Ein Freund
Ein einziges Mal nennt der Herr Jesus einen einzelnen Menschen auf dieser Erde mit Namen seinen Freund. In Johannes 11,11 sagt Er zu seinen Jüngern: «Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken.»
Der Herr Jesus musste auf dieser Erde ein einsames Leben führen. Am Anfang des Johannes-Evangeliums heisst es: «Er war in der Welt, und die Welt wurde durch ihn, und die Welt kannte ihn nicht. Er kam in das Seine, und die Seinen nahmen ihn nicht an» (Kap. 1,10.11). In seinen Abschiedsworten an seine Jünger musste Er ihnen sagen: «Siehe, die Stunde kommt und ist gekommen, dass ihr zerstreut werdet, jeder in das Seine, und mich allein lasst; und ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir» (Joh 16,32). Die Evangeliumsberichte bestätigen wiederholt, dass keiner der Jünger den leidenden Heiland wirklich verstand.
Trotzdem erfüllten sich die prophetischen Worte Davids: «Auf dem Weg wird er trinken aus dem Bach» (Ps 110,7). Es gab zwei «Häuser» oder «Familien», in denen sich der Herr wohl fühlte – selbst hier auf der Erde.
Das war zum einen die Schar seiner Jünger. Wenn Er mit ihnen sprach, dann fühlte Er sich unter Freunden. «Ich sage aber euch, meinen Freunden»: So konnte Er sie anreden (Lk 12,4). An anderer Stelle sagte Er: «Euch aber habe ich Freunde genannt» (Joh 15,15). Und doch war unter ihnen ein Teufel: Judas Iskariot, der Ihn später überlieferte (Joh 6,70.71). So war auch diese Freundschaft durch die Gegenwart dieses Widersachers sehr beeinträchtigt.
Aber es gab auch das Haus in Bethanien. Vermutlich an keinem anderen Ort wurde der Herr Jesus so herzlich aufgenommen wie in dieser Familie. Hier schlugen Ihm die Herzen von drei leiblichen Geschwistern entgegen. Sie waren für Ihn mehr als nur Bekannte. Martha diente Ihm mit allem, was sie an Kräften und Hingabe besass. Maria verstand den Herrn besser als jeder andere Mensch damals auf dieser Erde. Wenn es jemand verdient gehabt hätte, von unserem Herrn als Freund bezeichnet zu werden, dann diese Frau. Als Einzige hat sie Ihn zu seinem Begräbnis gesalbt – zum Voraus, da sie ein Empfinden dafür hatte, wohin der Weg des leidenden, himmlischen Dieners führen würde (Mk 14,8). In seiner Weisheit gebrauchte der Herr jedoch die Anrede «Freundin» nicht.
In Bezug auf Lazarus hingegen finden wir den Ausdruck «unser Freund», obwohl der Herr auch hier nicht von «meinem Freund» spricht. Er machte sich eins mit den zwölf Jüngern. Und doch spüren wir, dass Ihn eine herzliche, innere Beziehung mit diesem Mann verband. Lazarus war ein Mann, dessen Seele mit der des Herrn verbunden war, wie wir dies im Alten Testament von Jonathan und David finden.
Wir wissen nicht, wie diese Herzensverbindung entstanden ist. In Lukas 10,38 ff. heisst es, dass es Martha war, die den Herrn in ihr Haus aufnahm. Ob Lazarus damals zum ersten Mal mit der Person Jesu in Berührung kam? Auf jeden Fall hatte Lazarus die Worte Jesu gehört und seine Werke gesehen. Da war eine freundschaftliche Beziehung entstanden. So konnten Maria und Martha dem Herrn Jesus sagen lassen: «Herr, siehe, der, den du lieb hast, ist krank» (Joh 11,3). Diese Liebe meint eine Zuneigung aufgrund freundschaftlicher Beziehungen.
Wie muss es das Herz unseres leidenden Herrn erfreut haben, dass hier ein Mann war, den Er vermutlich zwar nur selten sah, der Ihm aber in tiefer, innerer Freundschaft verbunden war. Hier in Bethanien konnte der Herr in den letzten Tagen vor seinem Tod noch einmal eine gewisse Ruhe finden. Durch Herzen, die Ihm derart zugetan waren, wurde Er ermuntert. Unser Herr war vollkommen Mensch. Doch Er wusste, dass am Ende seines Lebens das Kreuz stehen würde. Im Gedanken an dieses Ziel war seine Seele erschüttert. Wie hat Ihm da die Freundschaft mit Lazarus – die Ihm sein Vater schenkte –, wohl getan: eine Ermunterung frischen Wassers aus dem Bach Gottes!
Der «Freund» Judas Iskariot
Im Gegensatz zu dem, wie der Herr von Lazarus spricht, finden wir in Matthäus 26,50, wie Er das Wort «Freund» nochmals in einmaliger Weise gebraucht: «Jesus spricht zu Judas Iskariot: Freund, wozu bist du gekommen!»
Welch eine Szene! Wenige Stunden vorher hatte der Herr Jesus Tischgemeinschaft mit Judas Iskariot gehabt. Es war gerade dieser Jünger, der vom Herrn den Bissen vom Passahmahl gereicht bekommen und gegessen hatte (Joh 13,26). Er muss also nahe beim Herrn gesessen, bzw. gelegen haben. Als Verwalter der gemeinsamen Kasse war Judas ein besonderer Vertrauensdienst vom Meister übergeben worden. Und das, obwohl Er wusste, dass Judas ein Dieb war (Joh 12,6). Der Herr Jesus hatte sich etwa zwei Jahre lang mit Judas Iskariot nicht nur abgegeben, sondern sich um ihn mit vollkommener Liebe bemüht.
Dann hatte dieser Verräter die vertraute Gemeinschaft des Herrn und der anderen Jünger verlassen. Er war in die Nacht hinausgegangen (Joh 13,30). – Nachdem der Herr mit den elf Jüngern eine vertraute Unterhaltung gepflegt und sie in wunderbarer Weise in die neue Beziehung zu Gott, ihrem himmlischen Vater, eingeführt hatte, waren sie mit einem Loblied zum Ölberg hinausgegangen. Dort im Garten Gethsemane betete der Herr Jesus dreimal zu seinem Vater.
Er hatte kaum geendet, als Judas mit einer grossen Volksmenge, ausgesandt von den Feinden Jesu, in den Garten kam. Er besass die Frechheit, seinen Meister mit einem Kuss der Freundschaft und Vertrautheit zu begrüssen: «Und sogleich trat er zu Jesu und sprach: Sei gegrüsst, Rabbi!, und küsste ihn sehr» (Mt 26,47.49).
Auf diese unverschämte Geste von Judas Iskariot reagierte der Herr nicht mit der Vernichtung des Verräters. Das Recht dazu hätte Er gehabt, denn Er war der Schöpfer auch von Judas, der sich auf diese heuchlerische Weise an seinem Schöpfer versündigte. Der Heiland handelte ganz anders. Mit einem letzten Appell an das Gewissen von Judas redete Er ihn an: «Freund, wozu bist du gekommen!»
Es geht hier nicht um eine Freundschaft, wie der Herr sie zu Lazarus hatte. Der Herr benutzt hier einen Ausdruck, der sein Gegenüber als seinen mehrjährigen Gefährten und Genossen bezeichnet. Und doch ist es ein letzter Appell der Liebe. Denn der Herr Jesus wollte nicht den Untergang von Judas. Er wollte von Anfang an sein Herz gewinnen. So auch hier. Anstatt ihn zur Rede zu stellen, sprach Er die schlichte Frage aus: «Wozu?» Konnte es sein, dass «ein Mensch wie ich, mein Freund und mein Vertrauter, die wir vertrauten Umgang miteinander pflegten, ins Haus Gottes gingen mit der Menge» (Ps 55,14.15), den Herrn verraten und in die Hände von Feinden Jesu und Feinden Gottes überliefern wollte?
Es war das letzte direkte Wort, das der Herr an diesen Jünger hier auf der Erde richtete. Wie wird dieses letzte Wort der Liebe seines Meisters in Ewigkeit ein Brandmal für Judas Iskariot sein – im Hades und dann im Feuersee! Und welch eine Begegnung wird es sein, wenn Judas Iskariot noch ein einziges, letztes Mal vor Jesus von Nazareth – einst sein Meister, dann sein Richter – stehen wird! In Offenbarung 20,11 ff. wird diese Szene wie folgt beschrieben: «Und ich sah einen grossen weissen Thron und den, der darauf sass, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Grossen und die Kleinen, vor dem Thron stehen.» Dann wird Judas nicht mehr mit «Freund» angesprochen werden. Und doch wird er an diesen Augenblick zurückdenken müssen – in Ewigkeit!