Der Glaube Abrahams wächst
Seit den in 1. Mose 21 erzählten Ereignissen ist im Leben des Patriarchen eine lange Zeit verstrichen, von der uns nichts berichtet wird. Doch ist in aller Stille Bedeutendes geschehen: Aufgrund der uns in Kapitel 22 mitgeteilten Begebenheiten können wir schliessen, dass Abraham inzwischen grosse geistliche Fortschritte gemacht hat und dass sein Glaube gewachsen ist.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass er in seinem Herzen und in seinem Haus zwei Hindernisse beseitigt hat, die dem Wachstum entgegenstanden. Wir wollen sie noch einmal erwähnen:
- Er hatte in seinem Herzen die Sünde der Leugnung seiner wahren Beziehung zu Sara jahrelang gerechtfertigt. Dann aber sah er sie in ihrem wahren Licht, legte ein volles Geständnis ab und säuberte so die Zelle des Unglaubens in seinem Herzen.
- Er hatte Ismael, diese Frucht der Wirksamkeit des Fleisches, aus dem Haus vertrieben. Nun konnte sich Isaak, der nach dem Geist Geborene, also das, was Gott gewirkt hatte, ungestört entfalten.
«Nach diesen Dingen» geschah es, dass Abraham durch Gottes Gnade Fortschritte machte. Er war jetzt in einem Zustand, in dem ihn Gott einer grossen Prüfung unterziehen konnte.
Das alles ist auch sehr wichtig für uns. Wir haben wohl alle den Wunsch, dem Herrn mit tieferer Hingabe anzuhangen und Ihm mit grösserer Treue nachzufolgen. Wir bitten Ihn mit Ernst darum. Aber vielleicht kommt die Antwort in der Weise, dass Er die Frage an uns richtet: «Ist in deinem Herzen nicht noch eine ungerichtete Wurzel der Sünde bestehen geblieben? Sind in deinem Haus nicht Dinge, die das Fleisch hineingebracht hat und die zu weiterer Wirksamkeit des Fleisches Anlass geben?» Möchten auch wir uns prüfen und alles verurteilen und wegtun, was unser geistliches Wachstum hindert!
Er wird von Gott geprüft
In Jakobus 1 werden zweierlei Arten von Prüfungen erwähnt:
Da sind Versuchungen zur Sünde (Jak 1,13). Diese können nicht von Gott sein. Sie kommen von der Welt, von Satan, und führen zum Fall, wenn der Gläubige aus Unwachsamkeit von der eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird.
Dagegen sollen wir es «für lauter Freude halten», wenn wir in mancherlei Prüfungen fallen, die Gott über uns bringt: Schwierigkeiten, Belastungen und Trübsale, wodurch unser Glaube erprobt wird. Wer sie besteht, macht Erfahrungen von Gottes Treue und Durchhilfe; er erlangt schon hier grössere Segnungen und am Tag der Offenbarung von Jesus Christus Lob und Herrlichkeit. So sagt Petrus: «Die ihr jetzt eine kurze Zeit, wenn es nötig ist, betrübt seid durch mancherlei Versuchungen; damit die Bewährung eures Glaubens, viel kostbarer als die des Goldes, das vergeht, aber durch Feuer erprobt wird, befunden werde zu Lob und Herrlichkeit und Ehre in der Offenbarung Jesu Christi» (1. Pet 1,6-7).
«Nach diesen Dingen», von denen die vorangegangenen Kapitel berichten, geschah es, dass Gott Abraham prüfte. Lasst uns im Zusammenhang mit unserem Thema jetzt nicht so sehr an den vorbildlichen Charakter der in 1. Mose 22 geschilderten Szene denken (obwohl jener Gegenstand weit erhabener ist), sondern uns damit beschäftigen, was diese Geschehnisse für Abraham bedeuteten.
Plötzlich, unvermutet war für den Patriarchen die grosse Prüfung da. Im genau bedachten Augenblick sprach Gott zu ihm: «Abraham! … Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak, und zieh hin in das Land Morija und opfere ihn dort als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde» (1. Mo 22,1.2).
Musste dieser Befehl nicht ein scharfer Schlag für Abrahams Herz sein, der ihm fast den Atem verschlug? Er weiss, es war Gottes Stimme. Nun schweigt sie, und er ist wieder allein. Allein mit seinen aufgeschreckten Gedanken und Empfindungen? Ach nein! Als Mann des Glaubens ist er gewohnt, alles mit Gott zu besprechen. Er muss auf seine Knie gesunken sein. Da, in der Stille vor Gott, ordnet er seine Überlegungen, die sich in seinem Innern jagen. Zu welchen Schlüssen wird er da gekommen sein?
– Fünfundzwanzig Jahre habe ich auf Isaak, meinen «einzigen» Sohn der Verheissung warten müssen. Aber er ist gekommen. Gottes Verheissungen sind treu. Und er hat mir noch mehr versprochen: «In Isaak soll dir eine Nachkommenschaft genannt werden.» Auch diese mir ausdrücklich gegebene Zusage Gottes wird Er erfüllen. Er ist ja nicht ein Mensch, dass Er lüge! Und diesen Isaak soll ich opfern? Ha, da gibt es nur einen Ausweg: Der mir in Isaak die Verheissung gab, wird ihn mir wieder zurückgeben. Es kann nicht anders sein. Gott vermag ihn sogar aus den Toten zu erwecken. Die Ehre des HERRN und die Treue seines Wortes stehen auf dem Spiel! –
Da fasst der greise Vater den schweren Entschluss: Ich gehorche! Er sagt nicht nur «hier bin ich!», er geht auch. Zwar fehlt ihm zur Ausführung dieses Werkes jede Kraft, aber wer Gott gehorcht, darf sich voll und ganz auf dessen Kraft verlassen.
Die Reise nach dem Berg Morija
Er überlegt die Vorbereitungen für die Reise. Ist es angezeigt, dass er Sara, die Mutter Isaaks, in sein Vorhaben einweiht? Er kann ihr wohl nicht mehr mitteilen, als was er zu den beiden Reisebegleitern sagt: «Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten und dann zu euch zurückkehren.» Wenn Gott uns einen Weg gehen heisst, ist es gefährlich, «mit Fleisch und Blut zu Rate zu gehen» (Gal 1,16), mit solchen, die uns auf dem Weg des Glaubens aufhalten könnten.
Auch zaudert er nicht, denn dadurch hätte er dem Ungehorsam Tür und Tor geöffnet. «Und Abraham stand frühmorgens auf und sattelte seinen Esel und nahm mit sich zwei von seinen Knaben und Isaak, seinen Sohn. Und er spaltete Holz zum Brandopfer» – er möchte nicht durch Mangel an Brennholz am Ziel der Reise an der Ausführung des Auftrages gehindert werden – «und machte sich auf und zog hin an den Ort, den Gott ihm gesagt hatte» (Vers 3).
Die Reise dauert drei lange Tage und viele Stunden, die tiefe Herzensübungen mit sich bringen: Wann und wie soll er es Isaak sagen? Und dann, wie schwer wird es ihm werden, die Hand gegen den eigenen Sohn zu erheben, wenn er auch nicht zweifelt, dass Gott ihn lebendig «aus dem Tod» zurückgeben wird! Gott räumt die Schwierigkeiten auf dem Glaubensweg nicht weg, aber gibt für jeden Schritt Weisheit, Mut und Kraft. Abraham hielt seinen Blick in Glaubenseinfalt auf Gott und nicht auf die Umstände gerichtet. Darum konnte er da auch für uns Beispiel und Ansporn werden, das auszuführen, was Gott uns aufträgt, koste es, was es wolle!
Endlich, «am dritten Tag, da erhob Abraham seine Augen und sah den Ort von fern». Nun liess er die beiden Knechte zurück. Auch sie sollten ihn an seiner Glaubenstat nicht hindern. Und so legte er das Holz des Brandopfers auf Isaak; in seine Hand aber nahm er das Feuer und das Messer.
Wie schön ist der Ausdruck: «Sie gingen beide miteinander», angewandt auf diesen Vater und seinen Sohn! Wie spricht er von gegenseitiger Liebe und gegenseitigem Vertrauen! Er wird zweimal vor und einmal nach Morija gebraucht (Verse 6.8.19). Das ganze schwere, an das Herz greifende Geschehen dort oben konnte dem Sohn den Vater nicht entfremden. Auch nachher gingen sie noch – und erst recht – miteinander. Diese tiefe Glaubenserfahrung auf den Wegen Gottes hat die beiden nur umso enger miteinander verbunden. – Fürchten auch wir Eltern uns im Blick auf unsere Kinder nicht, Gott zu gehorchen! Er selbst übernimmt dann die Verantwortung für die Folgen.
Dies kann auch für sie selbst eine gesegnete Erfahrung werden.
Unterwegs stellt Isaak die Frage: «Mein Vater! … Siehe, das Feuer und das Holz; wo aber ist das Schaf zum Brandopfer?» Noch immer sagt ihm Abraham nicht alles, sondern nur: «Gott wird sich ersehen das Schaf zum Brandopfer, mein Sohn.» Wie hatte dieses Wort doch eine so tiefe prophetische Bedeutung! Es wurde angesichts des Berges ausgesprochen, auf dem einst das Lamm Gottes geopfert werden sollte (vgl. 2. Chr 3,1).
Die «Opferung» Isaaks
So wie Abraham seinen Eingeborenen «durch Glauben» dargebracht hat (Heb 11,17), so können auch wir die ganze Szene auf dem Berg Morija nur «durch Glauben» verstehen. Sonst erschiene er uns als ein Ungeheuer, der ein Kindesopfer darbringen will wie die Heiden, die in der alttestamentlichen Zeit bei bestimmten Anlässen eigene Kinder dem Moloch verbrannten. Wie oft muss der Gläubige im Gehorsam gegen Gott Wege beschreiten, die der Unglaube nicht begreift.
Abraham geht bis zum Äussersten. «Er band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz. Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten.» Der HERR hat die beiden auf ihrem schweren Weg von Anfang an begleitet und – wir dürfen wohl sagen – mit Verwunderung zugesehen, wie sich der Glaube Abrahams zu seinem Höchstmass entfaltete, ähnlich, wie sich der Herr Jesus über den grossen Glauben des römischen Hauptmanns verwunderte (Lk 7,9). Abraham war im Begriff, seinen Sohn, seinen einzigen, den er lieb hatte, den Isaak, Gott zu opfern. Damit erbrachte er den Beweis, dass der HERR in seinem Herzen den ersten Platz hatte und seiner völligen Hingabe an Ihn.
«Da rief ihm der Engel des HERRN vom Himmel zu und sprach: Abraham, Abraham! Und er sprach: Hier bin ich! Und er sprach: Strecke deine Hand nicht aus nach dem Knaben, und tu ihm gar nichts!» Die äusserste Grenze der Erprobung war erreicht. Die Prüfung war bestanden. Gott konnte ihm jetzt zurufen: «Denn nun weiss ich, dass du Gott fürchtest und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast.» – Auch bei uns sucht er Beweise solchen Gehorsams und solcher Hingabe. Wie erfreuen und ehren sie Ihn!
Jetzt findet das Wort Abrahams an Isaak eine vorläufige Erfüllung: «Und Abraham erhob seine Augen und sah: Und siehe, da war ein Widder hinten im Gestrüpp festgehalten durch seine Hörner; und Abraham ging hin und nahm den Widder und opferte ihn als Brandopfer anstatt seines Sohnes. Und Abraham gab diesem Ort den Namen: ‹Der HERR wird ersehen›.» Dieser Widder ist nur ein schwacher Schatten vom vollkommenen Opfer, das Gott, der Vater, viele Jahrhunderte später auf demselben Berg selbst darbringen würde. Er hat Jesus Christus zuvor als Lamm Gottes erkannt, «vor Grundlegung der Welt», um Ihn «am Ende der Zeiten» auf dem Kreuz zum Heil der Menschen und als Grundlage aller ihrer Segnungen zu opfern. Gott, der Vater und der Sohn gingen von der Ewigkeit her «beide miteinander». Im Gegensatz zu Isaak wusste der Sohn, was Ihn erwartete, und Er selbst gab sich für uns hin «als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch» (Eph 5,2).
Was Abraham vom Berg mitnahm
In dieser schrecklichen Prüfung hat Abraham gezeigt, dass er sich ganz auf Gottes Wort verliess und sich durch alles hindurch auf die Erfüllung seiner Verheissung bezüglich Isaaks stützte (vgl. Heb 6,12-15).
Nachdem er die von Gott auferlegte Prüfung bestanden hatte, trug er einen unermesslichen Gewinn davon. Nicht nur bewirkte sie bei ihm vermehrtes Ausharren (Jak 1,3), eine tiefere Erfahrung Gottes und ein verstärktes Vertrauen in sein Wort, sondern brachte ihm Segnungen, die alle bisherigen weit überstiegen: «Und der Engel des HERRN rief Abraham ein zweites Mal vom Himmel zu und sprach: Ich schwöre bei mir selbst, spricht der HERR, dass, weil du dies getan und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast, ich dich reichlich segnen und deine Nachkommen sehr mehren werde, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist; und deine Nachkommen werden das Tor ihrer Feinde besitzen; und in deinem Nachkommen werden sich segnen alle Nationen der Erde: weil du meiner Stimme gehorcht hast» (Verse 15-18).
Schon früher gab Er ihm ähnliche Verheissungen (siehe 1. Mo 12,2-3; 13,16; 15,5; 17,5.6; 18,18), aber diese hier geht viel weiter; denn sie verspricht ihm den Nachkommen, also Christus selbst (Gal 3,16). In Ihm will Gott den Glaubenden die höchsten irdischen und himmlischen Segnungen schenken, die Er zu geben hat, und diese Verheissung – beachten wir es – bringt Gott damit in Zusammenhang, «dass du meiner Stimme gehorcht hast».
So ist uns Abraham hier ein anspornendes Beispiel zum treuen Gehorsam gegen Gott und zu ganzer Hingabe an Ihn. Er und Isaak, den er «im Gleichnis aus den Toten empfing» (Heb 11,19), zogen miteinander und reich gesegnet nach Beerseba zurück.