Das Gericht über Babylon
Babylon, die grosse Stadt
Wir haben das Gericht über Babylon als Hure, die zu Unrecht den Platz der Braut des Lammes eingenommen hat, betrachtet. Das vorliegende Kapitel zeigt uns ihr Gericht als Stadt, d.h. als religiöses System in der Welt. Wir lernen die Gedanken des Menschen darüber kennen und werden sehen, wie unterschiedlich die Empfindungen sind, die durch die Verwüstung dieses Systems auf der Erde und im Himmel hervorgerufen werden.
«Nach diesem sah ich einen anderen Engel aus dem Himmel herabkommen, der grosse Gewalt hatte; und die Erde wurde von seiner Herrlichkeit erleuchtet. Und er rief mit starker Stimme und sprach: Gefallen, gefallen ist Babylon, die grosse, und ist eine Behausung von Dämonen geworden und ein Gewahrsam jedes unreinen Geistes und ein Gewahrsam jedes unreinen und gehassten Vogels. Denn von dem Wein der Wut ihrer Hurerei haben alle Nationen getrunken, und die Könige der Erde haben Hurerei mit ihr getrieben, und die Kaufleute der Erde sind durch die Macht ihrer Üppigkeit reich geworden» (V. 1-3).
Diese Verse stimmen eng mit der Sprache Jesajas überein (Kap. 21,9). Es besteht kein Zweifel darüber, dass der Prophet die tatsächliche Zerstörung der chaldäischen Metropole voraussagt. In der vorliegenden Stelle geht es um eine übertragene Bedeutung, die sich nicht auf eine Stadt, sondern auf das christliche Bekenntnis unter der Führung Roms bezieht, und zwar nach der Entrückung aller wahren Gläubigen. Wie einst die alte Stadt Babylon, so wird die Macht und Grösse dieses mächtigen religiösen Systems gestürzt werden. Es hat die Völker mit ihren berauschenden Getränken betäubt, setzte sich als Geliebte irdischer Regenten in Szene und belebte mit ihrem Luxus und Glanz die Weltwirtschaft. Nun ist dieses System leer und trostlos wie eine verfallene Stadt, in der sich alle unreinen Tiere niederlassen. Was sich in religiösem Hochmut anmasste, die Wohnstätte des Heiligen Geistes zu sein, ist nun eine «Behausung von Dämonen» und «ein Gewahrsam jedes unreinen Geistes und ein Gewahrsam jedes unreinen und gehassten Vogels» geworden.
In diesem verdorbenen System gibt und gab es tatsächlich echte Gläubige, denn die göttliche Gnade kann alle Hindernisse überwinden. Aber Gott ruft sie heraus, indem Er sie vor dem wahren Charakter Babylons sowie vor dem kommenden Gericht warnt. «Und ich hörte eine andere Stimme aus dem Himmel sagen: Geht aus ihr hinaus, mein Volk, damit ihr nicht ihrer Sünden teilhaftig werdet und damit ihr nicht empfangt von ihren Plagen; denn ihre Sünden sind aufgehäuft bis zum Himmel, und Gott hat ihrer Ungerechtigkeiten gedacht» (V. 4.5).
Wie sehr unterscheiden sich Gottes Gedanken von den oft so oberflächlichen Gedanken vieler aus seinem Volk. Der Mensch meint oft, es sei unwichtig, ob er mit Bösem in Verbindung stehe oder nicht, solange er sich selbst auf der sicheren Seite befinde. Aber solche Gedanken verunehren Gott. Das Volk, das aufgerufen wird, dieses böse System zu verlassen, ist das Volk Gottes. Seine Situation ist mit der von Lot in Sodom zu vergleichen, den Gott aufforderte, die Stadt zu verlassen. Gott lässt die Seinen niemals untergehen. Aber wie sehr unterscheidet sich das Schicksal Lots vom Schicksal Abrahams. Lot wurde «gerettet, doch so wie durchs Feuer», wobei er alles verlor. Abraham hingegen betrachtete das Gericht über die Städte der Ebene von den Hügeln Hebrons aus. So sieht der Unterschied zwischen solchen aus, die in Absonderung vom Bösen leben, und denen, die sich leichtfertig damit einlassen, weil sie sich ihrer Errettung gewiss sind. Wie bei Sodom sind die Sünden dieses Systems zum Himmel aufgestiegen, und Gottes Volk wird wie einst Lot dazu aufgefordert, hinauszugehen, um sich dadurch zu retten.
Die Könige, die sich gegen das Lamm verbündet haben, sind die Werkzeuge, durch die die falsche Kirche ihrer Herrlichkeit und ihres Reichtums beraubt und verwüstet wird. Dabei führen sie unbewusst Gottes Pläne aus wie einst Nebukadnezar. Daher fordert die Stimme aus dem Himmel diese Könige auf: «Vergeltet ihr, wie auch sie vergolten hat, und verdoppelt doppelt nach ihren Werken; in dem Kelch, den sie gemischt hat, mischt ihr doppelt. Wie viel sie sich verherrlicht und Üppigkeit getrieben hat, so viel Qual und Trauer gebt ihr. Denn sie spricht in ihrem Herzen: Ich sitze als Königin, und Witwe bin ich nicht, und Trauer werde ich nicht sehen. Darum werden ihre Plagen an einem Tag kommen: Tod und Trauer und Hungersnot, und mit Feuer wird sie verbrannt werden; denn stark ist der Herr, Gott, der sie gerichtet hat» (V. 6-8).
Obschon die Römische Kirche mit diesen Königen Hurerei getrieben hat, hat sie häufig ihre Überheblichkeit und ihren geistlichen Stolz gezeigt, indem sie auf ihnen herumgetrampelt ist. Vielleicht ist der Satz «vergeltet ihr, wie auch sie vergolten hat» eine Andeutung darauf. Es stellt aber eher eine allgemeine Ermahnung über die Vergeltung ihres bösen und grausamen Verhaltens dar. Sie hat sich selbst erhoben und lebte für die Welt anstatt für Christus. Nun sind Qual und Trauer ihr Los. Sie hat ihren Kelch mit dem Schmutz ihrer Hurereien gefüllt. Nun ist der Becher ihres Gerichts doppelt gefüllt. Sie hat sich ihrer Macht und Herrlichkeit gerühmt, anstatt auf ihren abwesenden Herrn zu warten. Nun wird sie verwüstet. Sie wird mit Feuer zerstört, denn der Gott, den sie verachtet hat, ist ein mächtiger Gott, der sich nicht spotten lässt.
So lauten die himmlischen Stimmen. Doch die Gedanken des Menschen sind ganz anders. Zwei Personenkategorien trauern über sie:
- die «Könige der Erde», die durch ihre Macht gestützt worden sind, und
- die «Kaufleute dieser Erde», die durch ihren Luxus reich geworden sind.
Trauer auf der Erde
«Und es werden über sie weinen und wehklagen die Könige der Erde, die Hurerei und Üppigkeit mit ihr getrieben haben, wenn sie den Rauch ihres Brandes sehen; und sie werden von fern stehen aus Furcht vor ihrer Qual und sagen: Wehe, wehe! Die grosse Stadt, Babylon, die starke Stadt! Denn in einer Stunde ist dein Gericht gekommen» (V. 9.10).
Die Könige sind über die Heftigkeit ihres Sturzes entsetzt und fürchten sich, sich für ihre Verteidigung einzusetzen. Trotzdem beklagen die gekrönten Häupter den Fall einer Macht, die in der Regel ihre eigene Erhöhung anstrebte, indem sie Monarchen half, ihren Machtbereich zu erweitern. Ihre bevorzugte Strategie bestand immer darin, ein korruptes Bündnis mit der weltlichen Macht einzugehen, und diese als Instrument für die eigenen Interessen einzusetzen. Die meisten weltlichen Mächte trauern daher über ihren Sturz.
Dieses religiöse System hat aber nicht nur die Grossen und Mächtigen mit den Maschen seines Netzes umgarnt. Seine Weltlichkeit, sein Glanz und sein Pomp haben es auch bei jenen beliebt gemacht, die dem Luxus und der Prahlerei dienen. Die Frau eines abwesenden Christus hätte sich in Witwenkleider hüllen sollen. Stattdessen ist sie als Königin aufgetreten. Sie hat sich mit feiner Leinwand und Purpur und Scharlach bekleidet und sich mit Gold, wertvollen Steinen und Perlen geschmückt. Kein Wunder, dass die «Kaufleute der Erde» ihren Fall beklagen.
«Und die Kaufleute der Erde weinen und trauern über sie, weil niemand mehr ihre Ware kauft; Ware von Gold und Silber und wertvollem Stein und Perlen und feiner Leinwand und Purpur und Seide und Scharlach, und alles Thujaholz und jedes Gerät aus Elfenbein und jedes Gerät aus kostbarstem Holz und aus Kupfer und Eisen und Marmor, und Zimt und Amom und Räucherwerk und Salböl und Weihrauch und Wein und Öl und Feinmehl und Weizen und Vieh und Schafe, und von Pferden und von Wagen und von Leibeigenen, und Menschenseelen. Und das Obst der Begierde deiner Seele ist von dir gewichen, und all das Glänzende und das Prächtige ist dir verloren gegangen, und man wird es nie mehr finden.
Die Kaufleute dieser Dinge, die an ihr reich geworden sind, werden aus Furcht vor ihrer Qual von fern stehen, weinend und trauernd, und werden sagen: Wehe, wehe! Die grosse Stadt, die bekleidet war mit feiner Leinwand und Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und Edelgestein und Perlen! Denn in einer Stunde ist der so grosse Reichtum verwüstet worden» (V. 11-17a).
Die Versammlung war dazu berufen, sich von der Welt abzusondern und auf ihren Herrn zu warten. «Unser Bürgertum ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten» (Phil 3,20). Aber als verantwortliches Zeugnis hat sie diese wartende Haltung bald aufgegeben und in ihrem Herzen gesprochen: «Mein Herr bleibt noch aus» (Mt 24,48).
Wir sahen bei der Betrachtung der in den sieben Sendschreiben beschriebenen Kirchengeschichte, dass sie sich in der Welt niedergelassen hat, «wo der Thron des Satans ist». Der nächste Schritt ist schnell getan. Indem sie aufgehört hatte, eine Witwe zu sein, begann sie, sich als eine Königin aufzuspielen. Indem sie ihre eigene himmlische Hoffnung aufgab, machte sie sich die irdischen Hoffnungen der Juden zu eigen. Diese sagten ihrer weltlichen Gesinnung mehr zu. Ohne auf die Warnung des Apostels zu achten, vergass sie, dass sie abgeschnitten würde, wenn sie untreu werden würde. Sie liess ihren Witwencharakter fallen. Stattdessen eignete sie sich den Glanz und den Ruhm an, die Israel verheissen waren, die aber für die Versammlung ganz unpassend sind. Sie stieg nicht nur zu einer grossen Macht in der Welt auf, sondern auch zu einer Macht, vor der sich alle anderen beugen mussten. Es ist wahr, dass ihre Ansprüche Widerstand geweckt haben. Die Könige, die sich einmal vor ihr geduckt haben, werden sich ihr in einem anderen Moment widersetzen. Ihre Ansprüche haben sich nie verringert, während ihr Glanz und Luxus alle Grenzen sprengten. Dafür wird sie nun heimgesucht. Wenn sie meint, in vollkommener Sicherheit zu sein, geht sie plötzlich wie ein Wrack durch einen unerwarteten heftigen Windstoss in den Wellen unter. Gerade die Macht, auf die sie sich gestützt hat, kommt mit Heftigkeit über sie und wird zu ihrem Zerstörer. «Denn in einer Stunde ist der so grosse Reichtum verwüstet worden.»
Der Mensch liebt, was ihn verherrlicht und bereichert. Der Fall der falschen Kirche wird von ihm ohne Bedauern über ihren moralischen Charakter oder die Unehre, die sie über Gottes Namen gebracht hat, betrachtet. Gefangen von seinen eigenen Interessen ist Gott kein Thema in seinen Gedanken.
«Und jeder Steuermann und jeder, der an irgendeinen Ort segelt, und Schiffsleute und so viele auf dem Meer beschäftigt sind, standen von fern und riefen, als sie den Rauch ihres Brandes sahen, und sprachen: Welche Stadt ist gleich der grossen Stadt? Und sie warfen Staub auf ihre Häupter und riefen weinend und trauernd und sprachen: Wehe, wehe! Die grosse Stadt, in der alle, die ihre Schiffe auf dem Meer hatten, reich wurden von ihrer Kostbarkeit! Denn in einer Stunde ist sie verwüstet worden» (V. 17b-19).
Es ist schrecklich zu sehen, was aus dem Menschen ohne Gott werden kann. Aber vielleicht ist das abscheulichste Schauspiel die Selbsterhöhung des Menschen in göttlichen Dingen. Die christuslose Christenheit hat sich von Christus losgesagt und ist die Stufen menschlicher Selbstsucht und Selbsterhöhung hinaufgestiegen. Im Ausdruck «Menschenseelen», mit dem die Liste ihrer Handelswaren schliesst, liegt eine schreckliche Bedeutung. Die Macht der Priesterschaft wurde in anderen Religionen schrecklich missbraucht. Aber wer hätte sich einen bewussten Tauschhandel von Seelen gegen Geld vorstellen können, der durch das religiöse System betrieben wird, das von sich behauptet, die makellose Braut von Christus zu sein? Kein Wunder, dass Gottes Strafgericht, das lange aufgeschoben worden ist, plötzlich und mit grosser Heftigkeit über dieses System kommen wird!
Freude im Himmel
Es verwundert nicht, dass im Himmel Freude darüber herrscht. «Sei fröhlich über sie, du Himmel, und ihr Heiligen und ihr Apostel und ihr Propheten! Denn Gott hat euer Urteil an ihr vollzogen» (V. 20). Es mag seltsam erscheinen, dass dieses System, das lange nach der Zeit der Apostel und Propheten entstanden ist, mit diesen in Zusammenhang gebracht wird. Aber es hat wie einst Jerusalem die Gräber der Propheten gebaut und die Grabmäler der Gerechten geschmückt und gesagt: «Wären wir in den Tagen unserer Väter gewesen, so würden wir nicht ihre Teilhaber an dem Blut der Propheten gewesen sein.» Doch dem gleichen Jerusalem wurde gesagt: «Siehe, ich sende Propheten und Weise und Schriftgelehrte zu euch; und einige von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, und einige von ihnen werdet ihr in euren Synagogen geisseln und werdet sie verfolgen von Stadt zu Stadt; damit über euch komme alles gerechte Blut, das auf der Erde vergossen wurde: von dem Blut Abels, des Gerechten, bis zu dem Blut Sacharjas, des Sohnes Berekjas, den ihr zwischen dem Tempel und dem Altar ermordet habt» (Mt 23,29-35). In der gleichen Weise wird von Babylon gesagt: «In ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von all denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind» (Off 18,24).
Die enge moralische Verbindung zwischen dem ersten der vier Weltreiche (das babylonische) und dem mystischen Babylon in der Offenbarung zeigt sich auch in der Ähnlichkeit der Beschreibung, wie sie gestürzt wurden. Jeremia, der an seine Prophezeiung über Babylon einen Stein band, warf diesen in den Euphrat. Dabei musste er sagen: «So wird Babel versinken und nicht wieder emporkommen wegen des Unglücks, das ich über es bringe» (Jer 51,63.64). In unserem Kapitel lesen wir: «Und ein starker Engel hob einen Stein auf wie einen grossen Mühlstein und warf ihn ins Meer und sprach: So wird Babylon, die grosse Stadt, mit Wucht niedergeworfen werden und nie mehr gefunden werden» (V. 21).
Anstatt dass sich in dieser Stadt ein lebhaftes Treiben voll Vergnügen abspielt, wird sie in Vergessenheit geraten und ein Bild von Zerstörung und Elend abgeben. «Und die Stimme der Harfensänger und Musiker und Flötenspieler und Trompeter wird nie mehr in dir gehört werden, und nie mehr wird ein Künstler irgendwelcher Kunst in dir gefunden werden, und das Geräusch der Mühle wird nie mehr in dir gehört werden, und das Licht einer Lampe wird nie mehr in dir scheinen, und die Stimme des Bräutigams und der Braut wird nie mehr in dir gehört werden; denn deine Kaufleute waren die Grossen der Erde; denn durch deine Zauberei sind alle Nationen verführt worden. Und in ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von all denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind» (V. 22-24).
Drei Vorwürfe werden diesem System angelastet:
- Die Versammlung wurde auf der Erde gelassen, um für den Himmel zu leben. Doch die falsche Kirche hat sich auf die Welt ausgerichtet – weltlicher Reichtum, weltliche Macht, weltlicher Glanz. Ihre Kaufleute waren die «Grossen der Erde».
- Die Versammlung wurde auf der Erde gelassen, um «den Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit» zu sein (1. Tim 3,15). Die falsche Kirche hat die Wahrheit verfälscht. «Durch deine Zauberei sind alle Nationen verführt worden.»
- Die Versammlung wurde auf der Erde gelassen, um, falls nötig, um Christi willen Verfolgung zu erleiden. Aber die falsche Kirche hat sich als Verfolgerin des Volkes Gottes erwiesen: «In ihr wurde das Blut von Propheten und Heiligen gefunden und von all denen, die auf der Erde geschlachtet worden sind.»