Die Offenbarung (12)

Offenbarung 10

Einschub zwischen der sechsten und siebten Posaune (I)

(Kapitel 10,1 bis 11,14)

Bevor die siebte Posaune ertönt, folgt ein Einschub. Der Ablauf der Ereignisse wird unterbrochen. Es besteht jedoch ein Unterschied zum Einschub zwischen dem sechsten und siebten Siegel. Das sechste Siegel wird geöffnet und entfaltet seine volle Wirkung, bevor sich die in der Einschaltung erwähnten Ereignisse im Detail abspielen. Im Gegensatz dazu dauert das zweite Wehe, das die sechste Posaune einführt, an, bis die im Einschub auftretenden Ereignisse vollständig beschrieben sind. Dies zeigt, dass die Geschehnisse im ersten Einschub eine Vorbereitung auf die Gerichte unter dem siebten Siegel sind, während die Ereignisse zwischen der sechsten und siebten Posaune zu den Gerichten unter der sechsten Posaune hinzukommen.

Der Einschub behandelt zwei Themen:

  • erstens die Mitteilung des starken Engels, dass Gottes Geheimnis in Kürze vollendet ist (Kap. 10), und
  • zweitens den Zustand jenes Teils der Erde, auf den sich Gottes Gedanken konzentrieren, bevor das durch den Engel genannte Ereignis stattfinden wird (Kap. 11,1-13).

Die Mitteilung des starken Engels

(Kapitel 10)

«Und ich sah einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabkommen, bekleidet mit einer Wolke, und der Regenbogen war auf seinem Haupt, und sein Angesicht war wie die Sonne, und seine Füsse waren wie Feuersäulen; und er hatte in seiner Hand ein geöffnetes Büchlein. Und er stellte seinen rechten Fuss auf das Meer, den linken aber auf die Erde; und er rief mit lauter Stimme, wie ein Löwe brüllt. Und als er rief, redeten die sieben Donner ihre Stimmen. Und als die sieben Donner redeten, wollte ich schreiben; und ich hörte eine Stimme aus dem Himmel sagen: Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, und schreibe es nicht» (V. 1-4).

Dass Christus anderswo als Engel beschrieben wird, haben wir bereits gesehen. Er wird als «Engel des Bundes» bezeichnet. Diesen Titel trägt Er als Befreier von Israel, mit dem Er seinen Bund eingegangen ist. In dem vorliegenden Kapitel kommen wir nun zur Zeit der Befreiung seines Volkes. Da ist es passend, dass Christus in Engelsgestalt auftritt. Die Beschreibung des «starken Engels» bestätigt dies. Er ist mit einer Wolke, dem Wohnsitz Gottes im Strafgericht, bekleidet, wie dies in Psalm 97,2 angeführt wird: «Gewölk und Dunkel sind um ihn her; Gerechtigkeit und Gericht sind die Grundfeste seines Thrones.» Aus der lichten Wolke, oder wie es Petrus ausdrückt, aus der «prachtvollen Herrlichkeit» bezeugte Gott auf dem Berg der Verklärung sein Wohlgefallen an seinem Sohn. In einer Wolke mit Macht und grosser Herrlichkeit wird der Sohn des Menschen erscheinen, um sein irdisches Volk zu befreien (Lk 21,27).

Der Engel trägt auf seinem Kopf einen Regenbogen. Es ist das Zeichen von Gottes ewigem Bund mit der Erde. Das gleiche Zeichen wurde früher gesehen, wie es rings um seinen Thron war. Das Angesicht ist «wie die Sonne» und seine Füsse gleichen Feuersäulen. Diese Beschreibungen lassen an Christus als Sohn des Menschen im ersten Kapitel denken.

Zweifellos handelt es sich beim so beschriebenen Engel um Christus selbst. Er trägt in seiner Hand ein Büchlein, das im Gegensatz zum versiegelten Buch in Kapitel 5 geöffnet ist. Der Inhalt eines versiegelten Buches ist nicht zugänglich. Der Inhalt eines offenen Buches ist offenbart, auch wenn er nicht verstanden wird. Das versiegelte Buch muss geöffnet werden. Das geöffnete Buch muss gegessen und verdaut werden (V. 9). Obwohl es von Gott offen gelegt worden ist, muss es der Mensch verstehen lernen.

Wir haben das Öffnen des versiegelten Buches bereits betrachtet. Wir wenden uns nun dem Essen des geöffneten Büchleins zu. Das Buch in Kapitel 5 wurde versiegelt, weil es neu war. Die Strafgerichte wurden zwar von den Propheten und durch den Herrn Jesus, als Er auf der Erde war, angedeutet. Doch ihr genauer Ablauf unter den Siegeln und Posaunen war eine völlig neue Enthüllung. Dieses andere Buch hingegen scheint das offene Buch der Prophetie des Alten Testaments zu sein, in das sich der Schreiber der Offenbarung (Joh.) vertiefen und es verstehen sollte.

Das Buch der Prophetie erklärt: «Des HERRN ist die Erde und ihre Fülle, der Erdkreis und die darauf wohnen» (Ps 24,1). Ebenso wird gesagt, dass Gott dem Gesalbten des HERRN die Nationen zum Erbteil und die Enden der Erde zum Besitztum geben wird (Ps 2,8). In Übereinstimmung mit diesen und unzähligen ähnlichen Prophezeiungen stellt der Engel – Er ist der Gesalbte des HERRN – seinen rechten Fuss auf das Meer, den linken auf die Erde (V. 2). Damit nimmt Er die ganze Erde, das Land und das Meer sowie die Menschen unter einer stabilen Regierung als auch jene, die unter chaotischen Zuständen leben, in Besitz. Nachdem Er die Nationen zum Erbteil empfangen hat, wird Er als Erstes Gericht ausüben: «Mit eisernem Zepter wirst du sie zerschmettern, wie ein Töpfergefäss sie zerschmeissen» (Ps 2,9). Das Erste, was wir hören, wenn Er die Herrschaft antritt, ist der «Zorn des Königs», den auch Salomo mit dem Knurren eines Löwen vergleicht (Spr 19,12). Das ist also die schreckliche Stimme, mit der Er ruft. Das Rollen der sieben Donner deutet auf seinen Unwillen hin, dessen ernste Bedeutung aber unserem Horizont verhüllt bleibt.

«Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf der Erde stehen sah, erhob seine rechte Hand zum Himmel und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel erschuf und das, was in ihm ist, und die Erde und das, was auf ihr ist, und das Meer und das, was in ihm ist, dass keine Frist mehr sein wird, sondern in den Tagen der Stimme des siebten Engels, wenn er posaunen wird, ist auch das Geheimnis Gottes vollendet, wie er seinen Knechten, den Propheten, die gute Botschaft verkündigt hat» (V. 5-7).

Die Bedeutung dieser Verse ist klar. Die Einzelheiten sind sehr aufschlussreich und zeigen die Art und Weise, wie die Offenbarung auf Gedanken des Alten Testaments zurückkommt. Während all den Posaunengerichten wird der Herr Jesus nicht als das geschlachtete Lamm gesehen, sondern als der Engel des Bundes oder als der Gesalbte Gottes. Der Herr Jesus nimmt die Erde nicht als solcher, der am Kreuz gestorben ist, in Besitz, sondern als Der, dem Gott in seinen souveränen Rechten als Schöpfer und Besitzer von Himmel und Erde das Werk seiner Hände anvertraut. Im fünften Kapitel, wo Gott als Richter erscheint, wird Christus als das geschlachtete Lamm gesehen. Im vierten Kapitel, wo Gott als Schöpfer gesehen wird, wird das Lamm nicht erwähnt. Auch in dieser Stelle, wo von Gott als dem Ewigen gesprochen wird, von dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, von dem, der den Himmel, die Erde und das Meer geschaffen hat, ist Christus nicht in seinem menschlichen Charakter zu sehen, sondern als der starke Engel, der Gottes Absichten verkündet. Diese Absichten bestehen darin, dass «keine Frist mehr sein wird», also kein weiterer Aufschub gewährt wird, sondern dass «das Geheimnis Gottes vollendet wird».

Die wirkliche Bedeutung der Worte «wenn er posaunen wird», kommt in der Version der Fussnote zu Vers 7 zum Ausdruck, die sagt: «wenn er im Begriff steht zu posaunen.» Zusammen mit dem Ausdruck «dass keine Frist mehr sein wird» legt diese Aussage den Zeitpunkt fest. Es spielt sich unmittelbar vor der siebten Posaune ab, wenn «das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus gekommen ist» (Kap. 11,15). Dann wird das Geheimnis Gottes vollendet sein.

Das Geheimnis bedeutet häufig die Wahrheit über die Versammlung. Aber das ist hier nicht gemeint. Die ganze gegenwärtige Zeitperiode ist ein Geheimnis. Sie ist ein Vorsatz Gottes, den Er früher nicht offenbart hat. Die Leiden des Christus und die darauf folgende Herrlichkeit waren keine Geheimnisse, denn die Propheten haben sie angekündigt. Obschon es Bibelstellen gibt, aus denen hervorgeht, dass zwischen diesen beiden prophetischen Zeiten (den Leiden und der Herrlichkeit) ein kürzerer oder längerer Zeitraum liegt, wurden die Pläne Gottes über diese Zeitperiode nicht offenbart. Sowohl ihre moralischen Kennzeichen als auch ihre Dauer waren Geheimnisse. Das Geheimnis, das dann vollendet sein wird, ist diese Zwischenzeit, die nicht von früheren Prophezeiungen vorausgesagt wurde. Sie beginnt mit der Verwerfung Christi und endet mit seiner herrlichen Wiederkunft, um auf dieser Erde zu herrschen. Dies ist das Geheimnis, das der Engel schwört zu vollenden. Wir stehen hier also direkt am Übergang zur tausendjährigen Herrschaft Christi.

«Und die Stimme, die ich aus dem Himmel hörte, redete wieder mit mir und sprach: Geh hin, nimm das geöffnete Buch in der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht. Und ich ging zu dem Engel und sagte ihm, er möge mir das Büchlein geben. Und er spricht zu mir: Nimm es und iss es auf; und es wird deinen Bauch bitter machen, aber in deinem Mund wird es süss sein wie Honig. Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und ass es auf; und es war in meinem Mund süss wie Honig, und als ich es gegessen hatte, wurde mein Bauch bitter gemacht. Und es wurde mir gesagt: Du musst wieder weissagen über Völker und Nationen und Sprachen und viele Könige» (V. 8-11).

Johannes ergeht es gleich wie Hesekiel, der die Schriftrolle ass: «Sie war in meinem Mund süss wie Honig» (Hes 3,1-3). Obschon süss für den Mund, musste der Inhalt – Hesekiel spricht von «Klagen und Seufzer und Wehe» (Hes 2,10) – für die Verdauung äusserst bitter gewesen sein. So ergeht es auch Johannes. Das geöffnete Buch war ein Buch von Gerichten, und zwar von solchen, die bereits vorhergesagt, aber in ihrer bitteren Bedeutung noch nicht bekannt waren. Jetzt lernt Johannes Gottes volle Absichten der Gerichte über diese Erde kennen. So süss dieses Vorrecht auch schmeckt, erweist sich deren Inhalt als bitter für das Innere.

In dieser doppelten Weise wirkt sich Gottes Wort im Gericht aus. Der Psalmist kann, indem er Gott und seine Herrlichkeit betrachtet, sagen: «Die Rechte (oder Gerichte) des HERRN sind Wahrheit, sie sind gerecht allesamt; sie, die kostbarer sind als Gold und viel gediegenes Gold, und süsser als Honig und Honigseim» (Ps 19,10.11). Aber wenn es um den Menschen geht, ergibt sich traurigerweise eine andere Auswirkung. Seine Schuld und Auflehnung macht das Süsse zum Bitteren, die Nahrung zu Gift, Leben zu Tod, sodass der Prophet über dieselben Gerichte ausrufen muss: «O dass mein Haupt Wasser wäre und mein Auge ein Tränenquell, so wollte ich die Erschlagenen der Tochter meines Volkes Tag und Nacht beweinen!» (Jer 8,23).

Man sieht beide Auswirkungen in Vollkommenheit beim Herrn Jesus selbst. Nachdem Er die Städte, in denen seine meisten Wunderwerke geschehen waren, gescholten hatte, weil sie nicht Buße getan hatten, heisst es in Lukas 10,21: «In derselben Stunde frohlockte er im Geist und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Verständigen verborgen und es Unmündigen offenbart hast. Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.» In dieser Stelle beschäftigt Er sich mit Gottes Seite und findet, dass seine Wege süss wie Honig schmecken. Später sieht Er das Gericht Gottes im Licht der Schuld der Menschen. Dann lässt Ihn seine Trauer in Tränen ausbrechen: «Als er sich näherte und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: Wenn du doch erkannt hättest – und wenigstens an diesem deinem Tag –, was zu deinem Frieden dient!» (Lk 19,41.42).

Die Erkenntnis, die Johannes auf diese Weise erhalten hatte, sollte nun genutzt werden. Bisher bezogen sich die Prophezeiungen der Offenbarung auf das versiegelte Buch, dessen Gerichte zuerst von Christus enthüllt wurden. Aber der Inhalt des geöffneten Buches, das er jetzt gegessen hatte, bildete zumindest einen Teil der Prophezeiungen, die er noch anzukündigen hatte. Nachdem er göttliche Einsicht empfangen hatte, um dieses Buch zu verstehen, wurde er nun zu dessen Vertreter, der weissagen musste «über Völker und Nationen und Sprachen und viele Könige».