch von einem ungetrübten Verhältnis zu Gott! Nichts versperrt ihm den freien Zugang zu dem, der zu ihm herabgekommen ist. Seine Gottesfurcht ist mit einem tiefen Bewusstsein der unaussprechlichen Güte des HERRN gepaart, so dass er Ihm mit Vertrauen nahen kann. Dies ist umso erstaunlicher, als ihm ja der Eintritt in das Heiligtum durch das Blut Jesu auf dem neuen und lebendigen Weg noch nicht offenbart ist. Wie viel mehr dürfen wir Christen diesen Zugang benutzen, denen zugerufen wird: «Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade … Lasst uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens, die Herzen besprengt und so gereinigt vom bösen Gewissen und den Leib gewaschen mit reinem Wasser» (Heb 4,16; 10,22)! Wir nahen Ihm nicht nur, um für uns selbst Gnade und Hilfe zu erlangen, sondern auch, um für andere fürbittend einzustehen.
Die Kunde, die Abraham soeben vernommen hat, dass Sodom und Gomorra in den nächsten Stunden vernichtet werden sollen, fällt ihm schwer aufs Herz. Sie treibt ihn zu ernstem und anhaltendem Flehen. Erschrocken sagt er zum HERRN: «Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen wegraffen? Vielleicht sind 50 Gerechte innerhalb der Stadt; willst du sie denn wegraffen und dem Ort nicht vergeben um der 50 Gerechten willen, die darin sind?» sein erster Gedanke ist gewiss Lot, obwohl er dessen Namen nicht nennt. Ach! es ist ihm ein grosser Schmerz, dass sein Neffe trotz ernster Warnungen und Erfahrungen immer noch in jener gottlosen Stadt wohnt. Doch denkt er auch an andere «Gerechte», die dort wie jener am falschen Platz wohnen mögen, und schliesslich an den Ort selbst, auf den das Gericht herniederfahren soll.
Wie schön ist dieses Zwiegespräch zwischen Abraham, der wohl weiss, dass er «Staub und Asche» ist, aber sich im Geist der Gnade «erkühnt», für die vom Gericht Bedrohten Fürsprache einzulegen – und dem HERRN, dem über alles erhabenen «Richter der ganzen Erde», der dem geliebten Knecht zuhört. Er ist es ja, der im ehemaligen Heiden aus Mesopotamien die Erneuerung der Gesinnung bewirkt hat, in der er nun das von Ihm erfleht, was nach dem Herzen des Herrn ist. Und je kühner die Bitte, in desto grösserer Gnade antwortet Er. Schon fünfmal hat Abraham angesetzt, und jedes Mal hat Er ihn erhört. Und auch als der Patriarch schliesslich sagt: «Möge doch der Herr nicht zürnen, und ich will nur noch diesmal reden. Vielleicht mögen 10 dort gefunden werden», da erhält er wieder zur Antwort: «Ich will nicht verderben um der 10 willen.»
Weshalb denn ist der Beter nicht noch weitergegangen? Oh, nicht der «Erhörer des Gebets» hat ihm Einhalt geboten; Er ist ja «barmherzig und gnädig … langsam zum Zorn und gross an Güte». Aber der Glaube des Menschen wird sich nie bis zum vollen Ausmass der Gnade Gottes erheben.
Und so ging denn der HERR weg, als er mit Abraham ausgeredet hatte. Nicht zehn Gerechte sind in Sodom, sondern nur einer, und diesen einen, der nicht hören wollte und seine Lektion nicht gelernt hat, rettet Er, sozusagen nackt, «so wie durchs Feuer» vor dem Gericht. Sodom aber wird Er jetzt in seiner gerechten Regierung dem Erdboden gleichmachen, als ein Beispiel göttlichen Gerichts über die Gottlosigkeit der Menschen.
Wir sind aufgrund des Wortes Gottes völlig überzeugt, dass über die abtrünnige Christenheit, über die Juden und die ganze Welt in kurzem die schrecklichen Gerichte hereinbrechen werden, die im Buch der Offenbarung beschrieben sind. Lasst uns, statt wie Lot die Welt zu lieben und uns mit ihr einszumachen, den Platz Abrahams einnehmen, in kostbarer Gemeinschaft mit dem Herrn und in treuer innerer Absonderung von ihr, von ihren Grundsätzen, ihren unfruchtbaren Werken und ihren Sünden! So nur werden wir treue Zeugen und den Menschen von Nutzen sein können. So nur kann uns der Geist der Gnade zu wirksamer und anhaltender Fürbitte für die antreiben, die in Gleichgültigkeit dem Gericht entgegeneilen!