Er lebte vor vier Jahrtausenden. Deshalb wird mancher denken: Was können wir von einem solchen Mann lernen? Das waren doch noch ganz andere Zeiten! Wenn auch die Ausgrabungen jener Städte davon zeugen, dass damals schon eine relativ hohe Kultur bestand, so waren Zivilisation, Technik und Wissenschaft doch noch in den Anfängen. Verglichen mit unserem Dasein in dieser modernen Welt, die so kompliziert geworden ist, erscheint uns das Leben Abrahams schlicht und einfach.
Dennoch hat uns seine Geschichte viel zu sagen. Gerade an seinem Beispiel, in der Einfachheit seiner Umstände, treten wichtige göttliche Grundsätze deutlich zutage, die auch für die Gläubigen der Jetztzeit von grosser Bedeutung sind.
In Römer 4,11.12 wird Abraham «Vater aller … die … glauben» genannt. Im Bericht über sein Leben, den uns die Schrift gibt und auf den wir nun eingehen wollen, wird daher auch die Entfaltung seines Glaubens beschrieben, von seinem Anfang bis zu seinem Höhepunkt.
Seine Berufung
Abrahams1 Geschichte beginnt in Ur, einer Stadt im damaligen Chaldäa, am Euphrat gelegen, nahe bei dessen Einmündung in den persischen Golf. Dort lebte er inmitten seiner Verwandtschaft, die in 1. Mose 11 beschrieben wird.
Noah hatte noch in Glauben und Treue dem wahren und lebendigen Gott gelebt, aber seine Nachkommen verfielen dem Götzendienst. Selbst Tarah und seine Familie, die doch vom Geschlecht Sems waren, dienten andern Göttern (Jos 24,2). Wenn wir auch über die Form ihres Götzendienstes nichts Sicheres wissen, so muss er sie doch in grosse geistliche und sittliche Finsternis versetzt haben. In der Geschichte der Menschheit hat sich dies ja immer wieder gezeigt.
Die Ausgrabungen in Ur brachten viele Funde und Aufzeichnungen an den Tag. Sie enthüllen uns, dass diese Stadt zur Zeit Abrahams nach damaligen Begriffen ein Mittelpunkt der Gelehrsamkeit und der Kultur, der Künste und Wissenschaften, und auch ein Ort des Reichtums und des Luxus gewesen sein muss.
Es wird nicht gesagt, was in dieser Umgebung im Herzen Abrahams vorging. Hörte er die Stimme der Schöpfung, die auch den Heiden von der Herrlichkeit Gottes erzählt? Verstand er ihre Sprache? Hatte sein Gewissen gegen ihn und sein Leben zu zeugen begonnen? (Siehe Ps 19; Röm 1,20-21; 2,15).
Eines wissen wir: Der ewige, unsichtbare, alleinige Gott, der König der Zeitalter, richtete seinen Blick auf Abraham. Durch ihn wollte Er besondere Ratschlüsse ausführen und ihn jetzt herausrufen.
Erste Berufung Abrahams in Ur
«Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham, als er in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte, und sprach zu ihm: ‹Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und komm in das Land, das ich dir zeigen werde›» (Apg 7,2.3).
Welch ein feierlicher, bedeutsamer Augenblick im Leben dieses Mannes! In einer götzendienerischen Umgebung aufgewachsen, umringt von der «Herrlichkeit», die die damalige Welt zu bieten hatte, sah er sich plötzlich ganz persönlich dem lebendigen und wahren Gott gegenübergestellt!
In diesem Licht der alles überstrahlenden Herrlichkeit Gottes zeigten sich ihm alle Dinge der Erde in einem ganz anderen Charakter als bisher, in einer völlig veränderten Proportion: Die Welt verlor für ihn mit einem Schlag ihren nichtigen Glanz; er erkannte nun ihr sündiges, verkehrtes und verdrehtes Wesen. Die irdischen Dinge und Ziele, die ihm bis dahin gross und wichtig erschienen waren, verloren an Bedeutung. Das aber, was der Gott der Herrlichkeit zu bieten hatte, zog ihn jetzt an.
Zudem, wenn sich ein Mensch in das heilige Licht Gottes gestellt sieht, muss er da nicht wie Jesaja ausrufen: «Wehe mir! Denn ich bin verloren; denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen, und inmitten eines Volkes mit unreinen Lippen wohne ich; denn meine Augen haben den König, den HERRN der Heerscharen, gesehen»? (Jes 6,1-7). Auch aus dem Mund Abrahams musste ein solches Bekenntnis kommen; wie konnte ihm Gott sonst in Gnade begegnen?
Aber Gott redete auch zu Abraham. Er sagte zu ihm:
1. «Geh aus deinem Land!»
Überall in der Schrift begegnen wir diesem wichtigen Grundsatz. Gott beruft «mit heiligem Ruf» (2. Tim 1,9). Die Menschen, die Er errettet, nimmt Er heraus aus «der gegenwärtigen bösen Welt» (Gal 1,4). Sie sollen ebenso völlig vom Bösen abgesondert sein, wie der, der sie beruft: «Wie der, der euch berufen hat, heilig ist, seid auch ihr heilig in allem Wandel» (1. Pet 1,15). Bei Abraham ging es auch um eine äussere Trennung von jener götzendienerischen Welt. Wir Christen hingegen, die nicht «von der Welt», aber «in der Welt» sind, sollen eine innere Absonderung von ihr aufrechthalten. Wir können mit Paulus sagen: Ich rühme mich des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, «durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt» (Gal 6,14). Nur so ist praktische Gemeinschaft mit dem heiligen Gott möglich. «Wenn jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters nicht in ihm» (1. Joh 2,15).
2. «Geh aus deiner Verwandtschaft»
Auch diese zweite göttliche Aufforderung an Abraham ist sehr wichtig. Sie mochte ihm zwar hart erscheinen. Aus seiner Reaktion wie auch aus dem Verhalten seiner Angehörigen nach dieser Erscheinung Gottes können wir schliessen, dass zwischen ihnen ein schönes, ungetrübtes Verhältnis bestand. Sie mögen sogar eines Sinnes gewesen sein in ihren Ansichten, Lebensformen und Zielen.
Da Abraham nun aber im Begriff steht, eine radikale Wendung zu vollziehen und den ihm von Gott vorgezeichneten Weg zu beschreiten, können ihm seine Verwandten nur ein Hindernis sein. Denn wenn diese ihr bisheriges Leben fortsetzen, so scheiden sich ihre Wege. Dann haben sie nicht mehr dieselben Ansichten und Ziele wie Abraham. Dann können sie ihm mit ihren wohlmeinenden Ratschlägen und Hilfsangeboten zum Hemmschuh werden.
So sagte auch unser Herr zu denen, die Ihm nachfolgen wollten: «Wer Vater oder Mutter mehr lieb hat als mich, ist meiner nicht würdig; und wer Sohn oder Tochter mehr lieb hat als mich, ist meiner nicht würdig» (Mt 10,37). Er kennt die schlimmen Folgen, die ein Verstoss gegen dieses Gebot für den nach sich zieht, der Ihm nachfolgen will.
3. «Komm in das Land, das ich dir zeigen werde»
Diese dritte Aufforderung an Abraham ist sehr knapp. Gott sagt ihm hier nicht, wie dieses Land beschaffen ist noch wo es liegt, auch nicht, weshalb er seine Heimat verlassen und in dieses Land kommen soll. Er prüft Abraham, ob bei ihm Vertrauen in den göttlichen Willen und die göttliche Führung vorhanden sei. Dieses Vertrauen ist ja eines der Kennzeichen des Glaubens.
Wie antwortet Abraham auf den ersten Ruf Gottes?
Obwohl er den lebendigen und wahren Gott erst so kurz und noch so wenig kennt, gehorcht er. Angezogen von Gottes Herrlichkeit, setzt er den Fuss vertrauensvoll auf den Weg des Glaubens, der ihn durch viele Übungen zu ungeahnten Segnungen und zu dem Ziel führen wird, das Gott ihm gesteckt, aber noch nicht offenbart hat. Durch Glauben verlässt er Ur, den ihm bekannten Lebensraum, wo er bis jetzt seine Existenz und alles gefunden hat, was er zum bisherigen Leben brauchte, und «zieht aus, ohne zu wissen, wohin er komme» (Heb 11,8).
Der Glaube schreitet voran, ohne etwas zu sehen, zu spüren und zu fühlen. Aber auf jeden Glaubensschritt folgen kostbare Erfahrungen, denn der Glaube hört und stützt sich auf das Wort Gottes. «Indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig» (2. Kor 4,18).
Doch wird der Glaube, ob er sich in einem freundlichen oder in einem ausgesprochen feindlichen Milieu zeigt, auf Verständnislosigkeit und starken Widerstand bei denen stossen, die auf das «Sichtbare», auf das «Zeitliche» sehen.
Es wird uns nicht gesagt, welcher Art die Diskussionen waren, die durch den Entschluss Abrahams hervorgerufen wurden. Man mag es ihm als Lieblosigkeit und als Torheit vorgeworfen haben, dass er sie alle verlassen und mit seinen Herden fortziehen wollte, ohne zu wissen, wohin.
Schliesslich aber, als alle ihre Einwände an seiner Glaubensfestigkeit abprallten, werden sie ihre Einstellung geändert und sich entschlossen haben, mit ihm auszuziehen!
Was sagt Abraham dazu? Er lässt sie gewähren! Er lässt es sogar zu, dass Tarah, sein Vater, bei diesem Auszug die Führung übernimmt: «Und Tarah nahm seinen Sohn Abram, und Lot, den Sohn Harans, seines Sohnes Sohn, und Sarai, seine Schwiegertochter, die Frau seines Sohnes Abram; und sie zogen miteinander aus Ur in Chaldäa, um in das Land Kanaan zu gehen» (1. Mo 11,31).2
Hierin war Abraham also nicht gehorsam. Wohl waren seine Verwandten nun Mitläufer auf dem Weg des Glaubens geworden. Aber waren sie ihm dabei eine Hilfe? Die Fortsetzung zeigt es.
Reise bis Haran
Es ist schwierig festzustellen, welches damals der kürzeste Weg von Ur nach Kanaan gewesen wäre. Werfen wir einen Blick auf die Karte, so erkennen wir, dass die eingeschlagene Route um Hunderte von Kilometern länger war, als der Weg, der hätte eingeschlagen werden können. Wohl wegen ihren Viehherden folgten sie dem Lauf des Euphrats stromaufwärts, weil jene Ebene bewässert und grün war. Aber wer bestimmte hier eigentlich die Richtung? Abraham, in Abhängigkeit von Gott? Oder Tarah, nach menschlichen Erfahrungen und Überlegungen? Ach, weil sich Abraham nicht von «seiner Verwandtschaft» löste, wie Gott ihm gesagt hatte, ist die erste Strecke seines Glaubensweges von Unsicherheit und Unentschiedenheit gekennzeichnet.
Die Gegend des mittleren Euphrats hiess Arama. Wenn der israelitische Anbeter in späteren Jahrhunderten mit einem Korb voll Erstlingsfrüchten vor dem HERRN erschien, so musste er bekennen: «Ein umherirrender Aramäer war mein Vater; und er zog nach Ägypten hinab» (5. Mo 26,5). Müssen wir da nicht annehmen, dass nicht allein Jakob, sondern auch Abraham damit gemeint war?
Schliesslich verlassen sie den Euphrat, wenden sich aber noch mehr von Kanaan weg und ziehen «bis Haran», 450 Kilometer von Damaskus entfernt, «und wohnten dort» (1. Mo 11,31).
Abraham wohnt in Haran! Wir wissen nicht wie lange. Er hat den göttlichen Ruf vernommen: «Komm in das Land, das ich dir zeigen werde», aber er lässt sich aufhalten. Ist hier nicht jeder Tag ein Stück verlorene Zeit, auch wenn sich sein Gesinde und seine Habe vermehren? (Kapitel 12,5). Konnte er da Gemeinschaft mit dem Gott pflegen, der ihn in ein anderes Land kommen hiess? Wie gut ist es, wenn der Gläubige jeden Auftrag Gottes sogleich ausführt, sonst droht dieser in Vergessenheit zu geraten! So hat es den Anschein, als ob Abraham in Haran geblieben wäre, wenn ihn Gott nicht ein zweites Mal gerufen hätte.
Das Zaudern Abrahams hatte nach menschlichem Urteil einen triftigen Grund: Die lange Reise von Ur nach Haran, unter der sengenden Sonne des Morgenlandes, ist für den hochbetagten Vater Tarah offenbar zu viel gewesen. Er fühlt sich nicht mehr in der Lage, die Reise fortzusetzen, da er seine letzten Tage herannahen sieht. Ist es da für den ältesten Sohn nicht eine Pflicht der Liebe und der Ehrerbietung, bis zum Ende beim Vater zu bleiben? – Unser Herr urteilt anders. Als Ihm einer nachfolgen wollte und zu Ihm sagte: «Herr, erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben», da gab Er ihm zur Antwort: «Folge mir nach, und lass die Toten ihre Toten begraben» (Mt 8,21.22). Der Herr Jesus muss den ersten Platz in unseren Herzen und Wegen haben.