Kapitel 7
Verse 1-3
Der Verfasser kehrt hier zum gesegneten und herrlichen Gegenstand des Priestertums Christi zurück, das er dem Priestertum Aarons oder Levis gegenüberstellen wird, um dessen unendliche Überlegenheit zu zeigen. Um das Priestertum Christi recht deutlich zu machen, greift er, wie schon mehrere Male (Heb 5,6.10; 6,20), zum Vorbild des Priestertums Melchisedeks, über das er viel zu sagen hat (Heb 5,11). Dieses Priestertum, völlig unabhängig von dem Aarons, das auch viel später aufgerichtet wurde, hat Wesenszüge solcher Art, dass es das Priestertum Christi darzustellen vermag, und zwar so deutlich, dass viele unrichtigerweise geglaubt haben, Melchisedek sei mehr als ein Mensch gewesen. Diese bemerkenswerte Persönlichkeit tritt im Bericht von 1. Mose 14 völlig unvermittelt auf und verschwindet in derselben Weise; im ganzen Wort ist geschichtlich sonst nicht mehr von ihm die Rede.
Melchisedek war König von Salem, von dem Ort, der später den Namen Jerusalem tragen sollte (Ps 76,3). Sein Name heisst auf Deutsch: «König der Gerechtigkeit», und weil Salem «Friede» bedeutet, so war er auch «König des Friedens». Zudem war er Priester Gottes des Höchsten; diese Bezeichnung «Höchster» wird Gott gegeben, wenn es sich um die tausendjährige Herrschaft handelt: «Gott, der Höchste, der Himmel und Erde besitzt» (1. Mo 14,18-20). Unter diesem Titel begegnet man Ihm oft auch in den Psalmen, die von dieser Zeitepoche reden.
Melchisedek, König und Priester, ist also ein Vorbild des Herrn, wenn Er, nachdem Er auf der Erde sein Reich aufgerichtet hat, als Fürst des Friedens in Gerechtigkeit regieren wird, also dann, wenn das Werk der Gerechtigkeit Friede ist (Jes 32,1.17; 9,6) und Er auf seinem Thron Hoherpriester sein wird (Sach 6,13).
Der erste Vers unseres Kapitels erinnert daran, in welchem Augenblick Melchisedek vor Abraham erschien. Es war dann, als dieser «von der Schlacht der Könige zurückkehrte». Das deutet auf den kommenden Tag der Offenbarung Christi hin, auf den Moment, wo Er die Könige der Erde unterworfen und sein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens aufgerichtet haben wird.
Nebenbei gesagt: Es ist bemerkenswert, dass die Ausdrücke: «der Abraham entgegenging» und «er brachte Brot und Wein heraus» (1. Mo 14), auf das Wesen des gegenwärtigen Hohepriestertums Christi für uns Bezug haben, das heisst auf seine vorsorgliche Pflege und auf die rechtzeitige Hilfe, die wir in Ihm finden. «Ohne Vater, ohne Mutter», wird von Melchisedek gesagt; das bedeutet: er leitete sein Priestertum nicht von der Verwandtschaft ab. Er zeigt sich «ohne Geschlechtsregister», im Gegensatz zu den Söhnen Aarons, die, um sich über ihren Anspruch am Priestertum auszuweisen, ihre Abstammung angeben mussten (Esra 2,62). «Weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens habend» – seinem Priestertum war keine Grenze gesetzt, wie dies für die Söhne Aarons der Fall war; Melchisedek trat auf und verschwand, ohne dass von seiner Geburt und von seinem Tod die Rede war. Er tritt nur als lebend vor uns hin: Sein Priestertum bleibt auf immerdar. So bildet er also in auffallender Weise das unaufhörliche und unübertragbare Priestertum des Herrn vor. Daher wird gesagt, er sei «dem Sohn Gottes verglichen», nicht in seiner Person, aber in seinem Priesteramt. Nur wird das Priestertum Christi jetzt in den Himmeln ausgeübt.
Verse 4-10
Nachdem der Schreiber alle Charakterzüge des Priestertums Melchisedeks gezeigt und bewiesen hat, dass ausser dem Priestertum Aarons ein anderes von ganz verschiedener Ordnung bestand, zeigt er, wie sehr das erste Priestertum über das zweite erhaben ist. Und jenes erste Priestertum ist das des Christus, wie die Worte in Psalm 110 es beweisen, wo David, durch den Geist redend, sagt: «Du bist Priester in Ewigkeit nach der Weise Melchisedeks.» Der Verfasser wendet diesen Ausspruch auf den Herrn an; Jesus selbst ermächtigt ihn dazu, indem auch Er diesen Psalm auf seine Person bezieht (Mt 22,41-46).
Der Verfasser will gegenüber dem Priestertum Aarons die Erhabenheit des Priestertums Christi nach der Ordnung Melchisedeks deutlich machen. Zu diesem Zweck greift er zwei Einzelheiten aus dem Bericht in 1. Mose 14 heraus:
Die erste ist die, dass Melchisedek Abraham segnete: «Ohne allen Widerspruch aber wird das Geringere von dem Besseren gesegnet.»
Zweitens gab ihm Abraham den Zehnten von der Beute. «Schaut aber, wie gross dieser war, dem selbst Abraham, der Patriarch, den Zehnten von der Beute gab.» Tatsächlich wird dadurch die Grösse Melchisedeks in auffallender Weise sichtbar, besonders, wenn wir dabei an die Würde Abrahams denken, des Trägers der Verheissungen, des Vaters der Gläubigen, der uns jenes grosse Beispiel des Glaubens und des Ausharrens gegeben hat, das im sechsten Kapitel unseres Briefes hervorgehoben wird. Abraham, so gross er auch war, anerkannte durch die Übergabe des Zehnten an Melchisedek dessen überragende Würde und den Anspruch, den dieser an den Zehnten hatte. Unter dem Gesetz, das lange nach Abraham kam, hatten die Priester des Stammes Levi, von der Familie Aarons, die Anweisung, den Zehnten vom Volk, ihren Brüdern, zu nehmen. Wenn Abraham vonseiten Melchisedeks gezehntet wurde, so war damit auch Levi, der Nachkomme Abrahams, in ihm gezehntet. Das zeigt klar und deutlich, dass das Priestertum Melchisedeks über das von Levi erhaben war. Mehr noch, die Priester der levitischen Ordnung waren «Menschen, die sterben», während von Melchisedek bezeugt wird, «dass er lebe», «ohne Anfang der Tage noch Ende des Lebens habend». Er bleibt in seiner Würde bestehen.
Ein letzter Wesenszug Melchisedeks ist der, dass er «sein Geschlecht nicht von den Nachkommen Levis ableitete».
Wer diese uns sonst unbekannte und geheimnisvolle Persönlichkeit auch immer gewesen sein mag, seine Grösse und die Wesenszüge seines Priestertums sind deutlich vor unsere Augen gestellt. Wir wissen somit, was das Wort Gottes damit meint, wenn es sagt, dass der Herr «Priester ist nach der Ordnung Melchisedeks», im Gegensatz zu den Priestern nach der Ordnung Aarons.
Verse 11-17
In den bisherigen und in den folgenden Versen werden die Wesenszüge des Priestertums nach der Ordnung Melchisedeks entwickelt und auf den Herrn angewandt, um dessen Vortrefflichkeit gegenüber dem Priestertum Aarons hervorzuheben.
Aber da ist noch etwas anderes. Das Volk Israel hatte ein auf das levitische Priestertum gegründetes Gesetz empfangen. Aber jenes Priestertum konnte nicht zur Vollkommenheit führen; es war nicht das Ende, der Schlusspunkt der Ratschlüsse Gottes. Dies ist damit bewiesen, dass schon im Alten Testament (Psalm 110) angekündigt war, dass ein anderes Priestertum nach der Ordnung Melchisedeks aufstehen sollte. Daraus geht hervor, dass, «wenn das Priestertum geändert wird, notwendigerweise auch eine Änderung des Gesetzes stattfindet.» Das ganze levitische System, wovon das Priestertum nach der Ordnung Aarons die Grundlage war, fällt mit ihm.
Zwei Dinge beweisen den völligen Wechsel, der sich vollzogen hat und unterstreichen den grossen Gegensatz zwischen den beiden Arten des Priestertums.
- «Der, von dem dies gesagt wird», der Herr, gehört zu einem Stamm, der dem levitischen Priestertum, das auf die Familie Aarons beschränkt war, fremd ist. Der Messias sollte nach der Prophezeiung Jakobs und anderer aus dem Stamm Juda kommen (1. Mo 49,10) und aus der Familie Davids (Jes 11,1), und dies hat sich nun erfüllt. Das ist der erste Unterschied.
- Der Priester nach der Ordnung Aarons wurde «nach dem Gesetz eines fleischlichen Gebots» eingesetzt. Das ganze System war den Menschen im Fleisch angepasst, alles war äusserlich und zeitlich; die Gebräuche und Verordnungen waren nur Bilder und stellten für den sündigen Menschen, der ohne Kraft ist, oft ein schweres Joch dar. Die Priester folgten sich und konnten ihr Amt nur während ihres Lebens hier auf der Erde ausüben. Im Gegensatz dazu stand der Herr «nach der Gleichheit Melchisedeks» als Priester auf, «nach der Kraft eines unauflöslichen Lebens». Das Leben, in das Er eingetreten ist, nachdem Er die Erlösung vollbracht hat, ist ein Leben, über das der Tod keine Gewalt hat. Daher wird Ihm dieses Zeugnis gegeben: «Du bist Priester in Ewigkeit, nach der Ordnung Melchisedeks.» Sein Priestertum ist vollkommen.