Sara stirbt
Seit dem tiefgreifenden Erlebnis auf dem Berg Morija sind viele Jahre vorübergegangen. Sara ist jetzt 127 Jahre alt. Mehr als sechzig Jahre lang durfte sie mit Abraham auf dem Weg des Glaubens vorangehen. Sie konnten jetzt auf ungezählte, gemeinsam erlebte Erfahrungen der Treue und der Güte Gottes zurückblicken. Ihr Glaube an einen unsichtbaren Gott hatte sichtbare Früchte gezeitigt. Gewiss, dieser Glaube war ganz persönlich; aber wenn er sich bei dem einen in Worten und Werken kundgab, so wurde dadurch auch der andere ermuntert und angespornt. So bewahrheitete sich bei ihnen das Wort des Predigers: «Zwei sind besser daran als einer, weil sie eine gute Belohnung für ihre Mühe haben; denn wenn sie fallen, so richtet der eine seinen Genossen auf» (Pred 4,9.10).
Und nun stirbt Sara. Gott, der uns auf der Erde «über all sein Tun keine Antwort gibt» (Hiob 33,13), setzt zu dem von Ihm bestimmten Zeitpunkt ihrem Leben ein Ende. Durch den Tod werden die Bande gelöst, die Gott zum Guten des Menschen selber geknüpft hat. Die Beziehungen zwischen Sara und dem Gatten sind nun völlig abgebrochen. Für Abraham bleibt nur noch die Erinnerung. Sie muss ihn allein weiterziehen lassen und darf die Verheiratung Isaaks nicht mehr erleben. (Die prophetische Bedeutung dieser Tatsache wollen wir in einem Schlusskapitel kurz berühren.)
«Und Abraham kam, um Sara zu beklagen und sie zu beweinen.» Den Menschen, mit dem er so manche Jahrzehnte vertraute Lebens- und Glaubensgemeinschaft pflegte und der ein Teil von ihm war, durch den Tod hergeben zu müssen – wenn auch nur für diese Zeit – war für ihn ein tiefer Schmerz. Wie gut, dass der Herr über Leben und Tod mit dem Trauernden vollkommen mitempfindet. «Jesus vergoss Tränen», als Er Maria und die Juden wegen Lazarus weinen sah, der gestorben war, und empfand dabei die Realität des Todes noch viel tiefer als sie. Zu keinem der Trauernden, denen Er auf seinen Wegen begegnete, sagte Er «weine nicht!», als nur zur Mutter des Jünglings in Nain, weil Er im Begriff war, ihn aufzuerwecken und ihn der Witwe zurückzugeben. So hat Gott vollkommenes Verständnis und Mitgefühl für den Trauernden, aber auch göttlichen Trost, indem Er ihm die Tatsachen vorstellt, die über den Tod hinausgehen.
Abraham erhebt sich weg von seiner Toten
Was gibt ihm die Kraft dazu?
Abraham richtet seinen Blick auf den Gott der Auferstehung. Wie schon bei der Opferung Isaaks bezüglich seines Sohnes, traut er es Ihm jetzt zu, dass Er Sara aus den Toten zu erwecken vermöge (Heb 11,19). Im Glauben sieht er seine Frau inmitten seiner Nachkommenschaft im verheissenen Land auferstehen.
Jetzt schon frohlockt er, einmal den Tag Christi sehen zu dürfen (Joh 8,56), an dem die Erde der Hand des Feindes entrissen und das Land Kanaan der bleibende Besitz seiner Nachkommenschaft sein würde.
Ja, noch höher hinauf erhebt er im Glauben seine Augen: «Er erwartete die Stadt, die Grundlagen hat, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist.» Auch er trachtet nach einem besseren, das ist himmlischen Vaterland (Heb 11,10.13-16).
Diese «Hoffnung der Errettung» hatte Abraham wie einen «Helm» angezogen (1. Thes 5,8). Sie schützte ihn vor den Gedanken der Menschen, die noch in der Finsternis waren, und hatte praktische Auswirkungen: Wegen dieser Hoffnung «hielt er sich auf in dem Land der Verheissung, wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den Miterben derselben Verheissung» (Heb 11,9). Und jetzt, am Tag der Trauer, bewirkt sie, dass er nicht in der Weise betrübt wird, «wie die Übrigen, die keine Hoffnung haben» (1. Thes 4,13), die im Grab alles vergehen und verwesen sehen, was der Verstorbene war.
Auch wir erleben an manchem Totenbett den Abbruch zarter Bande, die Gott zum Glück des Menschen geknüpft hat. Wir Christen müssen mit der Menschheit diese Folge der Sünde teilen, aber unsere Blicke sind auf das Ewige gerichtet. Wir folgen unseren Heimgegangenen im Geist dahin, wo sie jetzt sind, ausserhalb der Szene des Todes. Wir sehen in ihrem entseelten Leib nichts anderes als den Samen des Herrlichkeitsleibes, der noch heute auferstehen könnte. Die Trauer um unsere Toten darf uns nicht die himmlischen Dinge verhüllen. Im Gegensatz zu Abraham haben wir nun den Trost und die Hoffnung, dass wir heute schon mit den in Christus Entschlafenen beim Herrn vereinigt werden könnten, und dass unsere Heimgegangenen jetzt schon seine Gegenwart geniessen. In den Tagen Abrahams war der Tod noch nicht überwunden; jetzt aber hat Jesus Christus den Tod zunichtegemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium.
Abraham kauft im Land der Verheissung ein Erbbegräbnis
Wo soll er nun seine Tote begraben? Gott gab ihm ja in diesem Land kein Erbe, «auch nicht einen Fussbreit»; Er verhiess nur, «es ihm zum Besitztum zu geben und seiner Nachkommenschaft nach ihm» (Apg 7,5). In ihrem Leben hatten sie ihren Glauben dadurch kundgetan, dass sie sich im verheissenen Land als Fremde aufhielten. Wo aber soll ihr Leib ruhen, wenn sie sterben? Wie können sie da ihrem Glauben Ausdruck geben? Dadurch, dass sie in einem Grab der Kinder Heths beigesetzt werden, als ob sie zu ihnen gehörten? Waren diese, wie alle Völker des Landes, nicht um ihrer Ungerechtigkeit willen dem Untergang geweiht? (Vgl. 1. Mo 15,16-21).
Abraham weiss, was er tun muss. Er will sich als Fremder im Land, das seine Nachkommen besitzen werden, ein Erbbegräbnis kaufen und so auch im Tod bezeugen, dass er auf die Erfüllung der Verheissung hofft.
So tritt er denn mit seinem Anliegen vor die Kinder Heth. Weil sein Glaube den Verheissungen Gottes grosse Bedeutung beimisst, unternimmt er diesen Schritt mit grosser Feierlichkeit. Dabei will er die gegenwärtigen Gefühle dieser Menschen für ihn nicht ausnützen, sondern benimmt sich äusserst korrekt und sucht die Angelegenheit in praktischer Gerechtigkeit zu ordnen. Der Glaube zeigt sich auch im Verkehr mit den Mitmenschen. Weil er in allem Gott hineinbringt, ist das Ich gerichtet, das sich so gern durch Hochmut und Selbstsucht zu erkennen gibt.
Abraham sagt: «Ich bin ein Fremder und Beisasse bei euch; gebt mir ein Erbbegräbnis bei euch, dass ich meine Tote begrabe vor meinem Angesicht weg.»
Er hat sich durch sein ganzes Leben unter ihnen und durch die ihm von Gott geschenkten Segnungen als Fürst Gottes erwiesen, und sie würden es sich als eine Ehre anrechnen, wenn er seine Tote in einem ihrer auserlesensten Gräber begrübe.
Aber er antwortet: «Legt Fürsprache für mich ein bei Ephron, dem Sohn Zohars, dass er mir die Höhle von Machpela gebe, die ihm gehört, die am Ende seines Feldes ist; zum vollen Preis gebe er sie mir als Erbbegräbnis in eurer Mitte.»
Auch das Angebot Ephrons, der ihm die Höhle und das Feld, in dem sie liegt, schenken will, lehnt er höflich ab und bittet den Hethiter noch einmal, sie ihm zu verkaufen. Schliesslich werden sie einig, und Abraham wägt Ephron das Geld dar, «vierhundert Sekel Silber, gängig beim Kaufmann.»
Die ganze Verhandlung wickelt sich vor den Augen und Ohren der Kinder Heth ab, vor allen, die zum Tor jener Stadt eingehen. Der Patriarch drängt die Versammlung nicht zur Eile, sondern bemüht sich, dass ein in allen Teilen korrekter Kauf zustande kommt. Er feilscht nicht und zahlt mit gängigem Geld. Er will nicht, dass später Einwände erhoben werden können und ihm die Begräbnisstätte streitig gemacht werden kann.
«So wurde das Feld und die Höhle, die darin war, Abraham als Erbbegräbnis bestätigt vonseiten der Kinder Heth.» Danach begrub Abraham Sara, seine Frau, in dieser Höhle. Später, als auch Abraham starb, begruben Isaak und Ismael auch ihn darin (1. Mo 25,9.10). Dort haben sie Isaak ins Grab gelegt und seine Frau Rebekka; dort hat Jakob Lea begraben und auch er wollte, dass man seinen toten Leib dahin bringe (1. Mo 49,28-33), was Joseph unter grossem Geleit ausführte (1. Mo 50). Joseph selbst aber wurde nach seinem Ableben einbalsamiert und in eine Lade in Ägypten gelegt. Doch hat er seine Brüder schwören lassen, seine Gebeine von Ägypten in das Land heraufzuführen, das Gott Abraham, Isaak und Jakob zugeschworen hat.
Daher nahm Mose dessen sterbliche Überreste auf die Wüstenreise mit (2. Mo 13,19), und als das Volk Israel in Kanaan einzog, wurde Joseph dort beigesetzt, nicht in der Grabstätte Abrahams, sondern in Sichem, denn nun durften sie das ganze Land in Besitz nehmen (Jos 24,32).
Den Patriarchen war es also wichtig, im Land der Verheissung begraben zu werden. Die Gläubigen der Jetztzeit hingegen, die zum himmlischen Volk Gottes gehören, besitzen die herrliche Hoffnung, dass der Herr selbst sowohl die in Ihm Entschlafenen als auch die noch auf der Erde lebenden Erlösten ins Vaterhaus droben einführen wird. Zum himmlischen Teil des Reiches Christi gehörend, werden wir Ihm gleichförmig gemacht, mit Ihm herrschen und ein anderes herrliches Los haben als die auf der Erde lebenden Kinder Abrahams. In welches Stück Erde die Körper der Entschlafenen gelegt werden, ist für uns nicht so wichtig; aber möchte die uns gegebene glückselige Hoffnung uns so beleben, wie die Patriarchen von ihrer Hoffnung erfüllt waren.