Er biegt auf einen krummen Weg ab
Kennten wir Gläubige nicht unsere eigenen Herzen und Wege, wären wir über den Bericht dieses Kapitels höchst erstaunt. Lange Zeit war Abraham auf dem Höhenweg des Glaubens gewandelt, hatte dabei in wachsendem Mass kostbare Gemeinschaft mit Gott gepflegt und Ihn dabei im unergründlichen Reichtum seiner Gnade und Güte, wie auch als den Gott kennen gelernt, der das Böse richten muss.
Solche Zeiten sind deshalb so gesegnet, weil der Gläubige darin mit Gott und nicht mit dem erbärmlichen Ich beschäftigt ist. Seine einzige Sorge soll dabei sein, diesen Platz nicht zu verlassen. «Wacht und betet, damit ihr nicht in Versuchung kommt», sagte der Herr.
Darin muss Abraham gefehlt haben. An diesem Punkt war es, wo sein Fuss abwich. Der Widersacher des Gerechten, der umhergeht und ihn zu verschlingen sucht (1. Pet 5,8), der ihn «von seiner Höhe zu stossen» trachtet (Ps 62,5), verstand es, solche Augenblicke der Unwachsamkeit auszunützen und Abraham zu bewegen, dem ersten Schritt auf dem Abweg weitere folgen zu lassen.
Wir haben es mit einem zähen Feind zu tun, der nie aufgibt. Kommt er beim ersten, zweiten und dritten Ansturm nicht zum Ziel, so vielleicht beim vierten. Waren wir lange Zeit mit der ganzen Waffenrüstung Gottes angetan, so entgeht es seinem lauernden Auge nicht, wenn wir es uns für eine Weile bequem machen wollen, den «Schild des Glaubens» weglegen und «das Schwert des Geistes, das Gottes Wort ist», aus der Hand geben. Satan legt seine schrecklichen Waffen nie weg; die feurigen Pfeile des Bösen schwirren immer auf uns zu und bringen uns gefährliche Wunden bei, wenn wir ungeschützt sind. Mit Gott schritt Abraham von Sieg zu Sieg, ohne Ihn aber von Niederlage zu Niederlage.
Und jetzt zeigte es sich, dass die fünfundzwanzig Jahre, die Abraham bis jetzt im Glauben vorangegangen war, sein «Fleisch» in keiner Weise zu verbessern vermocht hatten. Damals zog er, als die Hungersnot im Land schwer war, mit seiner Frau, dem zahlreichen Gesinde und den grossen Viehherden aus Mangel an Vertrauen in Gott nach Ägypten hinab, um dort Speise zu finden. Diesmal brauchte es nicht einmal eine Hungersnot; Abraham brach in Unabhängigkeit von dort auf – von den Terebinthen Mamres und dem Altar des HERRN, der dort stand, vom Ort so mancher kostbarer Erfahrungen mit Gott «in das Land des Südens und wohnte zwischen Kades und Sur; und er hielt sich auf in Gerar.» Was Abraham zu dieser Reise bewog, wird uns nicht mitgeteilt. Wir wissen nur, dass das Herz des Gläubigen, das sich nicht in der glückseligen Gegenwart Gottes aufhält, von Unruhe und Furcht erfüllt ist und bei den Menschen sucht, was es nur bei Ihm finden kann. Durch mancherlei schmerzliche Erfahrungen muss er dann zur Einsicht gebracht werden, dass er einen schlechten Tausch gemacht hat, damit er sich wieder nach Gottes Nähe sehnt.
Die Folgen der Unabhängigkeit zeigen sich sogleich. Solange der Gläubige auf dem eigenen Weg verharrt, muss er sich in allem selber helfen, und es stehen ihm da nur fleischliche Mittel zur Verfügung. Er belügt Abimelech und sagt von Sara: sie ist meine Schwester. Er veranlasst auch seine Frau, unwahr zu sein und zu behaupten: Abraham ist mein Bruder. (Eine halbe Wahrheit ist oft gefährlicher als eine ganze Lüge.) Durch sein Tun bringt er, der für die Welt ein Segen sein sollte und es auch gewesen war, sogar Abimelech, den Heiden in Versuchung, sich Sara zur Frau zu nehmen und so eine grosse Sünde zu begehen.
Ist die Tatsache, dass Sara ihre wahre Verbindung mit Abraham verbirgt, nicht auch eine ernste Mahnung an uns Christen, die wir zur Versammlung gehören, die Christus als seine Frau betrachtet, mit der Er «ein Fleisch» ist (Eph 5)? Wie leicht kommen wir dazu, durch unser Verhalten vor der Welt unsere wahre Beziehung zu Ihm zu leugnen und uns mit ihr zu verbinden! Dass doch Christus jederzeit unser Herz erfüllte und unser Auge auf Ihn gerichtet bliebe! «Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube.» (1. Joh 5,4) – Christus, der sich selbst für die Versammlung hingegeben hat, wird sie nie verleugnen, sondern auf ewig die Beziehung aufrechthalten und pflegen, in die Er sie mit sich eingeführt hat.
Und nun, wie kann sich Abraham aus der bösen Sackgasse herauswinden, in die er durch eigene Schuld geraten ist? Gott schreitet ein. «Wo aber die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überreichlicher geworden» (Röm 5,20). Kaum hat Abimelech die Frau Abrahams in sein Haus holen lassen, spricht Gott im Traum zu ihm, klärt ihn auf und setzt ihn unter Druck, damit er Sara wieder frei gibt.
Anderntags kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Abimelech und Abraham, die für den Patriarchen sehr demütigend ist. Das Tun des Heiden ist vor allen Menschen gerechtfertigt und seine Lauterkeit allen offenbar, während der Mann Gottes und seine Frau nicht nur als Betrüger dastehen, sondern auch als solche, die kein Vertrauen in ihren Gott haben und voller Menschenfurcht sind.
Wie schadet es auch heute dem Zeugnis Gottes in der Welt, und wie nimmt es ihm die Kraft, wenn wir Christen nicht in der Wahrheit und in der Gerechtigkeit wandeln! Dadurch wird nicht nur der Dienst wirkungslos gemacht (2. Kor 6,3), auch der Name Gottes, die Lehre, das Wort Gottes und der Weg der Wahrheit werden dadurch verlästert (1. Tim 6,1; Tit 2,5; 2. Pet 2,2).
Gott übersieht keineswegs die Vergehungen der seinen, die ihm so nahestehen; sie sind für ihn schrecklicher als die Sünden derer, die ihm noch fernstehen, und in seinen Regierungswegen lässt Er sie oft die bitteren Folgen ihrer eigenen Wege auf der Erde spüren. Doch lässt Er uns durch den Apostel Johannes sagen: «Wenn jemand gesündigt hat – wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden …» (1. Joh 2,1.2). Und auch: «Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von alter Ungerechtigkeit» (1. Joh 1,9).
Vor dem Ungläubigen, der die Sünde des Christen gesehen hat oder gar miterfahren musste, ist das, was sich zwischen diesem und Gott abspielt, verborgen und er kann es nicht fassen, dass dieser durch Buße und wahres Bekenntnis wiederhergestellt werden soll. Denn der Ungläubige weiss ja nichts von der Vollkommenheit des Sühnungswerkes Christi.
Aber Gott vergisst nie, in welch hohe, unveränderliche Stellung und innige Beziehung zu sich selbst Er den erhoben hat, der durch Glauben «in Christus» ist. So ist es auch hier. Schon bevor Abraham dem König von Gerar gegenüber ein offenes Geständnis ablegen kann, sagt Gott zu Abimelech im Traum: «Er ist ein Prophet und wird für dich bitten, und du wirst am Leben bleiben.» Mag dieser Heide noch so sehr von seiner eigenen Lauterkeit und Gerechtigkeit überzeugt sein, so ist er doch noch nicht – wie Abraham – durch Glauben gerechtfertigt, geheiligt und für Gott abgesondert. Erst als Abraham für ihn betete, heilte Gott die Frauen im Haus des Königs, die der HERR um Saras willen unfruchtbar gemacht hatte. – Möchten wir uns doch der hohen Stellung bewusst bleiben, in die uns Gott durch Gnade versetzt hat, und seiner würdig wandeln!