Der Brief an die Hebräer (1)

Hebräer 1,1-3

Einleitung

Dieser Brief richtet sich an Christen, an wahre Gläubige wie auch an blosse Bekenner, die aus dem Judentum hervorgegangen sind, aber noch an seinem Gottesdienst und an seinen Gebräuchen festhielten. Sie waren in Gefahr, sich entmutigen zu lassen und zur alten Ordnung der Dinge zurückzukehren, da sie sich in der Verwirklichung ihrer Hoffnungen auf Christus als irdischem Messias getäuscht sahen und im Gegenteil der Verfolgung ausgesetzt waren. Der Heilige Geist lässt ihnen zeigen, dass jene irdische Ordnung der Dinge nur vorübergehend war, und hebt die Überlegenheit des Christentums hervor, die neue Ordnung der Dinge, in der alles himmlisch und bleibend ist. Zu diesem Zweck weist Er auf die Gegensätze dieser beiden Systeme hin, wovon jedes zu seiner Zeit durch Gott aufgerichtet worden ist, zeigt dabei aber auch, worin sie sich gleichen. Dadurch macht Er ihnen verständlich, dass das erste, das aus Schatten und Bildern bestand, dem zweiten Platz machen musste, das nur mit Wirklichkeiten zu tun hat.

Der Schreiber des Briefes geht in seiner Beweisführung schrittweise vor. Er nimmt dem Judentum Stück um Stück weg, um es durch etwas Besseres zu ersetzen. Im letzten Kapitel stellt er schliesslich die Notwendigkeit fest, das alte System, dessen Zeit vorüber war, als Ganzes entschlossen aufzugeben und mit Christus aus dem Lager hinauszugehen, seine Schmach tragend. Er zeigt auch, dass die, die mit den jüdischen Verordnungen verbunden bleiben, kein Recht haben, vom Altar der Christen zu essen, wie er seine Leser im Hauptteil des Briefes auch auf die schrecklichen Folgen hinwies, die daraus hervorgehen, wenn man das Christentum, nachdem man es erkannt hat, wieder aufgibt. Welche Gnade seitens des Herrn, diese hebräischen Christen vom Judentum zu lösen, im Augenblick, wo die endgültige Zerstörung Jerusalems und des Tempels bevorstand, die den Verordnungen des jüdischen Gottesdienstes ein tatsächliches Ende setzten! Welche Glückseligkeit für sie, mit einem himmlischen Christus verbunden zu sein, der derselbe ist, gestern und heute und in Ewigkeit!

Der Verfasser des Briefes nennt uns seinen Namen nicht. Er stellt sich nicht als Apostel vor, weil er unsere Blicke allein auf Jesus, den grossen Apostel lenken will (Heb 3,1). Er stellt sich in die Mitte derer, an die er sich richtet, als einer, der mit ihnen zu derselben Gruppe von Personen gehört, die seit langem mit Gott in Verbindung waren. Das war in der Tat die Stellung der Juden: Für sie schloss sich das Christentum, diese neue Verbindung mit Gott, sozusagen an eine alte Beziehung an. Für die Heiden, die eigentlich nur Beziehungen mit den Dämonen hatten, war es nicht so.

Kapitel 1

Vers 1

Gott hat geredet, so beginnt unser Brief. Welch unermessliche Tatsache! Gott hat den Menschen eine Offenbarung über sich selbst und über seine Ratschlüsse gegeben. Er hat es im Lauf der Zeit auf zweierlei Weise getan – zuerst durch die Propheten, dann direkt im Sohn. Die Aussprüche Gottes sind den Juden anvertraut worden. Das war in jeder Hinsicht ein grosses Vorrecht, sagt der Apostel (Röm 3,2). Gott hatte ehemals zu den «Vätern» geredet, also zu den Vorfahren des damaligen jüdischen Volkes, zu dem die Empfänger des Briefes gehörten. Den Ausdruck «Väter» finden wir im Neuen Testament oft: Johannes 7,22; Apostelgeschichte 13,32; Römer 9,5; usw. Gott redete vielfältig oder oft und auf mancherlei Weise zu ihnen, indem Er ihnen von den Ratschlüssen, die Er ausführen wollte, nacheinander fortschreitende Offenbarungen gab. Es geschah durch Propheten, heilige Männer Gottes, die, vom Heiligen Geist getrieben, geredet haben (2. Pet 1,21).

Ihre Reihe begann mit Mose,1 dem hervorragendsten von allen, wie er in 5. Mose 34,10 bezeichnet wird: «Und es stand in Israel kein Prophet mehr auf wie Mose.» Sie erstreckt sich über eine Zeitepoche von mehr als tausend Jahren und schliesst im Alten Testament mit Maleachi. Alle diese Propheten kündeten in immer deutlicheren Enthüllungen den an, der ihre Worte erfüllen sollte. Mose hatte gesagt: «Einen Propheten aus deiner Mitte … gleich mir, wird der HERR, dein Gott, dir erwecken» (5. Mo 18,15). Und Maleachi, der letzte Prophet des Alten Testaments kündet an: «Siehe, ich sende meinen Boten, damit er den Weg vor mir her bereite. Und plötzlich wird zu seinem Tempel kommen der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehrt: Siehe, er kommt» (Mal 3,1).

Nachdem Gott während dieses langen Zeitabschnittes auf solche Weise zu den Vätern geredet hatte, hat Er nach dessen Abschluss – «am Ende dieser Tage» – «zu uns geredet im Sohn.» In Ihm redet Gott selbst, also nicht mehr mittelbar, durch Vermittlung von Männern, die vom Heiligen Geist getrieben waren. Wie war doch diese Offenbarung, diese neue Beziehung Gottes zu den Juden gegenüber dem, was sie bisher gehabt hatten, so weit überlegen! Aber sie schloss sich an die alte Beziehung an. Gott hat sowohl «durch die Propheten» als auch «im Sohn» geredet, darin besteht Gleichheit; der Unterschied ist der, dass im zweiten Fall Gott selbst der Redende ist, wogegen Er im ersten durch die Vermittlung anderer zum Volk sprach.2

Die Tatsache, dass Gott im Sohn geredet hat, führt sogleich den Gedanken der Fleischwerdung ein, aber mit der gleichzeitigen Beschreibung der ganzen Herrlichkeit seiner Person. Und was im Blick auf die Würde der Person des Sohnes aus diesem Kapitel besonders deutlich hervorgeht, ist seine Göttlichkeit in der Menschheit; Gott ist in unsere Mitte herabgekommen.

Vers 2

Gott hat seinen Sohn «zum Erben aller Dinge» gemacht. Damit ist auch seine Menschheit vorausgesetzt; denn erst nachdem Er als Mensch gelitten hat und als Auferstandener zur Rechten Gottes erhöht worden ist, hat Gott, seinen Ratschlüssen gemäss, alle Dinge seinen Füssen unterworfen und sie Ihm zum Besitz gegeben (Phil 2,6-11; Ps 2,8). Aber Er soll als Sohn alle Dinge in Herrlichkeit besitzen.

Mehr noch, Er ist auch der Schöpfer. Durch Ihn hat Gott «die Welten gemacht», das heisst, die weiten Räume dieses Weltalls: Alles, was in der Zeit und im Raum besteht. Eine Wahrheit, auf der die heiligen Schreiber immer wieder und mit Kraft beharren (Joh 1,3.10; Kol 1,15.16), und die uns die Herrlichkeit und die Macht des Sohnes zeigt. Er ist es, der die Welten gemacht hat, die in den Himmeln ihre Bahn ziehen und die Herrlichkeit Gottes verkündigen, und Er hat zu uns geredet.

Vers 3

Er ist auch die Ausstrahlung der Herrlichkeit Gottes und der Abdruck seines Wesens – ein anderer Wesenszug seiner göttlichen Grösse. Er ist in seiner Person die Offenbarung Gottes selbst. Wie wir das Licht durch seine Ausstrahlung wahrnehmen, so sehen wir in Christus die Strahlen der Herrlichkeit Gottes leuchten, das heisst, seine Vollkommenheit. So offenbart Er uns den, «der ein unzugängliches Licht bewohnt» (1. Tim 6,16). Er ist der Abdruck seines Wesens, der Abdruck dessen, was Gott in sich selbst ist. Wie ein auf Siegellack gedrücktes Siegel die genauen Züge des Siegels selbst wiedergibt, so zeigte sich in Christus auf vollkommene Weise, was Gott alles ist. Er wurde in seiner Person hier auf der Erde gesehen, in allem, was Er sagte und tat: «Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoss des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht» (Joh 1,18; 14,9).

Zudem trägt Er «alle Dinge durch das Wort seiner Macht». Sein Wort besitzt die göttliche Macht, nicht nur alle Dinge aus dem Nichts hervorzurufen und sie in ein geordnetes System zu bringen, sondern auch um ihr Bestehen und ihre Ordnung aufrechtzuerhalten und sie zu regieren. Ohne diese seine Macht, ohne seine dauernde Wirksamkeit hörten sie auf zu existieren; sie gerieten in Verwirrung und stürzten in nichts zusammen. Die Wirkungen dieser Macht zeigten sich, als Er auf der Erde war. Er bedrohte den Wind und sagte zu dem See: «Schweig, verstumme!» (Mk 4,39). Sein unhörbarer Befehl war es, der die Fische herbeirief, um die Netze des Petrus zu füllen (Lk 5,4-6).

  • 1Henoch, der nach Judas 14 ebenfalls geweissagt hat, war noch kein Prophet an Israel.
  • 2Als Gott durch die Propheten redete, blieb Er von ihnen unterschieden; Er bediente sich ihrer als sein Mund. Im Sohn aber redete Gott selbst, nicht durch einen anderen, nicht als der Vater noch in der Person des Vaters, auch nicht durch den Heiligen Geist, indem Er sich einer nichtgöttlichen Person bediente, sondern als göttliche Person selbst, und diese Person war der Sohn (Vorwort zur französischen Bibel).